"Ihr müsst einfach nur selbstbewusster und offensiver werden", schrieb der Nürtinger Schauspieler Harald Schmidt der gern so genannten Schwabenmetropole Stuttgart einmal ins Stammbuch. Stimmt. Der einst aus Sicherheitsgründen geschlossene Fernsehturm ist seit sieben Jahre wieder offen fürs Publikum, nicht alle S-Bahnen fallen aus, nicht alle Fahrradspuren enden im Nirwana, irgendwann werden sogar die Berger Sprudler – das Brunnenensemble am Anlagensee bei der Stadtbahnhaltestelle Mineralbäder – wieder sprudeln, und die Rathausfassade wird womöglich bald, wenn Oberbürgermeister Frank Nopper seine Pläne verwirklichen lässt, ultimativ verschönt von der Pracht gelber und schwarzer Blüten. Außerdem – und ganz satirefrei – kriegen städtische Beschäftigte Zuschüsse fürs Leasen vom Dienstfahrrad. Und: Bis 2025 sollen immerhin 2.400 bezahlbare Wohnungen fertig sein, die vielen Baukräne sprechen für Prosperität. In spätestens drei bis vier Jahren rollen dann endlich die ersten Züge durch den weltberühmten und weltweit überflüssigsten Bahnhof.
Oettinger, zuerst langjähriger Kronprinz der Südwest CDU, dann Ministerpräsident von Baden-Württemberg und schließlich EU-Kommissar, ist trotzdem unzufrieden. Und wenn der bald 70-Jährige mit dem Habitus des ewig-unverwüstlichen Jung-Unionisten "frei von der Leber", wie er selbst sagt, austeilt, geht es zur Sache. In seiner Brüsseler Zeit haben sogar "die schlitzäugigen Chinesen" ihr Fett abbekommen, unter anderem, weil sie alle ihre Haare kämmten "von links nach rechts mit schwarzer Schuhcreme". Jetzt ist seine Geburtsstadt an der Reihe. Ausgelöst hat die Suada ausgerechnet ein Wortwechsel mit einer Stuttgart-21-Skeptikerin.
Fehlende Aufbruchstimmung und Gestaltungskraft
Kürzlich frönte er wieder einmal seiner Leidenschaft, sich in Schwung zu reden, in einem Zeitungskiosk im Stadtteil Gablenberg, dessen Betreiber:innen Erfahrung damit haben, Promis auf die Bürgerschaft loszulassen und umgekehrt. Nicht über Chinesen, über Quotenfrauen oder über das aus viel zu vielen Krimis, Koch- und anderen Shows bestehende TV-Programm der Öffentlich-Rechtlichen ereiferte er sich, sondern über die mangelnde Aufbruchstimmung. Wäre die da, meinte der unruhige Ruheständler mit den vielen Posten und Pöstchen, würde an Nesenbach und Neckar und darüber hinaus in einer Liga gespielt werden mit München oder Hamburg. Mindestens.
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WernerS
am 05.05.2023