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Günther Oettinger und Frank Nopper

Liebesgrüße aus Boom-Town

Günther Oettinger und Frank Nopper: Liebesgrüße aus Boom-Town
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Was als Kabbelei unter Schwaben begann, bekommt einen ernsthaften Hintergrund. Der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU), der Stuttgart kürzlich "träge, satt und verschlafen" nannte, will eine Debatte über Stellenwert und politische Zuständigkeiten der Region. Denn gemeinsam könnten Landeshauptstadt und Umgebung "Weltspitze" sein.

"Ihr müsst einfach nur selbstbewusster und offensiver werden", schrieb der Nürtinger Schauspieler Harald Schmidt der gern so genannten Schwabenmetropole Stuttgart einmal ins Stammbuch. Stimmt. Der einst aus Sicherheitsgründen geschlossene Fernsehturm ist seit sieben Jahre wieder offen fürs Publikum, nicht alle S-Bahnen fallen aus, nicht alle Fahrradspuren enden im Nirwana, irgendwann werden sogar die Berger Sprudler – das Brunnenensemble am Anlagensee bei der Stadtbahnhaltestelle Mineralbäder – wieder sprudeln, und die Rathausfassade wird womöglich bald, wenn Oberbürgermeister Frank Nopper seine Pläne verwirklichen lässt, ultimativ verschönt von der Pracht gelber und schwarzer Blüten. Außerdem – und ganz satirefrei – kriegen städtische Beschäftigte Zuschüsse fürs Leasen vom Dienstfahrrad. Und: Bis 2025 sollen immerhin 2.400 bezahlbare Wohnungen fertig sein, die vielen Baukräne sprechen für Prosperität. In spätestens drei bis vier Jahren rollen dann endlich die ersten Züge durch den weltberühmten und weltweit überflüssigsten Bahnhof.

Oettinger, zuerst langjähriger Kronprinz der Südwest CDU, dann Ministerpräsident von Baden-Württemberg und schließlich EU-Kommissar, ist trotzdem unzufrieden. Und wenn der bald 70-Jährige mit dem Habitus des ewig-unverwüstlichen Jung-Unionisten "frei von der Leber", wie er selbst sagt, austeilt, geht es zur Sache. In seiner Brüsseler Zeit haben sogar "die schlitzäugigen Chinesen" ihr Fett abbekommen, unter anderem, weil sie alle ihre Haare kämmten "von links nach rechts mit schwarzer Schuhcreme". Jetzt ist seine Geburtsstadt an der Reihe. Ausgelöst hat die Suada ausgerechnet ein Wortwechsel mit einer Stuttgart-21-Skeptikerin.

Fehlende Aufbruchstimmung und Gestaltungskraft

Kürzlich frönte er wieder einmal seiner Leidenschaft, sich in Schwung zu reden, in einem Zeitungskiosk im Stadtteil Gablenberg, dessen Betreiber:innen Erfahrung damit haben, Promis auf die Bürgerschaft loszulassen und umgekehrt. Nicht über Chinesen, über Quotenfrauen oder über das aus viel zu vielen Krimis, Koch- und anderen Shows bestehende TV-Programm der Öffentlich-Rechtlichen ereiferte er sich, sondern über die mangelnde Aufbruchstimmung. Wäre die da, meinte der unruhige Ruheständler mit den vielen Posten und Pöstchen, würde an Nesenbach und Neckar und darüber hinaus in einer Liga gespielt werden mit München oder Hamburg. Mindestens.

Dabei sind die Höher-Schneller-Weiter-Ideologie und die Überzeugung, dass Stuttgart im Speziellen und Baden-Württemberg im Allgemeinen auf der Überholspur unterwegs zu sein haben, längst aus der Zeit gefallen. Vor allem haben sie der Stadt die Dauerbaustelle Tiefbahnhof im Talkessel beschert, die entbehrlichste und sicher uneinholbar teuerste ihrer Art weltweit. Oettinger könnte sich zuallererst also an die eigene Nase fassen in Erinnerung daran, wie er Stuttgart zum "Herzen Europas" in seiner Amtszeit als Ministerpräsident stilisiert hat, um die Bedeutung des Tiefbahnhofs zu heben. Unvergessen auch die sinnfreie Versetzung des Prellbocks 049 vor mehr als 13 Jahren, die er als Baubeginn zu verkaufen versuchte mit gewaltigem Tamtam im damals noch unbeschädigten und voll funktionstüchtigen Bonatz-Bau. Nur Schein statt Sein, denn als sich fünf Jahre danach Museen dafür interessierten, stellt sich heraus, dass das gute Stück wie eh und je seinen Dienst versah, bloß ein paar Meter weiter.

Aber wie eh und je steht er eisern zum Milliarden verschlingenden Mega-Projekt. Sorgen hingegen bereiten ihm Zustand und Mentalität drum herum. Er meine weniger den Oberbürgermeister, sagt der Parteifreund, sondern viel mehr den Gemeinderat, dem es an Gestaltungskraft fehle. Und überhaupt die ganze Gesellschaft, die müsse wieder agiler werden, zupackender wie damals in den Achtzigern und Neunzigern. Sein konkreter Vorschlag: Weil sich 2024 nach der Kommunalwahl ein Zeitfenster bis zur Landtagswahl 2026 öffnet, könnte eine Debatte über neue Aufgaben und ein maßgeschneidertes Konzept geführt werden. Gemeinsam mit den beiden Sozialdemokraten Dieter Spöri und Uli Maurer in der damaligen großen Koalition hat er als CDU-Fraktionschef für wichtige neue Konstruktionen gekämpft: Der in der breiten Öffentlichkeit tatsächlich ohne Strahlkraft gebliebene Verband Region Stuttgart wurde gegründet mit seinem demokratisch gewählten Parlament und der gesetzlichen Verantwortung für die Regionalplanung, für den Nahverkehr, die Wirtschafts- und Tourismusförderung oder den Müll. Heute, sagt Oettinger, könnten diese Pflichtaufgaben ausgeweitet und die Grenzen gedehnt werden, am besten bis Heilbronn, weil die Hochschule dort mit Partner:innen in Cambridge, Oxford, Zürich und Tel Aviv zusammenarbeitet: "So geht internationale Innovation."

Mit Nopper auf Rundfahrt

Anfang Juli will er sich mit dem OB treffen zur Rundfahrt. Wer wollte da nicht Mäuschen spielen, denn Nopper gehört zur Wir-wollen-alle-so-werden-wie-Günther-Generation der Südwest-CDU. Als Mitarbeiter im Landtag war der ein Bewunderer des aufstrebenden Jungspunds. In seiner Replik auf die Schelte wirft Nopper dennoch nicht nur mit Zahlen um sich – beispielsweise immer mehr sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten und immer mehr Studierenden – sondern in seiner Not sogar seinem grünen Vorgänger Fritz Kuhn einen großen Stein in den Vorgarten. Zur Wahrheit gehöre nämlich, dass sich Stuttgart "in den letzten Jahren dynamischer weiterentwickelt hat als viele andere deutsche Städte". Dazu wird der frühere Backnanger OB sogar persönlich: Offensichtlich habe der Ex-Regierungschef nach seinem Abgang aus Baden-Württemberg im Jahr 2010 die Stadt "etwas aus den Augen verloren". Falsch, sagt Oettinger, er sei ständig in Stuttgart, "und ich weiß genau, wovon ich spreche". Etwa von dem Offenen Brief, in welchem der Städte-, der Gemeinde- und der Landkreistag, der Sparkassenverband, die Arbeitgeber und die Industrie- und Handelskammer (IHK) sich um Zukunftsfähigkeit und den wirtschaftlichen Erfolg im Land sorgen, um nachhaltige Transformation, Bildung, Wissenschaft und Innovation.

Teile des vom OB zusammengestellten Besichtigungsprogramms zur Wiederherstellung des guten Rufs von der "Boom-Town" (Nopper) stehen. Nein, der Bahnhofsvorplatz gehört nicht dazu oder die Wunde auf dem Cannstatter Wilhelmsplatz oder das Riesenloch neben dem Hegel-Haus. Punkten will der Chef im Rathaus vielmehr mit einem in Untertürkheim ansässigen Unternehmen, das schon im Sommer das weltweit erste mit flüssigem Wasserstoff und Brennstoffzellen angetriebene Passagierflugzeug abheben lassen will. Oder mit der Batterieforschung bei Mercedes und dem Supercomputer Hawk an der Uni Stuttgart.

Könnte allerdings sein, dass der hohe Gast sich da wieder in Schwung redet, denn Hochleistungsrechner kennt er seit seinem Einzug ins baden-württembergische Landesparlament 1984 nur zu gut. Da wurde Cray I gegen das 14 Mal schnellere Nachfolgemodell mit 250-facher Speicherkapazität getauscht und der Vaihinger Abgeordnete durfte begeistert von "der weltweiten Spitzenstellung Baden-Württembergs" schwärmen. Auf II folgte III im dann bundesweit ersten Höchstleistungszentrum, später Hermit, Hornet, Hazel Hen und schließlich Hawk, der seine Alleinstellung allerdings verloren hat und – nur noch, wird Oettinger sicher sagen – zu den fünf modernsten Rechnern der Welt gehört.

An die "Weltspitze" wie der VfB

Er will selbst ebenfalls Orte und Gesprächsthemen vorschlagen, zum Beispiel, dass die Stadt vorankommen müsse mit den Planungen auf dem früheren Gleisvorfeld. Und in Sachen Regionalverband müsste ein besonders dickes Brett gebohrt werden, weil seit 30 Jahren unter den (Ober-)Bürgermeister:innen der Umlandgemeinden wenig Begeisterung zu verspüren ist, Kompetenzen abzugeben und sich – schon allein der Größenverhältnisse wegen – damit Stuttgart in Teilen jedenfalls unterzuordnen.

Nur bei einem hochaktuellen Thema zur Politur des Stadt-Images greift plötzlich jener Realitätssinn um sich, der eine Debatte über die Zukunft Stuttgarts, zum Beispiel die schon seit Jahrzehnten verschlafene Verkehrswende, wirklich ernsthaft befördern könnte. Wenn es um den VfB geht, ist Oettinger mit deutlich kleineren als den weltbesten Brötchen zufrieden: "Wir werden nicht absteigen, sondern Platz 15 erreichen", sagt er irgendwie aber auch in der Gewissheit, dass der Tag kommen wird, an dem die Stuttgarter die Hand abermals an der Meisterschale haben werden.


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4 Kommentare verfügbar

  • WernerS
    am 05.05.2023
    Antworten
    Ich wohne dummerweise hier. Was soll mich ein Ort kümmern in dem die Politik systematisch mit voller Absicht die Infrastruktur kaputtmacht, die einen die Bahn, die anderen das Auto und man nicht mal Radwege baut, sondern ganz billig den Platz dem Autofahrer und vor allem Fußgänger wegnimmt. Die…
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