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Palmer braucht Palmerpause

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Schon wieder der Palmer. Diesmal aber endgültig final, beteuert Tübingens Krawall-Bürgermeister selbst, nachdem er am vergangenen Freitag wieder mal bis unters Kinn im Fettnapf steckte. Im Wahlkampf um das Tübinger Oberbürgermeisteramt hat Kontext bereits einen "doppelten Palmer" beobachtet. Auf der einen Seite Talkshow-Boris, der seinen grünen Parteifeund:innen mit rhetorischen, gern rechten, Ausfällen den letzten Nerv raubt. Auf der anderen Seite ein kompetenter Lokalpolitiker, der, man glaubt es kaum, den Gemeinderat als Vermittler in schwierigen Fragen zusammenbringen konnte. Dass Tübingen etwa bis 2030 CO2-neutral werden soll, kam trotz Präsenz von CDU und FDP im Gremium ohne Gegenstimme durch.

Doch "sogar seine besten Freunde finden es gelegentlich schrecklich, wie er sich äußert", räumte ein Unterstützer von Palmers Wahlkampagne gegenüber Kontext ein. Die Mehrheit der Tübinger Wahlberechtigten sah darüber hinweg und so wurde Palmer vergangenen Oktober im ersten Wahlgang wiedergewählt. Beistand gab es vom Realo-Grünen Rezzo Schlauch, der Palmer als Anwalt gegen den drohenden Ausschluss aus der eigenen Partei verteidigte und der den Grünen von heute eine "narkotisierende Geschlossenheitskultur" attestierte. Da war er froh über einen wie Boris, der auch mal aneckt.

Nun wurde es sogar Schlauch zu viel. Nach dem erneuten Eklat kündigte er Palmer seine "persönliche und politische Loyalität" (Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der Palmer einmal als möglichen Nachfolger betrachtete, beteuert, dass ihre Freundschaft fortbesteht). Auf einer Migrationskonferenz in Frankfurt am Main beharrte Palmer am vergangenen Freitag nicht nur darauf, das N-Wort zu verwenden. Als ihn Demonstrierende als Nazi beschimpften, meinte Palmer ernsthaft: "Das ist nichts anderes als der Judenstern. Und zwar, weil ich ein Wort benutzt habe, an dem ihr alles andere festmacht." Der vorläufige Tiefpunkt einer traurigen Entwicklung. Palmer scheint selbst etwas erschrocken. "Mit ernsthaften Vorsätzen, darauf zu achten, dass sich derartiges nicht mehr wiederholen darf, war ich leider nicht erfolgreich", schreibt er in einer persönlichen Erklärung. "Ich werde daher in einer Auszeit professionelle Hilfe in Anspruch nehmen und den Versuch machen, meinen Anteil an diesen zunehmend zerstörerischen Verstrickungen aufzuarbeiten." Am 1. Mai ist er bei den Grünen ausgetreten.

Die Justiz ist auch nicht schneller als die Bahn

Bevor Palmer seine öffentlichkeitswirksame Karriere als rechtspopulistischer Social-Media-Troll startete, hatte er sich insbesondere in Stuttgart einen guten Ruf als Zahlenfuchs erarbeitet. Im Zuge der Schlichtung zu Stuttgart 21 war er von Beginn an skeptisch, wie belastbar die Berechnungen der Deutschen Bahn sind. Inzwischen ist längst eingestanden, dass das Großprojekt viele Milliarden teurer wird als eigentlich geplant. Die von Finanznöten geplagte Deutsche Bahn will die Mehrkosten nicht alleine stemmen und zieht deswegen gegen ihre Projektpartner, also das Land, die Region und die Stadt Stuttgart, vor Gericht.

Fast sechseinhalb Jahre hat es gedauert, ehe auf die Einreichung der Klage ein erster Verhandlungstermin folgt: und zwar am kommenden Montag, dem 8. Mai vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart. Als die Bahn ihre Klage einreichte, lag der offizielle Kostenrahmen des Projekts noch bei 6,5 Milliarden Euro (und damit zwei Milliarden über den gedeckten Projektkosten von 4,5 Milliarden Euro), mittlerweile sind es 9,8 Milliarden Euro.

Der Rechtsstreit könnte über mehrere Instanzen bis zum Bundesverwaltungsgericht in Leipzig gehen. Mal sehen, was zuerst fertig ist: das Verfahren oder der Bahnhof. Wer sich zur Vorfreude nochmals in die Materie einlesen will: Kontext hat mehrfach über die Klage berichtet, zunächst eher als Randaspekt hier und hier, später ausführlicher hier und hier und am eingehendsten in diesem Interview mit dem Rechtsanwalt Roland Kugler aus dem Januar 2018.

Anklage wegen Berichterstattung

Der freie Sender Radio Dreyeckland berichtete im Juli 2022 darüber, dass das Ermittlungsverfahren gegen die mutmaßlichen Betreiber der verbotenen Plattform "linksunten.indymedia" wegen "Bildung einer krimineller Vereinigung" eingestellt wurde. Der Bericht hatte ein juristisches Nachspiel: Dass in dem Artikel ein Link auf das Archiv der Plattform gesetzt war, interpretierte die Staatsanwaltschaft als Unterstützung einer verbotenen Organisation. Folge waren mehrere Hausdurchsuchungen. Gegen den Verfasser der Meldung wurde nun tatsächlich Anklage erhoben. Der betroffene Journalist kommentiert dazu, dass die Staatsanwaltschaft "mit dem Mittel des Strafrechts bestimmen" wolle, wie über das (eingestellte) Verfahren gegen die mutmaßlichen "linksunten"-Betreiber zu berichten ist: "Das ist ein skandalöser Eingriff in die Pressefreiheit." Über den Fortgang des Verfahrens wird Kontext ausführlich berichten.


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16 Kommentare verfügbar

  • WernerS
    am 05.05.2023
    Antworten
    Wenn man Umweltschutz wie Boris Palmer macht, bekommt man 52% der Wählerstimmen in Tübingen. Wenn man Umweltschutz und Klimapolitik macht wie die Restgrünen bekommt man in Tübingen und auch bundesweit 17%. Jemand macht da etwas ziemlich falsch.
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