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Corona

Mit Maske zurück an die Schule

Corona: Mit Maske zurück an die Schule
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Auch im zwanzigsten Monat der Pandemie sind Prognosen problematisch. Die Verunsicherung bleibt, erst recht, weil die Länder wieder eigene Wege gehen. In Baden-Württemberg hat die Inzidenz als Maßstab für das weitere Vorgehen ausgedient. Beschränkungen für Ungeimpfte wird es trotzdem geben.

Nein, das ist kein Plädoyer für eine Impfung, sondern der Versuch einer Bestandsaufnahme. Denn noch ehe der dritte Corona-Winter richtig begonnen hat, äußert die Weltgesundheitsorganisation die Befürchtung, dass die Zahl von bisher 1,3 Millionen Toten in Europa noch einmal um 236.000 steigen könnte. Der deprimierende Ausblick stammt vom Institute for Health Metrics and Evaluation an der Universität von Washington in Seattle. Als Gründe wurden die Delta-Variante, die Lockerungen der Corona-Maßnahmen in vielen Ländern und das erhöhte Reiseaufkommen über den Sommer benannt.

RückkehrerInnen brachten Covid-19 schon vor einem Jahr mit. Gegenwärtig ist der Anstieg der Infektionen besonders steil in Serbien, in Kroatien oder Slowenien, aber auch in Österreich – und in NRW. Deutschlands bevölkerungsstärkstes Land mit dem frühen Sommerferienende Mitte August liefert erneut die Blaupause für eine Entwicklung, die wenig Platz lässt für Optimismus. Hotspot ist Wuppertal. Die 7-Tage-Inzidenz, also die Zahl der Ansteckungen pro Woche auf 100.000 EinwohnerInnen, liegt bei den 5- bis 14-Jährigen bei der Rekordmarke von fast 800. Rund 30.000 SchülerInnen befinden sich landesweit in Quarantäne.

Baden-Württemberg will vorbereitet sein. Einerseits grundsätzlich, weshalb als neue Richtgröße die Auslastung von Spitalbetten ins Spiel kommt. Und im Detail vor allem in den Schulen angesichts der Gefährdung junger Menschen, für die noch gar kein Impfstoff zugelassen ist. Bereits verhängt ist deshalb eine Maskenpflicht für die ersten zwei Unterrichtswochen. Gerade die Situation in Kitas, die schon wieder geöffnet haben, und in Grundschulen zeigt aber, wie rasch und wie emotional Debatten hochkochen.

Lehrerverbände und Kultusministerium verhaken sich

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), der Philologenverband und das Kultusministerium verhaken sich in gegenseitigen – nicht immer von Fakten getragenen – Vorwürfen, die zur Verwirrung in den Familien beitragen. Statt die Quarantäne-Regeln in den weiterführenden Schulen zu lockern, hätte das Land dafür sorgen müssen, dass alle Klassenzimmer rechtzeitig mit Luftfiltern ausgestattet werden, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung. Dabei sind dafür die Kommunen als Schulträger verantwortlich, und Fördermittel hat die alte Landesregierung schon im vergangenen Spätherbst zur Verfügung gestellt. Das von der Grünen Therese Schopper geführte Ministerium kontert scharf "die Behauptungen und teilweise schlicht falschen Darstellungen des Philologenverbandes und der GEW". Es sei nicht in Ordnung, auf diese Weise vor dem Schuljahresbeginn Unruhe zu erzeugen.

Baustellen wie diese gibt es viele in den unterschiedlichsten Lebensbereichen, in der Freizeit, bei Festen und am Arbeitsplatz ebenso wie Rufe nach Regelungen, die möglichst leicht zu verstehen sein sollen. Die liegen mit 2- oder sogar 1G sogar auf der Hand, schaffen aber neue Akzeptanzprobleme, wie die vielen Diskussionen über das weitere Vorgehen zeigen. Zugleich allerdings sind bereits beschlossene erste Verschärfungen ein Beleg dafür, wie schnell Vorbehalte entstehen, wenn Anderes wichtiger ist als die eigene Skepsis gegenüber dem Piks. An der gerade bei AbiturientInnen aus Süddeutschland so beliebten Medizinischen Fakultät der Uni Innsbruck – ohne NC, aber mit Aufnahmeprüfung – wird der volle Impfnachweis für alle Studierenden ab dem ersten Kontakt mit PatientInnen verlangt. Von AbbrecherInnen ist bisher nichts bekannt.

Auch 2G, also der Eintritt oder die Teilnahme nur für Geimpfte oder Genesene, ist bereits Realität. In Hamburger Discos oder bei Events können die Verantwortlichen auf Einschränkungen weitgehend verzichten, wenn das dritte G, der Testnachweis, nicht mehr als Voraussetzung für den Zutritt akzeptiert wird. Berlin und Niedersachen könnten nachziehen. Für Baden-Württemberg argumentiert Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) mit zwei Zahlen und noch einmal mit der Inzidenz. Die liege für Geimpfte bei 13 und für Ungeimpfte bei fast 150: "Sollten sich die Zahlen nicht verbessern, ist die sogenannte 2G-Regel der richtige Schritt." Natürlich gibt es Ausnahmen für Menschen, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können – etwa durch einen PCR-Test.

Lettland: Zwangsimpfung in sozialen Einrichtungen

Der Aufschrei ist programmiert. Weil zur Wahrheit gehört, dass so der Druck erhöht wird und der Grat zur Impfpflicht immer schmaler. Schon allein deshalb täten die BefürworterInnen gut daran, sich offensiv und mutig der Diskussion zu stellen. Zum Beispiel mit dem Hinweis auf europäische Länder, in denen das Schlagwort von der "Pandemie der Ungeimpften" mit anderen Zahlen als allein der Inzidenz untermauert wird, vor allem mit der Belegung von Krankenhausbetten. An die Rechtslage zu erinnern, könnte ebenfalls nicht schaden, daran, wie hämisch im vergangenen Winter vielerorts die politische EntscheiderInnen kritisiert wurden, wenn Maßnahmen – etwa die landesweiten nächtlichen Ausgangsbeschränkungen ab 21 Uhr – von Gerichten kassiert wurden. Geimpften und Genesen Grundrechte vorzuenthalten, um sie mit Nichtgeimpften gleichzustellen, ist eine offenkundig und aus Gründen der vielzitierten Verhältnismäßigkeit nicht durchzuhaltende Strategie.

Die Impfpflicht und ein Fingerzeig

Bis 1974 bestand in Deutschland die Impflicht gegen Pocken. 45 Jahre später, nach einem Todesfall in Berlin und nach Dutzenden Kita-Schließungen auch in Baden-Württemberg, war Brandenburg im April 2019 Vorreiter in Sachen Masern. In allen anderen Länder ist inzwischen seit 17 Monaten der Impfnachweis verpflichtend für neu eingestellte Beschäftigte und neu aufgenommene Kinder. Erst Ende Juli lief die Übergangsfrist für alle aus, die bereits in der Kita waren. Die beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingebrachten Eilanträge von Eltern sind inzwischen abgewiesen mit dem Argument, dass ein ausreichender Impfschutz gegen Masern Vorrang habe gegenüber einem etwaigen Ausschluss der ungeimpften Kinder von der Betreuung in der Kita. Die Entscheidung in der Hauptsache steht noch aus. Bereits geäußert hat sich dagegen der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte. Im April waren tschechische Eltern mit ihren Klagen gegen das nationale Impfschutzgesetz gescheitert. Das Gericht bewertete die Vorgaben samt der Strafen bei Nichterfüllung als verhältnismäßig für demokratische Staaten.  (jhw)

Wie dicht der Nebel in der Pandemiebekämpfung bleibt, trotz der Tatsache, dass der im vergangenen Herbst so sehnsüchtig erwartete Impfstoff inzwischen massenhaft vorhanden ist, zeigt die gegenwärtig heftige Debatte über Kontrollen am Arbeitsplatz. Südwestmetall will den Impfstatus abfragen lassen. "Um die Pandemie vollends in den Griff zu kriegen" sagt Peer-Michael Dick, der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands. Mit dem Ziel, "vor allem dort nach einer Impfung zu fragen, wo besonders viele Menschen miteinander Kontakt haben". Stefan Brink, der Landesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, meint seinen Ohren nicht zu trauen: "Dieses Fass aufzumachen, wäre ein Tabubruch." Gesundheitsdetails hätten Arbeitgeber noch nie interessieren dürfen. Wer krank sei, gebe eine Krankheitsmeldung oder ein Attest ab. Offen stehe aber der Weg, eine Impfpflicht anzuordnen.

Die gibt es bereits in verschiedenen europäischen Ländern für bestimmte Berufsgruppen, heftige Proteste inklusive. So müssen in Frankreich bis zum 15. September alle Beschäftigten von Krankenhäusern, Alten- oder Pflegeheimen ihre Impfnachweise erbringen – wer sich weigert, muss mit Arbeitsverbot und unbezahlter Freistellung rechnen. Italien prüft, nach einer Pflicht für medizinisches Personal schon seit dem 25. Mai, die Ausweitung auf Lehrkräfte. Besonders weit geht Lettland angesichts stark steigender Covid-Zahlen. Von allen, die in medizinischen, sozialen und pädagogischen Einrichtungen arbeiten, wird ab Oktober ein Zertifikat verlangt. In Riga wurde eine Gesetzesänderung beschlossen, die ArbeitgeberInnen die Möglichkeit einräumt, Nicht-Geimpfte zu entlassen. Unverhohlen wird auch mit der niedrigen Impfquote von unter 40 Prozent argumentiert.

Impfkampagnen haben nicht viele überzeugt

Überhaupt die Impfquote. Baden-Württemberg kann bei einer Inzidenz von 78 und Ende August 123 Intensivpatientinnen – ab 200 werden Verschärfungen ins Auge gefasst – auf 60 Prozent Geimpfte verweisen: auf knapp 82 Prozent in der Altersgruppe 60 plus, aber nur auf 23 Prozent unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Das Land liegt damit etwa im Bundesschnitt und ist ein weiteres Beispiel dafür, dass alle Kampagnen, Initiativen und Überredungsversuche jedenfalls bisher nicht zum erwünschten Ziel geführt haben. Viele Gründe sind analysiert, etwa, dass Informationen vielen als zu komplex erscheinen und gerade die jetzt besonders gefährdete Gruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen nicht erreichen. Obendrein tragen Corona-LeugnerInnen in der realen und vor allem der digitalen Welt zusätzlich und gewollt zur Verwirrung bei.

Ausgerechnet die FDP mit ihrer "Liebe zur Freiheit", wie es im liberalen Leitbild heißt, "um selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu leben", attackiert die Politik manchmal, als gehörte sie selbst gar nicht dazu. Generalsekretär Volker Wissing, bis Mitte Mai Wirtschaftsminister in Rheinland-Pfalz, ist sich nicht zu schade dafür, die Bundesregierung in Haftung dafür zu nehmen, "dass Menschen auf der Intensivstation landen und sagen: 'Wenn ich das gewusst hätte'". Union und SPD sind aus seiner Sicht ihrem Aufklärungsauftrag einfach "nicht in vollem Umfang nachgekommen". In Wahrheit bieten die Internetseiten der verantwortlichen Ministerien in Bund und Ländern umfangreichste Informationen in vielen Sprachen. Umfragen haben aber ergeben – auch kein Ausweis für die Demokratiefestigkeit einer Gesellschaft –, dass amtlichen Auskünften, Zahlen, Daten und Fakten kein ausschlaggebendes Gewicht zugeschrieben wird.

Bundeseinheitliche Regeln? Fehlanzeige

Außer natürlich in Bayern. Markus Söder, das eigene Image immer fest im Blick, preschte zu Wochenbeginn wieder einmal vor, um sich als Vorreiter zu stilisieren. Er will ein "neues Kapitel" in der Pandemiebekämpfung aufschlagen, muss aber bei 3G bleiben, weil er die mit seiner CSU koalierenden Freien Wähler nicht von neuen Maßnahmen überzeugen konnte. Da ist Baden-Württemberg durchaus weiter, was aber gerade nicht dazu führt, den verbreiteten Wunsch nach einheitlichen Regeln bundesweit zu erfüllen. Das Land wird drei Warnstufen, basierend auf der Hospitalisierung, einführen. 2G wird möglich bei hohem Druck auf Intensivstationen, und die Inzidenz weiterhin täglich kreisscharf ausgewiesen, sodass sich alle, die eine Impfentscheidung von der Entwicklung im eigenen Umfeld vor Ort abhängig machen wollen, sich informieren können.

Mittel- bis langfristig kann und will Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) ohnehin nichts ausschließen. Schon vor der Sommerpause hat er seine Erfahrungen damit gemacht, was passiert, wenn ein Politiker nach Zwangsmaßnahmen gefragt wird. "Es ist möglich, dass Virus-Varianten auftreten, die das erforderlich machen", lautete die strenge Antwort des ehemaligen Biologielehrers. Denn im evolutiven Geschehen hätten ansteckendere Mutanten eben einen Selektionsvorteil und setzten sich durch. Das ist ein Faktum, aber deshalb – wie die vergangenen 20 Monate lehren – noch lange nicht überzeugend.


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4 Kommentare verfügbar

  • Aron
    am 11.09.2021
    Antworten
    Guten Morgen,
    Bin über die Doku, Stuttgart, Ich hänge an Dir, auf "den Kontext" aufmerksam geworden. Wegen der gezeigten Äußerungen zu Stg21, fragte ich mich, wie es wohl heute mit der Kritikfähigkeit Ausschauen mag.
    Ich schließe mich den Kommentaren zum Artikel an, und freue mich, immerhin, diese…
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