Ob es wirklich zu einer Strafe kommt, ist allerdings fraglich. Das Landgericht Karlsruhe, wo der Prozess am vergangenen Mittwoch startete, musste gezwungen werden, den Fall überhaupt zu verhandeln. Nachdem die Karlsruher Staatsanwaltschaft Anklage erheben wollte, führte das Landgericht auf einem 40-seitigen Nicht-Eröffnungsbeschluss aus, warum es den inkriminierten Sachverhalt "unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt [für] strafbar" hält (Kontext berichtete). Doch Staatsanwalt Graulich legte dagegen Beschwerde ein – und tatsächlich kam das Oberlandesgericht Stuttgart (OLG) zu einer fundamental anderen Bewertung als die Karlsruher Kolleg:innen.
Laut OLG erscheine Kienerts Artikel, der bei RDL nach wie vor unverändert online steht, "geradezu als 'Verlängerung' der Internetseite [linksunten.indymedia]". Die Grenze zur Strafbarkeit sei dabei überschritten, "wenn die Information der Öffentlichkeit über Propagandatexte verbotener Vereinigungen nur ein Vorwand ist, um in Wahrheit die mit den Texten angestrebte propagandistische Wirkung für die dem Verbot unterliegende Vereinigung zu erzielen" (hier der OLG-Beschluss in voller Länge). Bemerkenswert an dieser Argumentation ist, dass sie fast vollständig ohne Zitatbelege auskommt und Kienerts Text an einer der wenigen Stellen, wo auf ihn eingegangen wird, auch noch falsch wiedergegeben ist. So heißt es, die Handlung des Angeklagten sei geeignet, die Tätigkeit der verbotenen Vereinigung zu unterstützen, "indem sie erkennbar für Solidarität mit einem von der Justiz angeblich zu Unrecht verfolgten Verein wirbt ('wir sind alle linksunten', 'konstruiertes Verbot', 'rechtswidrige Durchsuchung')".
Dass der Verein angeblich zu Unrecht verfolgt werde, steht allerdings nirgendwo explizit, auch von einem "konstruierten Verbot" ist keine Rede. Stattdessen heißt es, "bald fünf Jahre ist der konstruierte Verein Indymedia Linksunten nun verboten", und diese Aussage hat einen Tatsachenkern: Weil "linksunten.indymedia" nie in einem Vereinsregister eingetragen war, hat das Bundesinnenministerium einen Verein konstruiert, um ihn verbieten zu können. Auch dass eine Razzia bei den mutmaßlichen Betreiber:innen der Plattform vom Verwaltungsgerichtshof Mannheim als rechtswidrig eingestuft worden ist, ist faktisch korrekt. Und die Aussage "Wir sind alle linksunten" kommt im Artikel gar nicht vor. Der Beitrag ist lediglich bebildert mit dem Foto eines Graffiti, das den entsprechenden Schriftzug zeigt, wobei in der Bildunterschrift auch noch eine Distanzierung erkennbar wird: "'Wir sind alle linksunten' – ob dem so ist, war auch ein Streitpunkt auf der Podiumsdiskussion über das Verbot der Internetplattform."
In Fachkreisen sorgt die freie Interpretation des OLGs, die es selbst als "verständige Würdigung" bezeichnet, zum Teil für Irritationen. Auf dem Portal "Legal Tribute Online" (LTO) schreibt der Jurist Christian Rath: "Das OLG Stuttgart stellte darauf ab, dass Kienerts Text als Aufforderung und Ermunterung gewirkt habe, sich mit linksunten.indymedia zu solidarisieren. Ausdrückliche Formulierungen dieser Art finden sich freilich nicht im Text." Und Rechtsanwältin Angela Furmaniak, die Kienert verteidigt, stellte zum Prozessauftakt in Karlsruhe fest: "Bis zum heutigen Tage bin ich nachhaltig beeindruckt, mit wie wenig Tiefgang und wie wenig Problembewusstsein die Argumentation des OLG daherkommt." Das Gericht habe sich "noch nicht einmal die Mühe" gemacht, "den Artikel, um den es geht, richtig zu zitieren und kommt deshalb zu teils irritierenden Schlussfolgerungen".
In ihrer eröffnenden Stellungnahme hob Furmaniak die grundsätzliche Bedeutung des Prozesses hervor: Weltweit stehe die Pressefreiheit unter Druck, in europäischen Ländern wie Ungarn oder Polen sei sie zunehmend gefährdet. Aber auch in der Bundesrepublik würden sich Fälle häufen, in denen Journalist:innen bei ihrer Arbeit behindert würden, bis hin zu tätlichen Angriffen auf Demonstrationen von Nazis und Querdenker:innen. "In einer solchen Situation ist eine besondere Sensibilität der staatlichen Akteure im Umgang mit der Pressefreiheit gefordert. Es sollte Aufgabe und Anliegen der Justiz sein, alles zu tun, um die Pressefreiheit zu schützen." Die traurige Realität sei leider eine andere: Dass die Anklage überhaupt verhandelt werden müsse, "ist ein Tiefpunkt der baden-württembergischen Justiz".
Doch zumindest in Karlsruhe geht der Vorsitzende Richter Axel Heim geradezu demonstrativ sorgfältig vor. Eigentlich ist der Kernsachverhalt schon zum Auftakt klar: Kienert bestätigte vor Gericht erneut, dass er den Artikel verfasst hat, den Link selbst setzte und dafür die alleinige Verantwortung trägt. Dennoch sind neun Verhandlungstage angesetzt (davon drei als Reserve), um den vorliegenden Fall unter allen erdenklichen Gesichtspunkten zu prüfen. Dabei will die Kammer nicht nur untersuchen, ob eine Strafbarkeit nach § 85 StGB vorliegt, sondern alles auch nur entfernt Erdenkliche in den Blick nehmen. Zum Beispiel § 86 StGB (Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger und terroristischer Organisationen), § 86a StGB (Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen), § 111 StGB (Öffentliche Aufforderung zu Straftaten), § 185 StGB (Beleidigung), § 126 StGB (Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten), § 130a StGB (Anleitung zu Straftaten) oder vielleicht ja auch § 140 StGB (Belohnung und Billigung von Straftaten).
Das Archiv sei "eine Art Denkmal", ein "Dauerdelikt"
Bevor aber geklärt werden kann, ob sich Kienert durch den Link in seinem Artikel rechtswidrig verhalten hat, geht es um die Frage, ob der konstruierte linksunten-Verein überhaupt noch aktiv ist. Denn eine mögliche Unterstützung setzt denklogisch die Existenz einer aktiven Vereinigung voraus, wobei Richter Heim betont, dass eine Vereinigung aus einer Mehrzahl von Personen bestehen muss. Eine geschlagene Stunde lang wird vor Gericht ein Einstellungsbescheid aus dem Juli 2022 verlesen. Wie daraus hervorgeht, hatte Staatsanwalt Graulich, der auch die Ermittlungen gegen die mutmaßlichen Betreiber:innen der "linksunten"-Seite führte, zwei Mal den Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof gebeten zu überprüfen, ob dieser die Ermittlungen übernehmen wolle. Der Generalbundesanwalt aber meinte, der Sache komme "keine besondere Bedeutung" zu, auch weil schon viel Zeit seit 2017 vergangen sei. Selbst unter der Annahme, dass es sich bei den Betreiber:innen um eine kriminelle Vereinigung handle, läge "die letzte Betätigung bereits fünf Jahre zurück".
3 Kommentare verfügbar
Uli Kötzle
am 27.04.2024Bisher dachte ich nicht, dass die - in Piss-Studien festgestellte - Lese-/ Schreibschwäche schon bei Juristen des OLGs…