KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Kontext im Merlin

Bunte Bäume im Westen

Kontext im Merlin: Bunte Bäume im Westen
|

Datum:

Alles super im Block?! Der Titel des Abends am Montag, 29. April im Kulturzentrum Merlin soll sagen: Man weiß es nicht genau. Geht es nur ums Auto, um Parkplätze oder doch um mehr? Um ein Mehr an Lebensqualität womöglich. Für bunte Bäume im Stuttgarter Westen wird schon mal gehäkelt.

Ein Abend im Merlin. Acht Frauen sitzen um einen Tisch und häkeln. Mittendrin Elke Hahn aus Leinfelden-Echterdingen. Die 62-Jährige erzählt, was sie schon alles gemacht hat. Peace-Zeichen für den Frieden, Püppchen gegen Rassismus und Schmetterlinge gegen die Einsamkeit in Corona-Zeiten. Sie ist eine politische Häklerin, Ausübende einer Kunst, die man wahlweise Guerilla-Knitting, Yarn Bombing oder Graffiti aus Garn nennt. "Ihr werdet sehen", verspricht sie den Frauen, "dass ihr hier unendlich viele Möglichkeiten haben werdet." Bäume, Bänke, Fahrradständer warten auf ein buntes Kleid.

Mit "hier" meint sie den Stuttgarter Westen, genauer die Häuser um die Augustenstraße herum, die zu einem Superblock zusammengefasst werden, in dem es – so der Plan – ruhiger und schöner werden soll.

Frau Hahn ist übrigens auch Weltmeisterin im Häkeln, seitdem sie es geschafft hat, 111 Pfosten innerhalb von drei Tagen mit Mützchen zu versehen. Das war 2017. Jetzt hat sie einen Wollgroßhändler an der Hand, der die Umgarnung des Stuttgarter Superblocks als bundesweites Pilotprojekt finanzieren will.

Solche Geschichten mögen bisweilen etwas naiv daherkommen, wenn auch noch gesagt wird, sie sollen den Menschen ein Lächeln ins Gesicht zaubern, angesichts des Tageskampfs im Kapitalismus. Ein Anwalt im Viertel hat schon mit Klage gedroht, wenn ihm der Parkplatz geklaut wird beziehungsweise zugemutet wird, hinter einem Müllauto herzufahren, weil es die geänderte Verkehrsführung so will, und er sich bei einem Gerichtstermin verspätet.

Die Gentrifizierung lauert überall

In Frankfurt, wo auch superblockmäßig geplant wird, wettert die Ökolinke um Jutta Ditfurth dagegen, dass woke Viertel jetzt noch woker werden sollen. Es sollen noch verkehrsberuhigtere Quartiere werden, in denen das Leben grünt und blüht, in denen die Menschen auf der Straße lachen und Kinder spielen, während außerhalb weiter das "übliche Elend herrscht", kommentiert Stadtrat und Ex-"Titanic"-Chef Leo Fischer in der "Frankfurter Rundschau". Die Gentrifizierung lauert überall, auch in der Stuttgarter Augustenstraße, in der Bauträger bereits Wohnungen (154 Quadratmeter für 2,1 Millionen Euro) anpreisen mit dem Hinweis, der Superblock werde "die Lage weiter aufwerten". Andererseits gibt es noch keinen empirischen Beleg dafür, dass das Nichtbauen von Superblocks eine Verelendung der Massen verhindert hätte.

Interessant wird sein, was die spanische Architektin, Stadtplanerin und IBA-Projektleiterin Raquel Jaureguizar im Merlin dazu zu sagen hat. Vor fünf Monaten hat sie in einem Kontext-Interview schon betont, die Stuttgarter Stadtentwicklung müsse "weniger profitorientiert" sein, stattdessen müsse sie die Menschen "in den Fokus stellen". By the way: Die 38-Jährige hat in Stuttgart über soziales Wohnen, unter anderem über die Weißenhofsiedlung, promoviert.

Jetzt wiederholt sie ihre Kritik in den Stuttgarter Zeitungsnachrichten. Ihr fehlen immer noch Fantasie, richtige Bäume, Spaß und Spiel, Fitnessgeräte auf der Straße, das mediterrane Gefühl. Was ihr nicht fehlt, sind die Parkplätze. Sie werden im neuen Superblock kaum reduziert, von 750 runter auf 730, was bei 3.000 Bewohner:innen im Superblock nicht nachhaltig ins Gewicht fällt. Das meint sie wahrscheinlich, wenn sie den "Mut zu großen Schritten" nicht zu erkennen vermag. Stattdessen höre sie oft den Hinweis: "Was kostet das, das brauchen wir nicht, wir sind nicht Berlin oder Barcelona." Auf die Antwort von Baubürgermeister Peter Pätzold (Grüne), der mit ihr auf der Bühne sitzt, darf man gespannt sein.

Alles super im Block!? Podiumsdiskussion am Montag, 29. April zum Superblock Augustenstraße

Mit Baubürgermeister Peter Pätzold, Stadtplanerin und IBA-Projektleiterin Raquel Jaureguízar, Annette Loers vom Merlin als Vertreterin der Anwohnerinitiative, Architekt und Anwohner Martin Schick und Moderator Stefan Siller. Folge zwei der Gesprächsreihe "Kontext im Merlin". Beginn ist um 19.30 Uhr, Einlass ab 18.30 Uhr, im Kulturzentrum Merlin, Augustenstraße 72, Stuttgart-West. Der Eintritt ist frei, Spenden sind willkommen.  (red)

So viel vorneweg: Es könnten Strukturprobleme zur Sprache kommen, wie die profitorientierte Stadtentwicklung, der behördliche Schwergang, der hohe Abstimmungsbedarf unter vier Ämtern (Verkehr, Ordnung, Tiefbau, Garten), die Sicherung der Weiterexistenz des heiligen Blechles (freie Fahrt für die freie Bürgerin und den freien Bürger), die outgesourcte Kommunikation mit den Gehörtwerdenwollenden und so weiter.

Auch Annette Loers vom Merlin kann dazu gewiss einiges beitragen aus eigener Erfahrung, bisweilen Irres in Demut ertragend und glücklich darüber, wenn nicht nur über Parkplätze geredet wird, sondern über eine neue Lebensqualität im Allgemeinen. Dazu zählen für sie auch Bänke auf dem Weg zum Edeka, auf denen die Alten verschnaufen können. Aber Hauptsache, nach den jahrelangen Planungen geht es endlich los.

An Moderator Stefan Siller soll es nicht scheitern. Er wünscht sich nur, dass alle "ehrlich miteinander umgehen", dass der Abend eine Diskussionskultur widerspiegelt, die Lust auf mehr macht. Das wird dem Architekten Martin Schick, der "ergebnisoffen" debattieren will, recht sein. Die Welt ist halt nicht eindimensional.

Elke Hahn, die Häkel-Weltmeisterin, will auf jeden Fall kommen. Ihre Leidenschaft ist die Straßenkunst mit dem Garn, ihr Brotjob findet auf dem Ordnungsamt von Filderstadt statt. Hier checkt sie die Bußgeldbescheide. Ohne das Häkeln, sagt sie, würde sie das nicht aushalten.

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!