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Bundestagswahl Mobilität

Grüne wollen Scheuers Stuhl

Bundestagswahl Mobilität: Grüne wollen Scheuers Stuhl
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Nach zwölf Jahren CSU-Führung ist das Bundesverkehrsministerium eine Großbaustelle. Die Grünen würden gerne Andreas Scheuer ablösen und den nächsten Minister stellen. In vielen Punkten gibt es dabei große Überschneidungen mit der Linken. Aber nicht in allen.

Nicht das Maut-Debakel oder das Scheitern des Bußgeldkatalogs sind das, was Matthias Gastel dem aktuellen Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) am meisten ankreidet. Sondern zwei Zahlen: 124 zu Null. 124 Kilometer neue Autostraßen wurden in Deutschland in der noch laufenden Legislaturperiode gebaut, aber null Kilometer neue Schienen. Die Zahlen stehen für eine Infrastrukturpolitik, die völlig in die falsche Richtung gehe. "Dazu passt auch, dass im laufenden Haushalt doppelt so viel Geld für den Aus- und Neubau von Straßen eingeplant ist wie für Schienenwege", kritisiert der Grüne Gastel, der seit 2013 für den Wahlkreis Nürtingen im Bundestag sitzt und aktuell bahnpolitischer Sprecher seiner Fraktion ist.

In dieser Frage besteht offenbar kein großer Gegensatz zur Linken im Bundestag. Sabine Leidig, von 2009 bis 2017 verkehrspolitische Sprecherin der Linksfraktion, betont: "Die Infrastruktur-Entwicklung muss Bus und Bahn statt Autobahn im Blick haben." Deswegen müsse auch der aktuelle Bundesverkehrswegeplan gekippt werden, "weil wir sonst noch zehn Jahre weiter neue und breitere Autobahnen bauen und dafür 80 bis 100 Milliarden Euro verbraten, die dringend gebraucht werden, um die Bahn auszubauen, in allen Bereichen – außer Stuttgart 21."

Wenn es um das Thema Klima und Reduzierung von Treibhausgasen geht, dann ist das Verkehrsministerium ein Schlüsselressort. In ihren Wahlprogrammen fordern Grüne wie Linke eine Verkehrswende, mit weniger PKW- und LKW-Verkehr, dafür mehr Bahn und Fahrrad. Momentan aber scheint das Bundesverkehrsministerium eher eine dysfunktionale Dauerbaustelle zu sein. "Es sind so viele Dinge liegen geblieben, dass es wahrscheinlich kaum ein Ressort mit so einem hohen Veränderungsbedarf wie den Verkehrsbereich gibt", sagt Gastel. Das hat seine Gründe.

Andreas Scheuer hat einige Trümmer angehäuft und einen Ruf, der ihm vorauseilt. Schon bald, nachdem er 2018 Bundesverkehrsminister geworden war, galt der vormalige CSU-Generalsekretär als der unfähigste Ressortchef der schwarz-roten Regierung, wenngleich mit einem Selbstvertrauen gesegnet, das umgekehrt proportional zur ihm bescheinigten Kompetenz zu sein scheint. Die Satire-Website "Der Postillon" nannte Scheuer einmal Teil eines Experiments der Regierung: "Ziel der Operation 'Bayerndussel' ist es, herauszufinden, wie viel Fehlverhalten die deutschen Bürger zu ertragen bereit sind, bevor sie endgültig die Nase voll haben."

Die langen Linien der CSU

Nicht ganz so satirisch, aber immer wieder hat auch Gastel den Minister scharf kritisiert. Da erstaunt es, dass ausgerechnet von ihm auch so etwas wie, nun ja, positive Worte kommen: Immerhin sei Scheuer "eher im Amt angekommen als sein Vorgänger Dobrindt". Bei dem sei von vornherein nahe gelegen, dass er das Amt nur als Sprungbrett nutze, um Landesgruppenchef zu werden, "er ist nie angekommen im Amt. Das würde ich jetzt Scheuer nicht vorwerfen". Scheuer wolle tatsächlich Verkehrsminister sein, glaubt Gastel, wenn auch "ein anderer Verkehrsminister, als er geworden ist: einer, den die Leute lieben und toll finden". Hat nicht ganz geklappt.

Sowohl Leidig als auch Gastel sind sich aber auch einig, dass Scheuer im Grunde nur die Linien seiner beiden Vorgänger und Parteifreunde Ramsauer und Dobrindt fortgesetzt und auf die Spitze getrieben habe. Das sei "das eigentlich Skandalöse", findet Leidig, das bei all der Aufregung um Scheuers Skandale bei Maut und Bußgeldkatalog untergehe.

Seit zwölf Jahren ist das Bundesverkehrsministerium nun in CSU-Hand. Zwölf verlorene Jahre? "Ja", sagt Leidig, "die Bilanz der Verkehrsentwicklung ist für die Auto- und Baukonzerne gut, aber für die Lebensqualität, die Umwelt, das Klima katastrophal". Verlorene Jahre, findet auch Gastel: "Die CSU-Minister haben alle stark dazu geneigt, Bayern-Politik zu machen, den Rest zu vernachlässigen. Wir reden da von zahlreichen Fördermaßnahmen, die in erster Linie für bayerische Interessen aufgelegt wurden." Also quasi Landespolitik von Bundespolitikern. Und Klientelpolitik. "Eigentlich ist das, was die CSU-Minister gemacht haben, keine Verkehrspolitik, sondern Lobbypolitik", sagt Gastel, "oder vielleicht auch eine Untersparte der Wirtschaftspolitik." Die Verkehrsminister trafen und treffen sich immer oft und regelmäßig mit Vertretern der Automobilwirtschaft; eine Vertrautheit, die auch deutlich wurde, als Scheuer bei einer Veranstaltung der IHK Stuttgart im Oktober 2018 den Daimler-Cheflobbyisten Eckart von Klaeden den "lieben Ecki" nannte. Natürlich müsse sich ein Verkehrsminister auch mal mit der Automobilwirtschaft treffen, so Gastel, "aber diese Einseitigkeit, die ist wirklich so krass, dass ich das ungeheuerlich und unverschämt finde."

Unverschämt sei darüber hinaus auch, wie Scheuers Ministerium mit parlamentarischen Anfragen umgeht: Es sei laut Gastel "das Ministerium, das die mit Abstand schlechtesten Antworten gibt und dafür am meisten Zeit braucht". Und das "systematisch", betont auch Leidig – die dies darüber hinaus ein "krasses Ausbremsen der parlamentarischen Rechte" findet. Denn: "Wir haben ja gar nicht die Möglichkeit als ParlamentarierInnen, die Ressourcen des Ministeriums zu nutzen. Und die Ministerien haben ja nicht die Aufgabe, eigenständig Politik zu machen, ihr Wissen zu bunkern und so weiter. Sondern eigentlich sind sie ausführende Institutionen."

Viel zu tun

Es muss sich also einiges ändern. Das Ministerium dürfe "nicht wieder in die Hände der CSU fallen", war schon im Juni auf der Homepage der grünen Bundestagsfraktion zu lesen. Kann Gastel sich vorstellen, dass es nach der Wahl einen grünen Bundesverkehrsminister gibt? "Ich hoffe darauf!", kommt mit großer Entschiedenheit zurück. Wer könnte das sein, vielleicht der jetzige oder vorige Verkehrsausschuss-Vorsitzende oder ein bahnpolitischer Sprecher? Namen will er keine nennen, aber es gebe "viele Leute, die in Frage kommen".

Kommt die nächste Frage: In einer Koalition mit wem? Auch hier möchte sich Gastel nicht festlegen, glaubt aber, mit der SPD könne "am meisten bewegt werden", und selbst in einer Koalition mit der FDP lasse sich etwas erreichen, auch wenn er die "nicht gerade anstrebe". Also, nach dem Ausschlussprinzip, am ehesten Rot-rot-grün. Diese Konstellation liege "natürlich auf der Hand", antwortet Leidig etwas direkter.

Große Aufgaben warten auf jeden Fall, vor allem im Hinblick auf die Infrastruktur. In Deutschland sind heute mehr Züge denn je unterwegs, auf einem seit der Bahnreform 1994 fortwährend geschrumpften Gleisnetz. "Wir haben keinen Mangel an Straßen. Jedes Haus in Deutschland ist durch eine Straße erschlossen", sagt Gastel. "Aber wir haben mehr als 100 Mittelzentren, mit Millionen von Menschen, die keinen Bahnanschluss haben. Dann kann doch die Antwort darauf nicht sein: Wir bauen halt noch mehr Straßen."

Wobei Verbesserungen manchmal auch ganz einfach wären. So kritisiert Gastel an Scheuers Amtszeit massiv, dass in ihr keinerlei Etat für Kleinmaßnahmen im Bereich der Bahn bereitgestellt hworden sei, nur für Großprojekte. Dabei brächten gerade kleine Maßnahmen oft schon große Verbesserungen der Betriebsqualität. Ein Beispiel: "Es gibt auf der Bahnstrecke von Tübingen nach Stuttgart Streckenabschnitte von bis zu 15 Kilometern ohne eine Überleitstelle", so Gastel. "Es kann also immer nur ein Zug auf diesem Abschnitt unterwegs sein. Und wenn, aus welchem Grund auch immer, ein Gleis nicht genutzt werden kann, dann muss ein sehr langer Gleisabschnitt einseitig gesperrt werden, was natürlich gravierende Auswirkungen hat."

Viel zu tun, bis das Ziel einer Mobilitätswende, einer Reduzierung des Autoverkehrs und Stärkung der Bahn erreicht ist. Gastel spricht hier von "besseren Angeboten", davon, dass "wir als Grüne die Menschen rauslocken aus dem Auto und aus dem Flugzeug". Leidig dagegen ist skeptisch, dass allein über Anreize und Angebote die Mobilitätswende gelingt. "Wenn ich mir zum Beispiel Konzepte anschaue, wie städtische Mobilität verändert werden soll, dann sehe ich im grünen Spektrum ganz stark das Setzen auf Preissignale. Also: Parkraumbewirtschaftung, City-Maut, solche Dinge. Es müsste aber viel stärker in Richtung Bedarf gelenkt werden."

Als Beispiel für ein anderes Steuerungsinstrument nennt sie das Volksbegehren "Autofrei" in Berlin: "Die haben einen sehr überzeugenden Ansatz, sie sagen: Wir wollen eine Sondernutzung für die innerstädtischen Straßen. Und das bedeutet, diejenigen dürfen dort fahren, die einen Bedarf haben. Also, zum Beispiel Kranken- und Pflegedienste, Handwerker, Menschen mit Gehbehinderung. Und die anderen eben nicht. Und niemand kann sich dieses Recht erkaufen."

Und was wird aus der Gäubahn und S 21?

Zwei verkehrspolitisch besonders große Baustellen liegen in Baden-Württemberg: Stuttgart 21 und die Gäubahn. Letztere sei laut Gastel "bahnpolitisch eines der national größten Armutszeugnisse". Ein Ausbau ist seit 1996 im Vertrag von Lugano beschlossen (Kontext berichtete), seitdem hat sich wenig getan. Auch wenn es, wie Gastel sagt, keinerlei Widerstände gäbe und daher auch nur schwer zu verstehen sei. "Es hatte halt offensichtlich auf Bundesebene nie die Priorität."

Im vergangenen Jahr hatte dann, und hier kommt schon der Brückenschlag zu S 21, der Staatssekretär im Verkehrsministerium Steffen Bilger (CDU) die Idee eines Gäubahntunnels bis zum Flughafen Stuttgart lanciert, im Mai dieses Jahres dann eine etwas windige Wirtschaftlichkeitsrechnung präsentiert, die den Tunnel durch die Kombination mit anderen Baumaßnahmen an der Gäubahn eine günstige Kosten-Nutzen-Bilanz bescheinigte (Kontext berichtete).

"Falls wir regieren, dann möchte ich mir diese Nutzen-Kosten-Betrachtung schon mal genauer anschauen", sagt Gastel, der früher vehement gegen S 21 stritt und keinen Hehl daraus macht, dass er von Bilgers Idee wenig hält, sie als "milliardenschere Sandkastenspiele" und "Manipulation" betrachtet. Doch gegen den Tunnel verkämpfen möchte er sich im Falle einer grünen Regierungsbeteiligung nicht, sondern die Priorität eher darauf setzen, dass der unterirdische Ergänzungsbahnhof in Stuttgart umgesetzt wird, für den Landesverkehrsminister Winfried Hermann seit zwei Jahren wirbt. Denn: "Politik hat immer etwas mit Pragmatismus zu tun. Natürlich kann man immer überall 100 Prozent wollen, aber dann hat man am Ende Null Prozent." Sabine Leidig ist da eher auf der Linie der Tiefbahnhofgegner: "Natürlich muss eine künftige Bundesregierung dieses Desaster-Projekt stoppen. Ich finde es aberwitzig, dass nach dem Eingeständnis, dass die Kapazität nicht reicht, noch ein Tiefbahnhof für noch mehr Milliarden Euro gebaut werden soll und dieselben Risiken verdoppelt werden."

Wichtig wäre, dass sich das Bundesverkehrsministerium überhaupt wieder für Stuttgart 21 interessiert. Der Bundesrechnungshof hatte 2019 in einem Bericht scharf kritisiert, das Ministerium lege in Bezug auf Kostensteigerungen eine Laissez-faire-Haltung an den Tag. Mit den Grünen in der Regierung würde sich das ändern, verspricht Gastel: "Wir wollen für Kostenwahrheit und für Transparenz und Öffentlichkeit sorgen. Wenn eine Kostensteigerung eintritt, dann muss die publik gemacht und begründet werden. Es ist nicht die Aufgabe der Medien, Kostensteigerungen zu recherchieren, sondern es ist die Aufgabe der Deutschen Bahn, unterstützt und aktiv eingefordert durch die jeweilige Bundesregierung, dass neue Kenntnisse auch tatsächlich öffentlich gemacht werden."

Seien wir gespannt.


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1 Kommentar verfügbar

  • Heinz Heckele
    am 01.09.2021
    Antworten
    Bayern first

    Vor einigen Wochen bin ich nach Franken gefahren. Dabei ist mir aufgefallen, daß sowohl an Autobahnen als auch an Bahnstrecken ausgesprochen viele Lärmschutzwände zu sehen waren. Den Anwohnern sei es gegönnt. Dies unterstreicht aber die Vermutung, daß die letzten drei…
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