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OB-Wahl in Stuttgart

Puffbesitzer und Mäuseretter

OB-Wahl in Stuttgart: Puffbesitzer und Mäuseretter
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Oberbürgermeister von Stuttgart wollen viele werden. Insgesamt sind es zwei Frauen und zwölf Männer, die fünf aussichtsreichsten haben wir schon vorgestellt. Doch wer sind die übrigen Bewerber, die sich den Job zutrauen? Unser Autor hat alle Neune unter die Lupe genommen.

Issam Abdul-Karim ist wie kein anderer OB-Kandidat ein Vertreter einer multikulturellen Stadtgesellschaft. "Ich bin kein Freund von vielem Reden, sondern von 'Einfach machen'", beteuert der 50-jährige Künstler und Eventmanager. In Beirut geboren, kam Karim im Alter von sieben Jahren nach Stuttgart und wohnt hier "unglaublich gern", versichert er. Wie kein anderer Mitbewerber "wirbelt" er in Projekten, die in Sozialem, Kultur, Religion, Integration, Sicherheit, Sauberkeit, Frieden oder Umwelt etwas erreichen, sprich verbessern wollen.

Zu Beginn der Coronapandemie bastelte er für Menschen ohne viel Geld Behelfsmasken. Den kleinen Obolus dafür spendete er der Vesperkirche. "Mit der Not anderer will ich keine Geschäfte machen", erzählt er. Im vergangenen Jahr sammelte er Plastikmüll in ägyptischen Kulturstätten. Vor zwei Jahren initiierte er auf dem Killesberg ein Gastro-Projekt, bei dem Kriegsflüchtlinge den Gästen heimische Spezialitäten auftischen. Und, und, und … 2017 wurde er für sein ehrenamtliches Engagement zum "Stuttgarter des Jahres" gewählt.

Dass er anders als die anderen ist, zeigt sich auch im Wahlkampf. Auf Plakate verzichtet er und investiert das eingesparte Geld lieber in Urban Gardening: in kleine bunte Tontöpfe auf Balkonen und in Hinterhöfen, die seinen Namen tragen.

Einen Aufbruch will er "in meiner Heimatstadt wagen", sagt Abdul-Karim. "Im Beisammensein lernen wir einander kennen, um so Angst und Misstrauen abzubauen." So ließen sich Jahrzehnte andauernde Konflikte lösen. Auf www.einfach-machen-stuttgart.de beschreibt er detailliert seine vielen Ziele für die Stadt.

Lieber schenken als spenden

Zu Wahlkämpfen gehören immer auch Wahlversprechen. Ein ganz besonderes gab OB-Kandidat Michael Ballweg, der es als Gründer der "Querdenken-711"-Bewegung bereits zum zweifelhaften Ruf des Corona-Chefskeptikers gebracht hat. Sollte der 45-jährige "Diplombetriebswirt, Unternehmer, Friedensaktivist", wie es unter seinem Namenslogo heißt, die Rathausspitze erobern, dann "spende ich jeden Monat 10.000 Euro meines OB-Gehalts an ein soziales Projekt", tönte er bei der offiziellen KandidatInnen-Vorstellung im Oktober in der Schleyer-Halle.

Das ist ein Wort, wenngleich ein gewagtes. Denn der kommunale Spitzenjob wird nach Besoldungsgruppe B11 mit monatlich 14.839,37 Euro brutto (ab 2021) entlohnt. Bei diesem Verdienst erreicht die Abgabenlast allerdings fast 50 Prozent. Das heißt: Nach Abzug von Steuern, Beiträgen und Versicherungen blieben einem Rathauschef Ballweg deutlich weniger als zehntausend Euro. Er müsste für sein Spendenversprechen jeden Monat rund 2.000 Euro aus eigener Tasche drauflegen. Im Laufe der OB-Amtszeit von acht Jahren würde sich die milde Gabe auf rund 200.000 Euro summieren.

Ist Ballweg so solvent? Oder müsste er als Stadtoberhaupt auf Vermögen seiner "Querdenker" zurückgreifen? Deren Spendentöpfe scheinen derzeit gut gefüllt, nimmt man Zahl und Größe ihrer Demos als Maßstab. Doch woher nimmt Ballweg das Geld für Corona-Demos und seinen OB-Wahlkampf? Eine Anfrage ließ er unbeantwortet.

Hinweise auf eine Geldquelle finden sich auf dem Internetportal Querdenken-711.de, das laut Impressum von Ballweg betrieben wird. Hier bittet der "Friedensaktivist" um finanzielle Unterstützung für die Organisation der Demos und Anwalts- und Gerichtskosten von Klagen: durch Überweisungen auf ein Konto, mit ihm als Empfänger. Das Geld landet also auf einem Privatkonto. Bei früheren Querdenken-Demos hatte der OB-Kandidat das Konto als "offizielles Spendenkonto" der Querdenken-711-Bewegung bezeichnet. Auch dazu äußerte sich Ballweg nicht.

Zudem sollen Ballweg-Fans ihr Geld als "Schenkung" geben, und zwar maximal 19.999 Euro in zehn Jahren. Dieses Procedere ist dem Steuerrecht geschuldet. Denn so muss der Beschenkte aufgrund des Freibetrags keine Schenkungssteuer ans Finanzamt abführen. Offiziell braucht er der Behörde Zuflüsse nur zu melden. Einkommenssteuer fällt bei Schenkungen übrigens auch nicht an. Allerdings können Spender Schenkungen nicht steuermindernd geltend machen. Denn Querdenken-711 ist kein gemeinnütziger Verein. "Wir arbeiten derzeit an der Eintragung der Gemeinnützigkeit und können bis dahin keine Spendenquittungen ausstellen", heißt es auf der Homepage, und das seit Monaten. Die Verzögerung macht Sinn: Solange Querdenken-711 nur eine Bewegung ist, braucht Ballweg keinen Rechenschaftsbericht vorzulegen, mit dem Vereine gesetzlich zumindest ihren Mitgliedern regelmäßig Auskunft über die finanzielle Situation geben müssen. Wie viel Geld seit Beginn der "Querdenker"-Aktivitäten auf seinem Konto gelandet ist, bleibt somit Ballwegs ganz persönliches Geheimnis.

Als OB-Kandidat gibt er dagegen als Verfechter totaler Transparenz. Etwa in der Corona-Pandemie, wo er als neues Stadtoberhaupt alle Daten und Zahlen über Schwererkrankte, Todesfälle und Krankenhäuser veröffentlichen werde. Dass sehr viele Behörden wie das RKI dies seit Pandemiebeginn tun, scheint Ballweg nicht mitbekommen zu haben. Er werde jedenfalls aufgrund der Daten "alle Einschränkungen von Grundrechten und Freizügigkeit sowie die Maskenpflicht" aufheben, verspricht er.

Und was außer Corona hat Ballweg sonst noch vor? Als OB würde er die kommunale Infrastruktur, etwa die Wasserversorgung, wieder in städtische Hände überführen. Vielleicht ist ihm entgangen, dass der Gemeinderat genau dies längst beschlossen hat. Auch kündigt der Unternehmer an, "kritische Fragen zu Stuttgart 21 und Diesel-Fahrverboten zu stellen". Denn: "Angesichts der verzerrten Berichterstattung über die Querdenker-Demonstrationen ist nicht sicher, ob alles richtig berichtet wurde."

Evangelikal und Autofreund

Malte Kaufmann, 43 Jahre, vier Kinder, Immobilienunternehmer aus Mühlhausen bei Heidelberg, ist der einzige OB-Kandidat, der offen seine Parteizugehörigkeit kommuniziert: die zur AfD. Wortgewaltig zu Corona, ist der Kandidat woanders wortkarg: Kaufmann steht der Freien Christlichen Gemeinde Heidelberg nahe, die in der Unistadt einen Kindergarten und eine Schule betreibt. In ihr engagiert sich der AfD-Kreisratsvorsitzende als Lehrbeauftragter. Ähnlich wie US-amerikanische Evangelikale legt diese Gemeinde die Bibel als "Wort für Wort von Gott eingegeben" ultrakonservativ aus. In ihren Bildungseinrichtungen "trimmt man die Kids auf ziemlich schräges, alttestamentarisches Zeug und bringt ihnen neben dem vorgeschriebenen Lehrstoff zur Evolution auch die 'Alternative' des Kreationismus nahe", bemerkt der AfD-Watchblog Heidelberg.

Trotz seiner Religiosität will Kaufmann nicht an Dingen rütteln, die die Schöpfung bedrohen. "Wir können von Stuttgart aus nicht das Weltklima retten und die Erderwärmung aufhalten", argumentiert er im OB-Wahlkampf voll auf AfD-Linie. Verkehrsträger dürfe man nicht gegeneinander ausspielen. "Tempo 40 und Dieselfahrverbote werde ich zurücknehmen", verspricht er.

Kaufmann empfiehlt sich als Mann für Recht und Ordnung. Mit ihm bräuchten die Stuttgarter "keine Angst zu haben, von Drogenhändlern angegangen oder in die Fänge von kriminellen Gangs zu geraten." Dass Stuttgart zu einer der sichersten Großstädte hierzulande zählt, die Zahl der Straftaten laut polizeilicher Kriminalstatistik seit Jahren auf relativ niedrigem Niveau verharrt, ignoriert der OB-Kandidat. Als populistischer Wolf im Schafspelz entpuppt sich Kaufmann in den sozialen Medien. Auf Twitter nennt er die Corona-Schutzmaßnahmen als "Orgie an DDR-mäßigen, völlig unsinnigen & überzogenen Eingriffen". In Tweets warnt er vor der vermeintlichen Islamisierung Deutschlands.

Politik ohne Eitelkeit?

John Heer, Vater zweier erwachsener Kinder, blickt zurück im Zorn. Aus seiner Sicht lief im Talkessel zuletzt alles schief: "Sicherheit, Sauberkeit? Versagt!", stellt er dem scheidenden OB und seinem Gemeinderat in typisch schwäbischen Politikfeldern ein vernichtendes Zeugnis aus. Die Bilanz sei auch ansonsten grottenschlecht, weil im Rathaus der "gesunde Menschenverstand abhandengekommen" sei. Auf die Palme bringt den unabhängigen Bewerber, dass Politiker, "die in der Vergangenheit versagt haben, sich als Kandidaten an der anstehenden Wahl beteiligten". Und sie suggerierten, dass es sich um eine reine Personenwahl handelt. Dabei finanzierten Parteien deren Wahlkampf mit bis zu zwei Millionen Euro, behauptet er, ohne Belege anzuführen. Er dagegen kandidiere ohne parteipolitische Zwänge und werde die Rathauspolitik von Eitelkeit und Ideologie befreien. Das lässt sich der 54-jährige Heer ein paar Plakate und Auftritte kosten, die er wohl aus der Portokasse bezahlt. Denn der Kandidat macht neben Immobilien in einem speziellen Gewerbe. "Seit 2012 bin ich Eigentümer mehrerer Vergnügungsstätten in Stuttgart." Auf gut schwäbisch: Puffbetreiber im Rotlichtviertel.

Er will ganz viel

Werner Ressdorf ist mit 66 Jahren der älteste Bewerber. Der Fachbuchautor und Schriftsteller kandidierte bereits zur Bundestagswahl 2017. Seine Ziele damals: in Berlin einen Friedensvertrag mit den vier Siegermächten aushandeln, Grundwehrdienst wieder einführen und die doppelte Staatsbürgerschaft abschaffen. Daraus wurde nichts. Als Stuttgarter OB würde er "den verängstigten BürgerInnen wieder Zuversicht geben. Das soziale und kulturelle Leben wieder ermöglichen". Und, wie Konkurrent Ballweg, alle Schwaben von der Maskenpflicht befreien. Sie "von diesem unheilvollen Spuk erlösen", wie er sagt. Daneben würde er ökologische Satelliten‐Siedlungen, Fahrradtrassen, eine neue Oper und ein Demokratiehaus bauen. Sowie: den Kopfbahnhof erhalten, einen autofreien Sonntag für Stuttgart einführen und den ÖPNV ausbauen. Ein nach politischen Maßstäben widersprüchlicher Kandidat.

Überparteilich für mehr Freude

Sebastian Reutter kennt als Mitarbeiter der städtischen Wirtschaftsförderung das Rathaus seit fast zehn Jahre von innen. Reutter, 40 Jahre alt, tritt an, "weil sich die Mehrheit der StuttgarterInnen einen überparteilichen OB wünschen, der sich mit Wirtschaft auskennt", wie er behauptet. "Wir waren mal die Stadt der Erfinder. Und da müssen wir wieder hin", will er die Entwicklung der Mobilität der Zukunft in Stuttgart fördern. Daneben würde er ein 365-Euro-Jahres-Ticket einführen, in die City nur Autos mit umweltfreundlichen Antriebe lassen und Radwege ausbauen. Alles, um die Verkehrswende zu schaffen. "Stuttgart muss Freude machen", sagt er. Und meint damit auch ausreichend Kita-Angebote, barrierefreie Stadtplätze und eine funktionierende Nahversorgung in den Stadtteilen.

Rommel ist sein Vorbild

Marco Völkers großes politisches Vorbild ist Manfred Rommel. Weil der angeblich einmal sagte: "Der Mensch, vor allem der junge Mensch, braucht die Hoffnung auf Fortschritt. Der Mensch neigt seit jeher dazu, Symptome zu schlagen und Ursachen ungeschoren zu lassen." Betriebswirt Völker, 43 Jahre alt, will als OB der neue, junge Rommel von Stuttgart sein. "Aber ohne die Bibel der Partei-Lobby im OB-Schreibtisch", wie er betont. Dann werde er die Stadtverwaltung zum attraktiven Arbeitgeber mit modernen und inklusiven Arbeitsplätzen machen, den Wohnungsbau fördern, vor allem den sozialen, die Verkehrswende klug meistern, Busse und Bahnen kostenlos rund um die Uhr fahren lassen. Und Stuttgart 21 zum ersten digitalisierten Bahnknoten Deutschlands ausbauen.

Sie kandidiert gern

(Ober)Bürgermeisterinnen sind in Baden-Württemberg eine Rarität. Von den mehr als 1.000 hauptamtlichen Bürgermeistern sind Mitte 2020 nur 80 Frauen, darunter sechs Oberbürgermeisterinnen. Friedhild Anni Miller, OB-Kandidatin aus Sindelfingen, möchte das ändern. Theoretisch. Denn FRiDi, wie sich die 51-jährige Mutter einer Teenie-Tochter selbst nennt und schreibt, gilt, anders als Veronika Kienzle von den Grünen, als aussichtslose Bewerberin. Dafür spricht schon ihre Kandidaten-Vita: Die Stuttgarter OB-Wahl ist die 112. Wahl, bei der sie als "Aufdeckungspolitikerin, Filmstar Doku 'FRiDi', WWM-Gewinnerin und Unternehmerin im Bereich Werbung, Marketing und Beratung" (so ihr Facebook-Profil) ihren Hut in den Ring geworfen hat. "Das passt: Notruf 112, Stuttgart ich komme", sagt sie. Derartiges gefällt auf Facebook immerhin 3.329 Personen, einige mehr haben ihre Seite abonniert.

Gebracht hat der jahrelange Wahlmarathon Miller(s) bislang nix: So entfielen etwa im Januar 2018 bei der OB-Wahl in Schwaikheim (Rems-Murr-Kreis) nur 1,73 Prozent der Stimmen auf Fridi – was eine Wahlanfechtung nachträglich ändern sollte. Die erklärte das Verwaltungsgericht Stuttgart im Herbst 2018 jedoch für unzulässig. Ein Grund: Die Richter hielten Klägerin Miller aus gesundheitlichen Gründen für prozessunfähig.

Setzt auf Vernunft

Der Elektroingenieur Ralph Schertlen ist ein alter kommunalpolitischer Hase. Bereits bei der OB-Wahl in Stuttgart 2012 warf er seinen Hut in den Ring. Vergeblich, was ihn zur Gemeinderatswahl 2014 zur Gründung der Wählervereinigung Stadtisten brachte – und ihm einen Sitz im Gemeinderat bescherte. Nach Differenzen mit seinen Mitstreitern trat er bei der Ratswahl in 2019 erfolglos als unabhängiger Kandidat an. Sein Ziel am kommenden Wahlsonntag: "Eine parteilose Rathausspitze, die für Vernunft und für ein gutes Miteinander steht". Er will Wohnraum schaffen, produzierendes Gewerbe erhalten und vielfältige Mobilität erhalten. Seine Bewerbungsrede in der Schleyer-Halle beendete der 51-Jährige mit einem Liedtext der "Ärzte": "Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt so ist wie sie ist. Es wäre nur deine Schuld, wenn sie so bleibt."


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