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OB-Wahl in Stuttgart

Paris, London, Stuttgart

OB-Wahl in Stuttgart: Paris, London, Stuttgart
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Selbst Großveranstaltungen sind klein während einer Pandemie. In Kammerspiel-Tonlage examiniert Moderator Michael Zeiß die fünf aussichtsreichsten der insgesamt 16 KandidatInnen für den Chefsessel im Stuttgarter Rathaus. Debatten gibt's keine, Informatives schon.

Gleich zum Auftakt hat Frank Nopper ein Alleinstellungsmerkmal. Der CDU-Kandidat mag nicht von der Idee lassen, dass das Auto auch in Zukunft eine Rolle spielt für eine "menschengerechte Innenstadt". Was das konkret bedeutet, erhellt er mit seiner Bewertung des neuen Entwurfs für die Umgestaltung der vielbefahrenen B 14 im Herzen der Stadt. Denn die will er zurückstellen. Es komme darauf an, sagt er mit entwaffnender Offenheit, "was Verkehrsplaner dazu sagen". Aber die seien doch mit am Tisch gesessen, kontert Veronika Kienzle in einem der raren Momente, da es doch zu so etwas Ähnlichem wie einer direkten Konfrontation kommt. Für die Grüne heißt die Aufgabe jetzt, die Bürgerinnen und Bürger von diesem "sehr schönen Entwurf" zu überzeugen, der die Stadt an dieser kritischen Stelle besser machen könne.

Stuttgart und seine dem Individualverkehr geschuldeten Wunden: Eine der Kardinalfragen für eineN künftigeN OB wird sein, wie umgegangen werden soll mit der für "die Identität der Stadt" (Martin Körner) so wichtigen Automobilindustrie. "Wovon wollen wir leben, wenn industrielle Arbeitsplätze 30 Prozent der Wertschöpfung ausmachen?", fragt der Sozialdemokrat rhetorisch und gibt sich selber die absehbare Antwort: "Selbstverständlich auch von der Autoindustrie." Dennoch plädiert selbst Körner für weniger oberirdische Parkplätze im Talkessel und bleibt zugleich der traditionellen Linie seiner SPD treu: Nur mit ausreichend vielen Jobs kommt die Stadt aus einer Krise wie Corona heraus und nur dann haben die Leute überhaupt Geld, um es auszugeben.

Die am weitesten reichenden Pläne hat wie schon so oft Hannes Rockenbauch. Gerade hier im Theaterhaus vor dem Publikum des Neuen Montagskreises weiß er mit seiner hohen Bühnenpräsenz und dem weiten Blick über den Tellerrand zu beeindrucken. Er habe nicht die Illusion, dass ein OB Standortentscheidungen mittreffe, "aber wir müssen den Mut haben, als Stadtgesellschaft mitzubestimmen, nicht nur wie wir leben, sondern auch wie wir produzieren wollen". Da habe das eigene Auto eben keine Zukunft, und als Exportschlager sei es der Umweltkiller schlechthin. Rockenbauch will den Leuten die Angst nehmen, und dabei helfen sollen in seiner Welt kostenlose Kitas, kostenlose Schwimmbäder oder ein kostenloser Nahverkehr. Die naheliegende Frage "Wer soll das bezahlen?" bleibt ungestellt. Und beim großen Lob für den Swimming-Pool, mit dem die Wiener Stadtregierung eine verkehrsreiche Kreuzung einfach stillgelegt hat, um dem Verkehr Raum wenigstens für ein paar Sommerwochen abzuluchsen, lässt er den orkanartigen Gegenwind, dem sich vor allem die Grünen stellen mussten, lieber unerwähnt.

Wer Ambitionen hat, fürchtet keinen Vergleich

Immerhin: Das Quintett auf der Bühne im Corona-bedingt spärlich besetzten größten Saal des Theaterhauses scheut Metropolen als Vorbilder nicht. Wien, Paris, Madrid oder London finden Erwähnung, wenn es um Nachahmenswertes für Stuttgart geht. Wären die Fünf so etwas wie eine Stadtregierung, die Rollenzuschreibung fiele nicht schwer: Marian Schreier, der rote Quereinsteiger aus Tengen, der seiner SPD mit seinem Alleingang das Leben noch schwerer macht, als es ohnehin schon ist, wäre der Jugendbeauftragte, Rockenbauch der Planer mit den hochfliegenden Visionen, Nopper der werbende Wirtschaftsförderer, Körner der sattelfeste Finanzminister.

Und Veronika Kienzle? Die Bezirksvorsteherin in Mitte hat fast 25 Jahre Erfahrung in der Stadtverwaltung, kann mit praktischen Projekten punkten. Eines ist die Umgestaltung der Tübinger Straße, nicht nur aus der Sicht der Grünen ein Erfolg. Nach zwei Versuchsjahren mit der Mischverkehrsfläche wollten selbst die größten Kritiker nicht zurück zu den früheren Verhältnissen, schwärmt sie. Und die Anwohner und Geschäftsleute hätten angefangen, ihre Fassaden zu sanieren und die Häuser zu schmücken.

Natürlich geht es in den ohne polemische Breitseiten auskommenden Frage-Antwort-Runden um den Wohnungsbau, den sich Körner ganz besonders auf seine Fahne geschrieben hat. Weil die Debatte untereinander zu kurz kommt, gehen manche historischen Wahrheiten unter, etwa wie oft die SPD im Gemeinderat mitgestimmt hat bei einem marktorientierten Kurs, den ihr Fraktionschef nun in seiner Rolle als OB-Kandidat problematisiert. Kienzle erinnert an das ewige "Investorenhochgeschaukel" der vergangenen Jahrzehnte, aber auch daran, wie die öffentliche Hand selbst immer wieder Grundstücke zuerst billig verkauft und dann teuer zurückgekauft hat. Ergebnis, laut Kienzle: Bauten, die heute "wie Jacket-Kronen im Gesicht der Stadt sitzen, ohne Bezug zur Umgebung".

Schnell werden Schnittmengen deutlich für den realistischerweise erwartbaren Fall eines zweiten Wahlgangs und die Frage, wer wohl wo mit wem könnte. Den Grünen fiele es kaum schwer, sich bei Finanzen und Investitionen, die aus der Krise führen sollen, bei Wohnungsbau, Verkehr, dem Rosensteinquartier und vielleicht sogar bei Stuttgart 21 mit der SPD zu verständigen, um im Finale eine Unterstützung für Kienzle zu organisieren. Immerhin kritisiert inzwischen selbst der langjährige Projekt-Fan Körner die Kostenlawine beim Tiefbahnhof. Hannes und Veronika – es wird viel geduzt auf dem Podium, weil der Rote, die Grüne und Rockenbauch sich gut und lange kennen – könnten ebenfalls Kompromisse schließen, um im zweiten Wahlgang gegebenfalls den CDU-Erfolg zu verhindern. In der Umsetzung des weit in die Zukunft reichenden Klimapakets, das auf der Habenseite des nicht mehr antretenden Amtsinhabers Fritz Kuhn steht, sind Gemeinsamkeiten gegen Nopper ebenso programmiert.

Flüchtlingspolitik wurde ausgeklammert

Der gebürtige Stuttgarter, dessen Vater schon OB hier werden wollte und gegen Arnulf Klett immerhin fast 40 Prozent einfuhr, hat es ohnehin nicht einfach. Gleich bei der Begrüßung will Moderator Zeiss, ehedem TV-Chefredakteur beim SWR, sich die Bemerkung nicht verkneifen, dass Backnang, die Stadt der großen Erfolge des CDU-Kandidaten, nicht mehr Einwohner hat als Stuttgarts Stadtverwaltung Beschäftigte. Und in der Bewertung der Stuttgarter Krawallnacht vom 21. Juni verheddert sich Nopper durch die Betonung des Migrationshintergrunds der Randalierer. Noch einmal steht er ganz alleine da.

Eine Wundertüte dagegen bleibt – oder besser: will selber sein – der Jüngste im Bund. Einerseits beklagt Schreier, wie regelmäßig und zugleich überflüssigerweise Themen auf die Tagesordnung kämen, allen voran der Tiefbahnhof unter der Überschrift "Murmeltierdebatte". Andererseits kann den Verhältnissen in der vielzitierten Stadtgesellschaft nur gerecht werden, wer die jüngere Vergangenheit zuerst seziert und dann verstanden hat. Der Tengener, auch er in Stuttgart geboren, greift lieber zu PR-Formeln à la "Den Stillstand beenden".

Ganz und gar ausgespart wird ein spezieller Komplex, trotz seiner brennenden Aktualität: die Bereitschaft in der Stadt, Flüchtlingen eine neue Heimat zu sein. Michael Zeiss verweist schon allein deshalb auf die Veranstaltung des AK Asyl der Landeshauptstadt am 9. September als Ergänzung, weil er die ebenfalls moderiert hat. Zumindest eine Fragerunde wäre angemessen gewesen – selbst wenn Kienzle, in den Neunziger Jahren Stuttgarts erste hauptamtliche Flüchtlingskoordinatorin, in besonderer Weise qua Erfahrung hätte glänzen können. Eine andere Idee sorgt stattdessen für Wohlwollen im Auditorium: Als OB würde sie den BürgermeisterInnen eine neue Rolle zuweisen, "weil sie zu wenig sichtbar sind". Sie seien aber politisch gewählte Referentinnen und Referenten mit politischen Standpunkten, die die Bürgerschaft kennen sollte – um zum Mitdenken und -machen von unten nach oben angeregt zu werden.

Da schlägt das Applausometer am stärksten aus in den kurzweiligen zwei Stunden, die übrigens eine Fortsetzung erfahren in der Variation der sonntäglichen Theaterhaus-Matinee: Mit allen KandidatInnen, die auf der Bühne präsent waren, folgen Einzelgespräche. Angefangen mit Veronika Kienzle (4. Oktober), Martin Körner (11. Oktober), Frank Nopper (18. Oktober), Marian Schreier (25. Oktober) und abschließend mit Hannes Rockenbauch (1. November). Der Corona-bedingte Hinweis in dem an persönlichem Aufeinandertreffen vor einem Publikum-armen OB-Wahlkampf ist schon obligatorisch: Anmeldung muss sein, und zwar jeweils bis zum Donnerstag davor.


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11 Kommentare verfügbar

  • Loretta Abendschein
    am 25.09.2020
    Antworten
    Auch wenn Herr Sellner von der StZ meint, die Podiumsdiskussion habe keinen klaren Sieger aufgezeigt, so hätte er doch feststellen können, wie schwach sich Herr Nopper (CDU) dort präsentierte. Z. B. hinsichtlich örtlicher Sachkenntnis im Bereich Kultur ("ich kenne seit 20 Jahren ein Mitglied der…
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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 6 Stunden
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