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Vogel Strauß auf Rädern

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Die Politik steckt den Kopf in den Sand: Die eigenen Rechtsanwälte führen Land und Landeshauptstadt vor Augen, dass Bundesverwaltungsrichter Fahrverbote für erforderlich ansehen. Trotzdem rufen PolitikerInnen von CDU, SPD und FDP nach Alternativen, als wäre die hochbelastete Stuttgarter City ein rechtsfreier Raum.

Das hat mal wieder wunderbar geklappt. Bis nach Ende der Pfingstferien werde man sich ausschweigen zu der Frage, wie es mit dem Luftreinhalteplan für die Landeshauptstadt und mit Fahrverboten für Dieselfahrzeuge unter der Euro-6-Norm weitergehen soll. Und man werde in dieser Zeit die Urteilsbegründung der Leipziger Bundesverwaltungsrichter in Ruhe prüfen, erläuterte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) am Rande seiner Geburtstagsfeierlichkeiten am 17. Mai.

Dennoch wurden die beiden Stellungnamen der von Stadt und Land beauftragten Juristen zu diesem Richterspruch in der von der Koalition eingesetzten Arbeitsgruppe, in der auch CDU-Ministerien vertreten sind, zuerst verteilt, dann publik. Und unverzüglich meldeten sich Kommentatoren zu Wort, die die Steilvorlage nutzten – allen voran Wolfgang Reinhart (CDU): "Für uns gilt weiterhin das Ziel saubere Luft für unsere Städte und die Vermeidung von Fahrverboten."

Dabei ist der CDU-Fraktionschef Jurist und hat sicher als einer der ersten begriffen, wo welche Spielräume vorhanden sind: Dass etwa ganze Zonen von Fahrverboten betroffen sein müssen und nicht, wie jüngst in Hamburg, lediglich bestimmte Straßen. Oder, wie die Richter feinsinnig bei den Ausnahmeregelungen zwischen Anwohnern und Anliegern unterscheiden, wie es um Nachrüstungen und Fristen bestellt ist. Aber Reinhart ist eben auch Offensivspieler, allzeit bereit, in das Vakuum zu stoßen, das die Grünen lassen – mal fahrlässig, mal gutgläubig oder gehalten an der kurzen Leine des Staatsministeriums. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, dass die Landesvorsitzenden und die FachpolitikerInnen längst Auskunft geben könnten, was in ihren Augen geschehen muss, um das Gerichtsurteil umzusetzen.

Scheuer fackelt nicht lange und lädt Zetsche ein

Die Höchststrafe ist, dass sich ausgerechnet Kretschmann, der grundsätzlich besser ans Ziel zu kommen meint, ohne die Ellenbogen auszufahren, aktuell ein Beispiel nehmen muss an Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU). Der fackelte nicht lange herum, sondern bestellte Daimler-Chef Dieter Zetsche ein, als Abgasmanipulationen an dem 1,6-Liter-Dieselmotor von Renault bekannt wurden, der im Mercedes Vito eingebaut ist. Und eine Zwei-Wochen-Frist setzte Scheuer auch. Außerdem müssen bis 15. Juni nach einer Forderung des Kraftfahrzeugbundesamts (KBA) Lösungen zur Nachrüstungen auf den Tisch. Bisher sind rund 5000 Fahrzeuge betroffen, es könnten aber hundert Mal mehr werden. Denn in so vielen Daimler-Modellen ist der Motor der Franzosen eingebaut.

Aus dem Leipziger Urteil lassen sich ebenfalls Tipps zum Thema Nachrüstungen ablesen. Die Anwälte des Landes brauchen sich in ihren Stellungnahmen mit dem Stichwort "Software" gar nicht erst aufzuhalten. Denn pauschale Ausnahmen wird es für Fahrzeuge geben, deren Abgasreinigung per Hardware auf Euro-6-Niveau nachgerüstet wird. Außerdem ist Eile geboten. In der Landeshauptstadt muss der Luftreinhalteplan zügig fortgeschrieben und bis zum Ende des Jahres verabschiedet werden. Ein für alle Mal erledigt hat es sich, auf die Bundesregierung zu warten, weil die keine Blaue Plakette ermöglicht. Oder auf das KBA oder gar darauf, bis gegebenenfalls die Kostenübernahme mit den Herstellern ausverhandelt ist. Was allerdings nicht heißt, wie einer der Juristen anmerkt, dass PolitikerInnen nicht an das wirtschaftlich-unternehmerische Eigeninteresse der Industrie appellieren sollten, nach dem Motto: Wenn KundInnen die Kosten für eine Nachrüstung nicht erstattet bekommen, könnten sie die Marke wechseln.

Die Landesregierung lässt sich von der Industrie vertrösten

Am Thema Nachrüstung lässt sich die Chronologie der Versäumnisse herunterbeten. Da zeigt sich, wie vor allem PolitikerInnen der Union, von SPD und FDP den Kopf im Sand vergruben oder "aus politischem Kalkül mit dem Feuer spielen", wie einer in der Grünen-Fraktion sagt. Vor fast zwei Jahren hatte das damals neue grün-schwarze Kabinett, auch alle CDU-Minister, darunter Thomas Strobl (Innen), Guido Wolf (Justiz) und vor allem Nicole Hoffmeister-Kraut (Wirtschaft), den Feinstaub-Vergleich mit den AnwohnerInnen am Neckartor angenommen. Seither sollte die Schadstoffbekämpfung höchste Priorität haben.

Stattdessen ließ sich die Landesregierung immer wieder von der Industrie vertrösten. Beim Autogipfel musste sich Kretschmann sogar mit einem Show-Daimler abspeisen lassen, der per LKW in den Hof des Neuen Schlosses transportiert wurde, weil er nicht fahren kann, der davonrollte, weil er keine Bremsen besitzt, und der schon bei leichtem Nieselregen abgedeckt werden muss, weil er nicht dicht ist. Spätestens da hätten Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) oder die damalige Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) verdient, von allen ParteifreundInnen voll unterstützt zu werden in ihrem Bemühen, die Autoindustrie von der Notwendigkeit der Hardware-Nachrüstungen zu überzeugen. Stattdessen lässt sich zum Beispiel Hoffmeister-Kraut noch heute vor den Lobby-Karren spannen und redet weiterhin Software-Lösungen und großzügigen Ausnahmeregelungen über 2020 hinaus das Wort. Als wäre ein höchstrichterliches Urteil das Papier nicht wert, auf dem es steht.

Die Unternehmertochter ist promovierte Diplom-Kauffrau. Andreas Stoch hingegen, der frühere Kultusminister, heute Chef der SPD-Landtagsfraktion, hat Rechtswissenschaften studiert. Wie Reinhart verfügt er, da die Urteilsbegründung inzwischen seit fast drei Wochen vorliegt, sicher längst über den nötigen Durchblick und dürfte ahnen, wie ernsthaft mit dem Spruch umzugehen ist, wie "Handwerker", "Anlieger" und "Anwohner" ausgenommen werden könnten und wie mit KundInnen oder BesucherInnen umzugehen ist.

Stimmung machen statt Lösungen anbieten

Wirklich Gebrauch macht der Sozialdemokrat von seinem Expertenwissen allerdings nicht. Sondern er versucht, als selbsternannter Rächer aller DieselfahrerInnen, die Grünen im Duett mit FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke vor sich her zu treiben. Beide "warnten" Verkehrsminister Hermann und Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) vor Fahrverboten und machen weiterhin Stimmung, statt zur Lösung der komplizierten Lage beizutragen. "Was Verkehrsminister Hermann macht, ist eine Politik, die sich gegen viele Menschen richtet, die heute Fahrzeuge besitzen, mit denen sie vielleicht ab dem neuen Jahr nicht mehr nach Stuttgart fahren können", sagte Stoch kürzlich in einem Zeitungsinterview. Das seien "oft Leute, die keine 20 000 Euro auf dem Konto haben, um sich ein neues Auto zu kaufen". Und weiter: "Die Perspektive ist aber vielen Grünen fremd, weil sie die Situation dieser Menschen nicht kennen".

Der SPD wiederum ist fremd – auch keine erfreuliche Botschaft auf dem Weg zu den Kommunalwahlen – die Debatte mit konstruktiven Vorschlägen zu befruchten, seit vor einem Jahr im Stuttgarter Gemeinderat die Mehrheit für eine strengere Schadstoffpolitik gekippt ist. So beharrt die rote Gemeinderatsfraktion unter anderem auf dem 365-Euro-Jahressticket für den ÖPNV nach Wiener Vorbild, ohne allerdings zu erläutern, wie das entstehende immense Einnahmenminus dauerhaft gegenfinanziert werden kann. Dabei appelliert gerade Kretschmann eindringlich, manchmal geradezu flehentlich an die Opposition und an KommunalpolitikerInnen, endlich mit eigenen besseren Vorschläge zur Schadstoffsenkung herauszurücken – falls vorhanden.

Die Grünen-Fraktion hat sich außerdem die städtische CDU zur Brust genommen, da die doch "gerne ihre gestalterische Kraft im Gemeinderat zu betonen versucht", so Fraktionschef Andreas Winter. In Wahrheit schlage sie sich schon bei etwas Gegenwind zaudernd in die Büsche und stimme in den Chor der Unzufriedenen ein. Gerade in der aktuellen Debatte um die schlechte Stimmung in der Stadt springt Winter dem OB zur Seite und erinnert an den Ausgangspunkt vieler einzelner Übel: Die unzähligen S-21-Baustellen hätten "Frust bei BürgerInnen ausgelöst und dem Vertrauen in die Politik geschadet, gar nicht zu sprechen von der täglichen Belastung durch Lärm und Feinstaub, die noch Jahre andauern wird". Außerdem setze die CDU, "sobald Einschnitte beim Autoverkehr anstehen, weiterhin auf die autogerechte Stadt auf Kosten der Stuttgarterinnen und Stuttgarter".

Hinter den Kulissen werden derweil nicht nur die Claims abgesteckt, sondern es wird auch an Regelungen gebastelt. Weniger inhaltlich, sondern erst einmal grundsätzlich, wie das Verfahren weiter gehen soll. Nach dem wochenlangen Knatsch rund um die Reform des Landtagswahlrechts hat sich die Koalition eine neue Gesprächskultur verordnet und vereinbart, dass FachpolitikerInnen der Fraktionen künftig eingebunden sein müssen. In Einzelfragen ziehen sich Trennlinien zudem auch nicht entlang der Parteigrenzen, weil zum Beispiel das CDU-geführte Justizministerin nichts von einer Vollstreckungsabwehrklage hält, mit der das Land gegen das verhängte Zwangsgeld in Sachen Feinstaub vorgehen könnte.

Und einer muss sich ohnehin zügig aus der Pfingstpause auf die Höhe der Diskussion beamen: der Ministerpräsident. Der lädt – unglückliches Timing, aber sommerliches Wetter – am Montagabend zum alljährigen Medien-Hock in die Villa Reitzenstein ein und wird sich wahren Kaskaden von Fragen dazu ausgesetzt sehen, wann Fahrverbote verhängt werden, wie und wo und weshalb – und erst recht weshalb nicht.


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