"Jeder Mensch", sagte der frühere US-Senator Daniel Patrick Moynihan, "hat ein Recht auf seine eigene Meinung, nicht aber ein Recht auf seine eigenen Fakten." Der Soziologieprofessor entstammte einer Arbeiterfamilie, war rechter Demokrat, einer der ersten Umweltschützer der Vereinigten Staaten und verstarb 2003. Sicher ahnte er nicht, dass sein Gedanke, als ein Alarmruf, die ganze westliche Welt erfassen würde. Selbst gebildete und keineswegs von Abstiegsängsten geplagte Menschen stimmen ein in ein von Vorurteilen, Unfug sowie Halb- und Viertelwahrheiten strotzendes Lamento über Missstände, verkommene Eliten und abgehobene Systemparteien, die keine Verantwortung übernehmen fürs eigene Volk. Sollte der Rechtsausleger Norbert Hofer tatsächlich am kommenden Sonntag österreichischer Bundespräsident werden, dann mit besonders hoher Zustimmung aus Kitzbühel, Ischgl oder vom Wörthersee – dort wohnen die Reichen.
Eben erst ist der Begriff "Post-truth" vom Oxford English Dictionary zum "Wort des Jahres" gewählt worden. Die deutsche Übersetzung "postfaktisch" ist unzulänglich, denn es geht um mehr als Fakten und Fiktion, es geht um Lüge und ihr Gegenteil, und die haben etwas zu tun mit Absicht und Vorsatz. Hofer kennt keine Genierer, wie die Wiener sagen würden, im Umgang selbst mit einfach überprüfbaren Behauptungen. Sein Gegenkandidat, der Grüne Alexander van der Bellen, war entgegen Hofers Behauptung nie Kommunist. Es geht bei CETA nicht um Billiarden-Geschäfte für Konzerne, weil das gesamte Bruttoinlandprodukt der Welt nur 0,075 Billiarden beträgt. Und die auf vielen rechtsradikalen Internetseiten unfröhliche Urstände feiernde Kornblume, das Erkennungszeichen illegaler Nationalsozialisten, das die "Republikaner" in den Neunzigern ungerügt sogar im Landtag von Baden-Württemberg tragen durften, steht anders, als Hofer den Österreichern weismachen will, nicht für Europa.
Und immer wieder gegen die sogenannten Altparteien
Doch alle Posts, alle Tweets, alle Kommentare, Untersuchungen und Gegendarstellungen nützen nichts. Sind die Lügen einmal in der Welt, ziehen sie ihre Kreise – und finden gläubige Abnehmer, die sich eigenes Nachdenken und Nachprüfen ersparen, sobald der Unsinn in ihr Weltbild passt. Zehntausende Follower dürften inzwischen glauben, dass die erste Wahl in Österreich gefälscht war, obwohl ein Richterspruch klar Formfehler feststellte. Aber die Fälschungs-Botschaft hat ihre Kreise gezogen. "Kreiert Mythen!" schreibt Barbara Tóth im linken "Falter" in einer Analyse des rechten Know-how-Transfers, "denn nichts lieben Anhänger mehr als eine gute Verschwörungstheorie." Sie sei ein "kommunikationstechnisches Perpetuum mobile", weil sie nicht widerlegt werden kann und "gleichzeitig ihre misslungene Falsifizierung ihr Fundament weiter festigt". Besonders erfolgreich verknüpften AfD-Spitzenfunktionäre immer neue Irreführungen damit, die System- oder Altparteien ins Spiel zu bringen. So geschehen nach den Mauscheleien bei der AfD-Listenaufstellung zur Landtagswahl im kommenden Mai in NRW oder der Aussperrung der Medien vom Landesparteitag in Kehl. Entweder lautet das Motto "Ihr glaubt doch nicht, dass die anderen das anders machen" – im vorliegenden Fall die Fälschung einer Auszählung. Oder es wird unterstellt, diese anderen würden es ja genauso machen – "die Lügenpresse aussperren" –, aber dazu seien sie zu feige.
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Rolf Steiner
am 05.12.2016Grenzen müssen deutlich aufgezeigt werden, vor allem jenen, die…