Wenn man dieses Jahr auf ein Wort herunterbrechen müsste, dann wäre es wohl: Erosion. Werte, Anstand, Stil, Moral, Brandmauer zur AfD – das alles ist bröselig geworden und kulminierte letztlich in der Stadtbild-Debatte, die der Bundeskanzler losgetreten hat. So viele Ausländer in Deutschland, dass die "das Stadtbild" zum Negativen verändern, meinte Friedrich Merz im Oktober. Ein Sinnbild des deutschen Stilverlusts, könnte man sagen. Danke an dieser Stelle all jenen mit Migrationsgeschichte, die auf diesen Maximal-Ausfall nicht mit Verzweiflung oder gar Flucht reagierten, sondern mit Humor auf sozialen Plattformen – mit Kommentaren wie: "Yo, dunkelhaariger Bro, lass mal zum Weihnachtsmarkt und Stadtbild stören gehen."
Während der Kanzler von Fettnapf zu Fettnapf watet, verliert auch die Medienlandschaft in Baden-Württemberg immer weiter an Kontur. Das Stuttgarter Pressehaus mit seinen einst stolzen Blättern "Stuttgarter Zeitung" und "Stuttgarter Nachrichten" schmilzt dahin wie ein Schneemann in der Sonne. Die "Südwest Presse" hat 2025 übernommen – und geht nochmal mit dem groben Rechen durch die Redaktionen, die sowieso schon kleingespart wurden. Ein trauriges Highlight dieses Medienjahres: die 200-Jahr-Feier des "Böblinger Boten", der faktisch kaum noch existiert. Viel Geschichte, keine Zukunft. Dafür hat Böblingen eine neue Touristenattraktion: Das 500. Jubiläum des Bauernkriegs im vergangenen Jahr manifestierte sich in einer Peter-Lenk-Skulptur für den dortigen Stadtpark am See.
Auch politisch lieferte Baden-Württemberg 2025, dem Jahr der massiven deutschen Aufrüstung, reichlich Stoff. Seit 2023 hat im Landtag ein Untersuchungsausschuss zur Beförderungspraxis bei der Polizei getagt, in diesem Jahr ist er zu Ende gegangen. Überdeutlich hat sich herauskristallisiert, wie ein CDU-Netzwerk um Innenminister Thomas Strobl Leute auf hohe Posten hob, die ihnen selbst genehm waren, Eignung oder Erfahrung spielten da kaum eine Rolle. "Das, was da zutage getreten ist, ist wirklich unterirdisch", sagte Julia Goll, die FDP-Obfrau im Ausschuss, vor Kurzem im Gespräch mit unserer Zeitung. Stichwort Pressekrise: Kontext war leider das einzige Medium, das alle 42 Ausschusssitzungen mitverfolgt hat, bis auf eine einzige Ausnahme vertreten durch unsere langjährige Autorin Johanna Henkel-Waidhofer.
Ein weiteres Kapitel politischer Moral fächerte sich im Juli bei der SPD auf. Der Hockenheimer Landtagsabgeordnete Daniel Born trat als Landtagsvizepräsident zurück, musste die SPD-Fraktion verlassen und verlor seinen Listenplatz zur Landtagswahl 2026. Weil er bei einer Abstimmung im Landtag ein Hakenkreuz hinter den Namen eines AfD-Abgeordneten gemalt hat. Schlimm war weniger die Tat als der Umgang mit Born durch seine eigene Partei. Nahezu ein Lehrstück darüber, wie schnell politische Solidarität verdunstet, wenn's mal schwierig wird. Was die Geschlossenheit nach Skandalen angeht, lässt sich von der CDU doch so einiges lernen.
Die "Blättle" laufen super
Während es um uns herum dem Gefühl nach bröselt und bröckelt, wo sich die Gesellschaft nach rechts dreht und einen Teil der Medien mitnimmt, wo Zeitungen auf immer weniger Titel mit immer gleicherem Inhalt konzentriert werden und allerorten die Lokalnachrichten verschwinden, hat der Kontext-Verein Ende 2024 eine Tochter-GmbH gegründet, die die beiden Stadtteilzeitungen "Blättle Stuttgart-Süd" und "Blättle Stuttgart-West" gekauft hat. Und die laufen, das hat das erste Jahr gezeigt, wie geschnitten Brot. An dieser Stelle ein großes Dankeschön an unser Blättle-Team für die tolle Arbeit!
Aber ja, nicht alles lief glatt. Wir haben nach zwei Urteilen, die für uns sprachen, vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main den Prozess gegen einen Neonazi verloren. Seit acht Jahren führen wir diesen Kampf um zwei Artikel, in denen wir aus menschenverachtenden und hasserfüllten Facebook-Chats zitiert haben. Das OLG Frankfurt interessierte sich unserer Meinung nach etwas zu sehr für die Quelle hinter den Nachrichtenverläufen und das Urteil beschneidet, so sehen wir es, die Pressefreiheit weit über unseren Fall hinaus. Sollte es so Bestand haben, würde es investigative Arbeit massiv einschränken. Daher hoffen wir, im kommendem Jahr vor dem Bundesgerichtshof in Revision zu gehen, und sind gespannt, wie die Sache weitergeht.
Erfolg hatten wir in einem anderen Rechtsstreit, nämlich mit Susanne Wetterich. Die stadtbekannte CDU-Politikerin aus Stuttgart wollte ihre frühere Begeisterung für die maoistische KPD/AO auf keinen Fall öffentlich wissen. Die Pressekammer des Landgerichts Stuttgart gab uns während des Verfahrens der Spur nach recht, sodass Wetterich ihre Klage in der Verhandlung zurückzog. Wahrheit sticht Imagepflege.
In diesem Jahr haben wir uns von unserem Kolumnisten Joe Bauer verabschiedet. Stuttgarts wohl bekanntester Spaziergänger hat fünf Jahre für uns kolumniert, bevor er sich entschied, die Zusammenarbeit zu beenden. Aber wo Schatten ist, ist ja immer auch Licht und als Nebenfolge taucht nun wieder Sport als Thema in Kontext auf: Als neuen Kolumnisten konnten wir Bernd Sautter gewinnen, der unter dem Motto "grob unsportlich" an zurecht ausgestorbene Disziplinen wie das lebensgefährliche Wasserfallreiten erinnert oder Empfehlungen abgibt, welchen Schwitzenden es sich vom gemütlichen Sofa aus am meisten zuzusehen lohnt.
Besten Dank an das Kulturcafé Merlin
Einen Aufschlag hat unsere Kolumnistin Elena Wolf in diesem Sommer hingelegt: Einer der Artikel, der in diesem Jahr die weiteste Verbreitung gefunden hat, war ihre Analyse zum Selbstmordversuch des unermüdlich leistungsaffinen Trigema-Gründers Wolfgang Grupp. Journalistisch waren wir ohnehin mal wieder vielfältig unterwegs: Unsere Rechtsextremismus-Serie, finanziert durch Spenden der Community, ist im November erfolgreich angelaufen und verzeichnet bereits sieben Folgen (nachzulesen hier). Zudem verantwortet Kontext-Redakteurin Gesa von Leesen seit einigen Monaten die Kooperation mit Theater-Stuttgart.de. Wo Medien die Kulturberichterstattung zuletzt eher vernachlässigen, wollen wir sie ausbauen.
Kontext-Autor Florian Kaufmann hat die diversen Insolvenzen im Firmengeflecht von Bauunternehmer Christoph Gröner begleitet, der in einer Doku vor einigen Jahren damit prahlte, wenn man einmal richtig reich sei, könne man das Geld zum Fenster rauswerfen, es komme zur Tür wieder rein. Tja.
Gunter Haug hat aufgedeckt, dass die Firma Solvay in Bad Wimpfen den giftigen PFAS-Stoff TFA kiloweise in den Neckar verklappt. Mit Erlaubnis der Behörden. Wir haben einen Syrer durch das Dickicht deutscher Behörden begleitet, sprechende Pflanzen bestaunt und die Massenentlassungen bei Bosch begleitet. Was aus "the Länd" mal wird, wenn es so weitergeht, weiß kein Mensch.
Erfolgreich lief unsere Veranstaltungsreihe "Kontext im Merlin" in Kooperation mit dem Kulturcafé Merlin im Stuttgarter Westen. Ob Gespräche zwischen Menschen mit palästinensischen und jüdisch-israelischen Wurzeln, Diskussionen über die Bedrohung der Pressefreiheit durch aggressive Anwälte oder eine Lesung von Schriftsteller Wolfgang Schorlau – die Bude war immer rappelvoll.
Schmerzhafte Abschiede und neue Gesichter
Personell hat sich 2025 einiges getan bei Kontext. Nach fast zehn Jahren hat uns unsere Büroleiterin Sibylle Wais auf eigenen Wunsch verlassen, um neue Ufer zu erkunden. Neu dabei sind seit Mitte des Jahres Lisa Salwey und Renate Winter-Hoss im Kontext-Büro und in der Verwaltung. Jürgen Klose, der langjährige zweite Vorstand des Kontext-Vereins, hat aufgehört. Dafür haben wir Annemarie Raab gewinnen können, Frank Böhringer hat den ersten Vorsitz von Anni Endress übernommen. Und unser Fotograf Joachim E. Röttgers, seufz, widmet sich seit Jahresbeginn verstärkt Rente und Rad. Sein Nachfolger Julian Rettig ist seit Januar dabei und längst fester Bestandteil der Redaktion.
Jubiläen gab es auch: Josef-Otto Freudenreich, Mitgründer von Kontext und lange Chefredakteur, wurde 75. Roman Deininger, profilierter Autor der "Süddeutschen Zeitung," bescheinigte dem Jubilar, ein "renitent junger Hüpfer" zu sein – was wir aus der Redaktion nur bestätigen können. Ebenfalls 75 wurde in diesem Jahr unser Finanzvorstand Johannes Rauschenberger, seit Anbeginn dabei und zuständig fürs Vereinsvermögen und alles, was mit Geld zu tun hat. Wir sagen: Bei Kontext schafft offenbar ein guter Jahrgang.
Stichwort Jahrgang: 2026 steht ganz im Zeichen unseres eigenen Jubiläums. Denn Kontext wird tatsächlich schon 15 Jahre alt! Wer hätte gedacht, dass aus dem kleinen Stuttgarter Medienprojektle mal ein veritabler Teenager wird. Und das auch noch bald preisgekrönt! Denn unsere Chefredakteurin Anna Hunger ist vom Medium-Magazin als "Chefredakteurin regional 2025" gekürt worden. Grandios! Da freuen wir uns riesig. Zur Preisverleihung im kommenden Sommer machen wir eine Reise nach Berlin. Und wer weiß, vielleicht schreibt ja ein Schüler oder eine Schülerin dann eine kleine Geschichte über uns, denn für 2026 planen wir wieder ein Medienbildungsprojekt an einer Schule.
2026 wollen wir gemeinsam mit Ihnen Kontext noch besser machen. Wir wollen nach 15 Jahren einfach mehr. Mehr gute Geschichten, mehr Enthüllungen, mehr Augen auf die Stadtpolitik, mehr Autor:innen in den großen Städten Baden-Württembergs, mehr Projekte, mehr Veranstaltungen. Und wenn alles gut läuft, wünschen wir uns eine neue Volontärin oder einen neuen Volontär. Denn eins ist sicher: In Zeiten der Erosion braucht es Konstanten. Konstanten wie Kontext eine ist.
Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, liebe Unterstützerinnen und Unterstützer, einen guten Rutsch ins neue Jahr!
Ihre Kontext-Redaktion




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