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Völkische Geschlechterpolitik

Heute wie gestern

Völkische Geschlechterpolitik: Heute wie gestern
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In ihren Positionen zu Geschlechter- und Familienpolitik knüpfen AfD und andere Rechtsextreme an alte völkische Ideen an: eine Ideologie, die sich in den 1890er-Jahren entwickelte und deren erfolgreichste Vertreterin die NSDAP wurde. Heute mögen sich einige Begriffe geändert haben, das Denken nicht.

Die AfD kann sich gerade zurücklehnen. Andere machen die Arbeit für sie. Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) entschied im Mai, anlässlich des Christopher Street Day (CSD) in Berlin nicht mehr wie in den vergangenen Jahren die Regenbogenflagge am Reichstagsgebäude zu hissen, außerdem untersagte sie die Teilnahme der queeren Gruppe der Bundestagsverwaltung an der Parade. Und jüngst verbot Kulturstaatsminister Wolfram Weimer die Verwendung von "Gender-Sprache" in Dienstschreiben seiner Behörde.

Beides passt zu den Positionen, die die AfD seit langem auf unterschiedlichsten Wegen vertritt. Zwei Beispiele von vielen: Im August 2022 etwa machte Bernd Gögel, damals noch AfD-Fraktionsvorsitzender im baden-württembergischen Landtag, die Beflaggung von Gebäuden des Landes mit der Regenbogenflagge zum Thema einer Kleinen Anfrage. Und auf ihrem Landesparteitag im März 2023 in Offenburg verabschiedete die AfD eine "Gender-Resolution", Titel: "Kinder mit Zukunft statt Geschlechterverwirrung", in der sie unter anderem konstatierte: "Genderstern und andere unsinnige Schreibweisen lehnen wir rigoros ab. Das generische Maskulinum gilt für beide Geschlechter."

Queer-Feindlichkeit und die Gender-Thematik – also die Ablehnung von allem, was dazu gerechnet wird – sind zentrale Bestandteile des Rechtsextremismus und bei der AfD ebenso zu finden wie bei noch extremeren Gruppierungen. Gegen CSD-Veranstaltungen zu mobilisieren, gehört mittlerweile dazu, für die Neonazi-Gruppe "Deutscher Störtrupp" (DST) ist das sogar ein Hauptbetätigungsfeld. Damit stellen sich die Nazi-Truppe und die AfD in eine lange Tradition. Der rechte Aktivismus auf diesem Feld lässt sich sehr klar als Ausfluss völkischen Denkens deuten, dessen Anfänge in die 1890er-Jahre zurückreichen.

Leider noch kein Fall für die Geschichtsbücher

So ist es kein Wunder, dass es eine Veranstaltung im Rahmen der Stuttgarter CSD-Kulturwochen war, die sich im Juli unter dem Titel "Nie wieder still" im Erinnerungsort Hotel Silber mit den "Entwicklungen und Auswirkungen der völkischen (NS-)Geschlechterideologie" befasste. Sehr deutlich wurde da, wie gegenwärtig die Vergangenheit gerade ist.

Bis vor einigen Jahren schien "völkisch" ein Begriff aus den Geschichtsbüchern zu sein, seit Ende der NS-Diktatur 1945 passé. Doch das völkische Denken war nie ganz verschwunden. Spätestens mit der Gründung der AfD-Gruppierung "Der Flügel" (mittlerweile offiziell aufgelöst) im Jahr 2015 rutschte der Begriff wieder stärker in die Öffentlichkeit.

Doch was bedeutet er eigentlich? "Im Mittelpunkt der völkischen Ideen oder Ideologien steht, wie der Name schon sagt, das 'Volk'", sagt der Historiker Thomas Stöckle, Leiter der Gedenkstätte Grafeneck, im Eröffnungsvortrag der Tagung. "Volk" und "Rasse" seien dabei biologistisch zu verstehen, "als biologische Wesen und Organismen". In diesem Denken gelten Volk und Rasse als "Subjekte der Geschichte", so Stöckle, "das Konstrukt 'Volk' ist eine Abstammungs- und Fortpflanzungsgemeinschaft". Die Funktion dieser Ideologie liegt zum einen in der Integration: Wer gehört zu uns, zu unserer "Volksgemeinschaft"? Zum anderen in der Ausgrenzung: "Wer gehört nicht zu uns?"

In Deutschland formierte sich erstmals in den 1890er-Jahren eine völkische Bewegung aus nationalistischen und antisemitischen Gruppen. Das Ziel von Anfang an: eine ethnisch und kulturell homogene Nation zu schaffen, aus der als "undeutsch" betrachtete Fremdkörper auszuscheiden seien. Ganz homogen war auch die völkische Bewegung nie, es gab auch hier verschiedene Strömungen. Die größten Organisationen waren der noch im Kaiserreich gegründete "Alldeutsche Verband" und später der "Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund", der Anfang der 1920er rund 200.000 Mitglieder hatte. Aus ihm rekrutierte sich ein großer Teil der Anhängerschaft der NSDAP, die dann zur erfolgreichsten Spielart der völkischen Bewegung werden sollte.

OB Strölin und die Rassenhygiene

Die Politik von Karl Strölin, Stuttgarts NS-Oberbürgermeister von 1933 bis 1945, war von rassehygienischen Vorstellungen durchdrungen, die geradezu idealtypisch völkisches Denken illustrieren. Strölin sah das deutsche Volk von Degeneration bedroht, sein Ziel der "Erhaltung des zahlenmäßigen Bestandes des deutschen Volkes, der Verhütung des erbkranken Nachwuchses und schließlich der Reinhaltung der Rasse von fremdrassigem Blut" versuchte er, mit einer Reihe von Maßnahmen zu begegnen. So baute die Stadt Stuttgart eine "Erbgesundheits-Kartei" auf, die 1935 schon mehrere zehntausend Familien umfasste. Deren Zweck war "die Namhaftmachung aller für die Sterilisation in Betracht kommenden Fälle". 281 Erbkranke wurden noch im Jahr 1934 bearbeitet. Parallel dazu begann das Gesundheitsamt der Stadt, sogenannte "Erbkarteikarten" anzulegen. Ende 1936 betrug deren Zahl bereits 200.000. Ziel war, dass es "in kurzer Zeit möglich sein wird, alle Erbkranken im Stadtbezirk Stuttgart restlos zu erfassen", so Strölin. Außerdem richtete die Stadt auf seine Initiative hin in Buttenhausen bei Münsingen ein eigenes Lager für sogenannte "Asoziale" ein, die dort unter Kontrolle bewaffneter Aufseher in der Landwirtschaft arbeiteten.

Mit seiner Politik versuchte Strölin nicht nur, gesellschaftliche Randgruppen auszusortieren, sondern auch "rassisch hochwertigen Volksgenossen" Vorteile zu verschaffen. So wurden verheiratete Frauen durch ein städtisches Mutterschaftsdarlehen dazu bewegt, ihren Beruf aufzugeben. Keine Wahl hatten Beamtinnen: Sie mussten, wenn sie heirateten, aus dem Dienst der Stadt ausscheiden. (os)

Biopolitische Diktatur der Nazis

In den 1920er-Jahren begegneten sich auch der Nationalsozialismus und die Eugenik – ein damals nicht nur in Deutschland populäres Konzept der Gesundheitspolitik, das darauf abzielte, Fortpflanzung zu steuern und vermeintlich gute Erbanlagen zu vermehren. In Deutschland wurde die Eugenik unter den Begriffen "Rassenhygiene" und "Volkshygiene" übernommen und schnell in die NS-Politik integriert. So war eine der ersten Maßnahmen des NS-Staates das "Gesetz zur Verhütung erkrankten Nachwuchses", beschlossen am 14. Juli 1933, in Kraft getreten am 1. Januar 1934. Rund 400.000 Deutsche waren davon betroffen, vor allem Frauen, die zwangssterilisiert wurden – etwa, weil sie von den Nazis als "schwachsinnig" klassifiziert wurden. Mit rassenhygienischen Maßnahmen tat sich dabei unter anderem der Stuttgarter NS-Oberbürgermeisters Karl Strölin hervor (siehe Kasten). Ihre schlimmsten Ausprägungen erfuhren diese Ideen in der massenhaften "Vernichtung unwerten Lebens", dem Mord an Kranken und Behinderten. In diesem Sinne sei der Nationalsozialismus eine "biopolitische Diktatur" gewesen, sagt Stöckle.

Die Steuerung von Sexualität und Fortpflanzung spiegelt sich auch in der völkischen Geschlechterideologie wider: Die Familie gilt als Keimzelle des Volkes und um dessen Fortbestand zu sichern, werden in biologistischer Argumentation die Rollen zugewiesen. "Eine Gleichstellung der Geschlechter wird abgelehnt", erklärt Stöckle, und entsprechend würden Selbstbestimmung über Geschlechterrollen, Homosexualität, Trans- und Intergeschlechtlichkeit "als Bedrohung für die völkische Ordnung" und als "unnatürlich" diffamiert.

Deswegen ist die völkische Ideologie auch antifeministisch und queer-feindlich: Beides werde "als Angriff auf die 'natürliche Ordnung' und die 'Basis des Volkes', die Familie, angesehen. "Jede Infragestellung der traditionellen Rollenbilder gilt als Gefahr für die Gemeinschaft", sagt Stöckle.

Mit Kriegsende 1945 verschwand das völkische Denken nicht. Homosexuelle Menschen, Inter- und Trans-Personen, die in der NS-Zeit KZ-Haft und andere Repressalien erleiden mussten, galten nach dem Krieg nicht als politisch Verfolgte und erhielten daher in der Regel keine Entschädigung.

Völkische Kontinuitäten in die Gegenwart

Wie nahtlos es die Positionen der völkischen Geschlechterideologie in die Gegenwart geschafft haben, lässt sich an vielen Äußerungen von AfD-Mitgliedern aufzeigen. Die thüringische Landtagsabgeordnete Wiebke Muhsal postete etwa auf Facebook die Slogans "Männlichkeit ist kein soziales Konstrukt" und "Weiblichkeit ist kein soziales Konstrukt" – hinterlegt mit Bildern einer Ritterrüstung und einer Frau mit Baby im Arm.

Und allein mit Aussagen von Thüringens AfD-Landeschef Björn Höcke – der auch schon offen für eine Rehabilitierung der Begriffe "völkisch" und "Volksgemeinschaft" eintrat – ließen sich Bände füllen. In seiner Erfurter Rede im November 2015 etwa sagte er: "Wir müssen unsere Männlichkeit wiederentdecken. Denn nur wenn wir unsere Männlichkeit wiederentdecken, werden wir mannhaft". Dass Männer die Verantwortung für Familie, Beruf und die Politik tragen sollten, führt Höcke auf natürliche Unterschiede der Geschlechter zurück: "Wehrhaftigkeit, Weisheit und Führung beim Mann – Intuition, Sanftmut und Hingabe bei der Frau".

Dass ihr vor allem die völkischen Positionen eine Einstufung als rechtsextremistischer Verdachtsfall durch das Bundesamt für Verfassungsschutz eingebracht hat, mag dann doch einige AfDler beunruhigt haben. In den vergangenen Wochen ist innerhalb der Partei ein Streit ausgebrochen über den Begriff der "Remigration" – eine rechtsextreme Chiffre dafür, dass zur Wiederherstellung einer vermeintlich ethnisch-homogenen Bevölkerung auch deutsche Staatsbürger, die als kulturell oder ethnisch unpassend angesehen werden, "remigriert", also abgeschoben werden sollen. Ein ganz klar völkisch inspiriertes Konzept. Der Bundestagsabgeordnete Maximilian Krah fordert nun eine Abkehr vom Begriff "Remigration" – worüber ein Streit zwischen ihm und dem österreichischen Rechtsextremisten Martin Sellner, einem führenden Kopf der Identitären Bewegung (IB) und Propagandist des "Remigrations"-Begriffs, ausgebrochen ist.

Die völkische Geschlechterpolitik der Partei scheint dabei noch unberührt. Vielmehr scheint es, dass sich Vertreter:innen der Partei, die nicht in diese Linie passen, immer weniger durchsetzen können. Das erfuhr etwa Alice Weidel im Januar beim AfD-Bundesparteitag in Riesa. Während die Parteichefin in Bezug auf "Remigration" gerne das völkische Lager bedient, vertritt sie in familien- und geschlechterpolitischer Hinsicht einen anderen Ansatz: "Familie ist da, wo Kinder sind", ist hier ihr Slogan, der auch ihre eigene Familien-Konstellation widerspiegelt: Sie lebt in einer Partnerschaft mit der aus Sri Lanka stammenden Sarah Bossard, deren zwei Söhne das Paar gemeinsam großzieht.

In Riesa kritisierte die Höcke-Vertraute Wiebke Muhsal ihre Parteichefin dafür sehr explizit: "Diese gesellschaftsverwahrlosenden Sätze kommen mir echt zu den Ohren raus! Kinder kommen nicht irgendwo her, sondern Familie ist da, wo ein Mann und eine Frau gemeinsam Kinder bekommen!", wird sie in einem taz-Artikel über den Parteitag zitiert – und soll dafür lauten Jubel und Applaus geerntet haben. Und letztlich Erfolg: Die AfD-Delegierten änderten einstimmig das Wahlprogramm, am Ende stand drin: Familien bestehen aus "Vater, Mutter und Kindern".

Eng verknüpft: Migration und Gender

Die Historikerin Daniela Rüther von der Ruhr-Universität Bochum betont: "Es gibt eine direkte Verbindung zwischen dem Migrationsthema und der Gender-Thematik durch die Bevölkerungspolitik. Bevölkerungspolitik war schon immer Kern völkischer Bewegungen." Letztlich gehe es immer um Mutterschaft und Bevölkerungsvermehrung, um ein "rassereines" Volk, was wiederum bedinge, Menschen auszuschließen, die nicht dazu gehören sollen.

Und zu dieser Agenda gehöre auch Antifeminismus: Die pronatalistische, also Geburten fördende, Bevölkerungspolitik sei immer "als Bewegung gegen weibliche Emanzipationsbestrebungen forciert worden. Dies ist in allen völkischen Bewegungen zu beobachten", sagt Rüther. Insofern zeige sich beim Anti-Liberalismus und Anti-Pluralismus der AfD, ihrem rückwärtsgewandten Bild von Geschlecht und Geschlechterordnung eine Kontinuität zu früheren völkischen Bewegungen.

An der Grenze zum Völkischen entlanggeschlittert

So beunruhigend das Wachsen der AfD und mit ihr das Revival völkischer Geschlechterideen ist, noch besorgniserregender ist es vielleicht, dass diese Ideen sich mit Vorstellungen aus anderen politischen Milieus decken – auch solchen, die sich selbst vermutlich als klassisch konservativ verstehen. Schnittmengen und eine gewisse normative Nähe zeigten sich seit 1945 immer wieder, aber momentan werden sie an vielen Stellen besonders sichtbar. Mit Julia Klöckner hat womöglich nicht zufällig ausgerechnet die CDU-Politikerin wenig für den CSD übrig, die im Bundestagswahlkampf die CDU schon als "Alternative zur AfD" angepriesen hat.

Und auch bei Wolfram Weimer darf man sich fragen, wie viel seine Ablehnung von Gender-Sprache damit zu tun hat, dass er 2018 in seinem "konservativen Manifest" selbst an der Grenze zum Völkischen entlanggeschlittert ist: In einem Kapitel sieht er dort die abendländische Werte- und Traditionsgemeinschaft des Westens "im Kontrast zum islamisch geprägten Orient oder Morgenland". Kulturelle Identität scheint hier eher monolithisch und mit Abstammung verknüpft.

Wenn sich die CDU wie bei dem Thema Migration auch in der Geschlechterpolitik von der AfD weiter treiben lässt, werden vermutlich noch einige Beispiele dazu kommen.

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