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Zum Tod von Dietrich Wagner

Traurige Ikone

Zum Tod von Dietrich Wagner: Traurige Ikone
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An Stuttgarts "Schwarzem Donnerstag", dem 30. September 2010, verlor Dietrich Wagner durch einen Wasserwerferstrahl fast komplett sein Augenlicht. Nun ist er im Alter von 79 Jahren gestorben. Kontext hat Erinnerungen gesammelt.

Rückblickend nannte Dietrich Wagner die Idee "naiv", sich mit ausgebreiteten Armen winkend dem Wasserwerfer der Polizei entgegenzustellen, um dadurch eine Pause der Angriffe zu erreichen. Damals, am 30. September 2010, sei er aus Respekt vor dem Engagement der Jugendlichen zu einer Demonstration von Schüler:innen gegen das Projekt Stuttgart 21 gekommen, sagte Wagner im Juli 2014 als Zeuge vor dem Stuttgarter Landgericht. Und als viele Jugendliche wegen des im Schlossgarten beginnenden Polizeieinsatzes dorthin wechselten, sei auch er in den Schlossgarten gegangen.

Zu diesem Zeitpunkt ist Wagner 66 Jahre alt und seit Kurzem Rentner. Die Härte des Polizeieinsatzes überrascht ihn genau wie die Schüler:innen, ein "unwürdiges Schauspiel" sei es gewesen, wie durch immer heftigere Wasserstöße Menschen umgeschossen wurden und übereinanderstürzten. Also breitet Wagner irgendwann die Arme aus – bis er einen stechenden Schmerz spürt, umfällt und bewusstlos wird. Ein Wasserwerferstrahl mit einem Druck von mindestens 16 bar hat ihn frontal im Gesicht getroffen. Zwei Männer heben ihn hoch, stützen ihn, führen ihn aus der Menge heraus. Eine Augenärztin leistet Erstversorgung vor Ort, dann wird Wagner ins Katharinenhospital gebracht, drei Wochen lang stationär behandelt, mehrfach operiert. Sehen wird er nie mehr richtig können – auf einem Auge ist er vollständig erblindet, auf dem anderen beträgt sein Sehvermögen noch gut fünf Prozent. Er ist der am schwersten Verletzte der an diesem Tag mindestens 500 Verletzten – vermutlich mehr.

Das Foto mit Wagner, wie er mit blutenden Augen von den beiden Männern gestützt wird, geht sofort um die Welt, macht die Proteste gegen Stuttgart 21 weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt, wird zu einer traurigen Ikone der Bewegung gegen das Bahnprojekt. Es ist ein Foto, das anzuschauen kaum auszuhalten ist – und vielleicht hat es auch deswegen diese Wirkung und Bedeutung. Man muss nur dieses Bild sehen, um zu erkennen, wie unverhältnismäßig brutal, wie skandalös dieser Polizeieinsatz war, der als "Schwarzer Donnerstag" in die Geschichte der Stadt einging.

Das Foto machte ihn zum Gesicht des Protests

Gemacht hat das Bild der Stuttgarter dpa-Fotograf Marijan Murat. Er fotografiert damals schon lange für die Agentur, doch das Bild mit Wagner bezeichnet er in einem Interview als "eines der wichtigsten Fotos in meiner Laufbahn". Denn die Wellen, die dieses und andere Fotos aus dem Schlossgarten verursachten, dass sie die Medien füllten, bei Pressekonferenzen gezeigt wurden, Demonstrant:innen daraus Plakate und Transparente machten, das habe ihm die Bestätigung gegeben, "durch meine Arbeit aufzuklären und Menschen zum Denken zu bewegen", sagt Murat.

Zum Denken bewegt scheinen nach dem 30. September zunächst viele. Die Demonstrationen gegen das Projekt erreichen in den Tagen und Wochen danach ihre größten Ausmaße, bis zu 150.000 Menschen ziehen durch Stuttgarts Straßen, es kommt zur sogenannten Schlichtung mit Heiner Geißler.

"Dietrich Wagner war durch dieses Bild zum Gesicht unseres Widerstands geworden", sagt Norbert Bongartz vom Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21. Und fügt hinzu: "Obgleich er nie eine prägende Rolle im Widerstand gespielt hatte." Wagner war kein Mensch, den es in den Vordergrund drängte; er war immer wieder auf Demonstrationen gegen das Projekt zu sehen, an den Jahrestagen des "Schwarzen Donnerstags", doch nie auf der Bühne.

Und doch erreichte Wagner durch sein Streben nach juristischer Aufklärung und Wiedergutmachung, unterstützt vom Freiburger Rechtsanwalt Frank-Ulrich Mann, einiges. "Ohne ihn hätte es die gerichtliche Feststellung zur Rechtswidrigkeit des Polizeieinsatzes so nicht gegeben, und wäre es vermutlich auch nicht zur Entschädigung etlicher Verletzter gekommen", sagt Aktionsbündnis-Sprecher Dieter Reicherter. Wagner ist Nebenkläger beim Wasserwerferprozess, über den Kontext sehr ausführlich berichtet und der Ende 2014 abrupt endet. 2016, sechs Jahre nach der Gewalt, bekommt Wagner endlich Schmerzensgeld vom Land zugesprochen. 120.000 Euro, eigentlich zu wenig, nicht einmal genug, sich eine behindertengerechte Wohnung leisten zu können, sagt er damals gegenüber Kontext. Aber: "Was bleibt mir anderes übrig, als mich damit abzufinden?" Bereits ein Jahr zuvor hat sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) bei ihm und anderen Verletzten des 30. September entschuldigt. Wagner empfand das, so sein Anwalt Frank-Ulrich Mann, "als große menschliche Geste". Bis zuletzt beharrt das Land aber auf einer Mitschuld Wagners und der anderen Verletzten für ihr Schicksal.

Wagners Fall beschert Boris Johnson einen Dämpfer

Was in Baden-Württemberg weniger bekannt sein dürfte: Wagners Schicksal und sein Engagement hatten auch nachhaltige Folgen in anderen Ländern. Als etwa 2014 der damalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson erstmals Wasserwerfer für die städtische Polizei beschaffen wollte, da wurde Wagner von den Gegner:innen dieses Ansinnens zu einer Veranstaltung in das Londoner Rathaus eingeladen. Dort und gegenüber mehreren britischen Medien mahnt Wagner: "England sollte nicht denselben Fehler machen wie andere Länder auf der Welt. Wasserwerfer sind nicht demokratisch."

Zwar hinderte dies Boris Johnson zunächst nicht daran, drei gebrauchte deutsche Wasserwerfer zu kaufen und für über 300.000 Pfund auf- und umzurüsten. Doch er versäumte, beim britischen Innenministerium die notwendige Genehmigung einzuholen – und er hatte seine Rechnung ohne die damalige Innenministerin und spätere Premierministerin Theresa May gemacht: Die wies Johnsons Ansinnen brüsk ab, mit Verweis auf medizinische und wissenschaftliche Untersuchungen, die die Gefährlichkeit von Wasserwerfern zeigten, und auf die Unvereinbarkeit mit einer traditionell eher zurückhaltenden britischen Polizeilinie. Laut der Tageszeitung "The Guardian" vom 15. Juli 2015 führte May "den Fall eines 66-jährigen Stuttgarters an, der während einer Demonstration das Augenlicht durch ein Wasserwerfer-Modell verlor, das den von der Londoner Polizei gekauften ähnlich sei."

Auch in Südkorea sorgte Wagners Beispiel, über das Dieter Reicherter bei einem Symposium 2016 stellvertretend berichtete, mit dafür, dass das asiatische Land Wasserwerfer abschafft. "Das war ein toller Erfolg für Dietrich", sagt Reicherter.

In den letzten Jahren lebte Wagner weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. 2020 erlitt er einen Schlaganfall, von dem er sich aber wieder erholte. Und vor wenigen Monaten heiratete er seine langjährige Lebensgefährtin Erika. Entgegen manchen Presseberichten in der vergangenen Woche war Wagner nicht am Ende ein Stuttgart-21-Befürworter geworden. Tatsächlich hatte er 2019 über Stuttgart 21 gesagt, "jetzt sind fast drei Viertel fertig gebaut, da soll man es in Gottes Namen fertig bauen", was viele aus der Protestbewegung irritierte. Als Dieter Reicherter mit ihm darüber sprach und auch das Alternativkonzept "Umstieg 21" erläuterte, das Wagner offenbar nicht kannte, habe er aber seine Meinung revidiert und betont, "dass er weiter an unserer Seite steht", so Aktionsbündnis-Co-Sprecher Norbert Bongartz.

Am 28. Juni ist Dietrich Wagner an den Folgen einer Lungenentzündung gestorben. Die Trauerfeier wird am 10. Juli um 14 Uhr auf dem Stuttgarter Waldfriedhof sein.

Erinnerungen an Dietrich Wagner


Dieter Reicherter, Richter im Ruhestand, Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21:

"Anlässlich seines Todes stand oft zu lesen, Dietrich Wagner sei das Gesicht des Widerstandes gegen Stuttgart 21 gewesen. In einem Interview wurde ich als Sprecher des Aktionsbündnisses sogar gefragt, ob wir ohne Dietrich den Widerstand noch fortsetzen würden. Und prompt wurde berichtet, er habe sich zuletzt für den Weiterbau des Projekts ausgesprochen.

Wer so an die Person Dietrich Wagner herangeht, hat ihn nicht gekannt und nichts begriffen. Denn er wollte nie das Gesicht unseres Widerstandes gegen das Projekt sein, sondern – nicht zuletzt mit dem Foto, das um die Welt ging – dem Protest gegen staatliche Gewalt sein Gesicht verleihen. Wenn es Anfragen zur Unterdrückung von Bürgerbewegungen mit Polizeistaatsmethoden gab, dann war er zur Stelle. Viele Interviews dazu hat er bereitwillig gegeben. Oft haben wir dabei die Aufgaben geteilt. Er als Opfer eines polizeilichen Exzesses, schwer gezeichnet an Körper und Seele. Ich im Bemühen, Hintergründe, Vertuschung, Verdrehung durch Politik, Medien und leider manchmal auch Unwillen der Justiz aufzuzeigen. Ging es ihm noch so schlecht, auf seinen Willen, Unterdrückte durch Aufklärung über sein Schicksal zu unterstützen, konnte man zählen. Zuletzt stellte er seine Erfahrungen in einem ausführlichen Interview mit Bürgerrechtlern aus Hongkong zur Verfügung.

Eine Ermutigung war für ihn die Nachricht, die ich ihm aus Südkorea überbrachte. Dort hatten Internationale Menschenrechtsorganisationen 2016 ein Symposium gegen Wasserwerfereinsätze veranstaltet. Da die weite Reise und die mehrtägige Veranstaltung mit Spitzen aus Politik, Justiz, Polizei und Medien seine Kräfte überfordert hätten, war ich für ihn eingesprungen und hatte einen Vortrag über den 'Schwarzen Donnerstag' und Dietrich Wagners Kampf um Gerechtigkeit gehalten. Als Ergebnis des Kongresses, der sich auch mit einem tödlichen Wasserwerfereinsatz gegen einen südkoreanischen Gewerkschaftsführer befasste, kam es zur Abschaffung der Wasserwerfer in dem asiatischen Land.

Bewundernswert war sein Durchhaltewille, als es um die juristische Aufklärung des nicht nur an ihm, sondern an der gesamten Zivilgesellschaft begangenen Unrechts ging. Ohne ihn hätte es die gerichtliche Feststellung zur Rechtswidrigkeit des Polizeieinsatzes so nicht gegeben und wäre es vermutlich auch nicht zur Entschädigung etlicher Verletzter gekommen. Und dies ist der eigentliche Erfolg seines viele Jahre währenden Kampfes, der mit ihm untrennbar verbunden bleiben wird."


Guntrun Müller-Enßlin, Theologin, Pfarrerin, Autorin, SÖS-Stadträtin im Stuttgarter Gemeinderat:

"Unvergessen bleibt mir das Bild des Mannes, der sich am 'Schwarzen Donnerstag' furchtlos mit erhobenen Armen vor den Wasserwerfer stellte, als wolle er die Wagenführer daran erinnern: Hallo, zielt nicht auf uns, wir sind MENSCHEN! Eine Geste, die er teuer bezahlen musste.

Wie müssen Menschen gestrickt sein, die eine solche Proklamation der Wehrlosigkeit ausnutzen, um jemanden direkt in die Augen zu schießen? Das frage ich mich seither; gleichzeitig verneige ich mich vor Dietrich Wagners Mut und seiner Menschlichkeit. Möge er mit dem Tod Frieden finden."


Frank-Ulrich Mann, Rechtsanwalt aus Freiburg:

"Die Erinnerung an Dietrich Wagner wird in mir vermutlich nie verblassen. Zum einen, weil er ein besonderer Mensch war, vor allem aber, weil wir in den juristischen Auseinandersetzungen Außergewöhnliches erlebt haben. Da gab es einen selbsternannten Zeugen, der behauptete, Dietrich Wagner habe am 'Schwarzen Donnerstag' einen mit Pflastersteinen gefüllten Stoffbeutel bei sich gehabt, und er hätte auch gesehen, dass er Steine warf. Das hörte die Staatsanwaltschaft allzu gerne und beantragte die richterliche Vernehmung, was das Amtsgericht Stuttgart zunächst ablehnte, dann aber auf Geheiß des Landgerichts durchführte. Rasch konnten wir die Aussage in der Verhandlung widerlegen, weil auf keinem der bis dahin ermittelten Bilder ein solcher Beutel zu sehen war und der 'Zeuge' keine weiteren Details darlegen konnte. Ein Vorgang, den die Polizei hätte problemlos im Vorfeld erledigen können.

Dann war da ein polizeiliches Video, das den angeblichen Steinwurf dokumentieren sollte, wobei eine Einzelbildauflösung durch uns ergeben hat, dass es sich um eine Kastanie gehandelt hatte, wie es Dietrich Wagner von Anfang an erklärt hat. Später gab es unter anderem ein (13-seitiges) Dossier der Polizei, in dem Aussagen von Polizeibeamten gesammelt wurden, etwa darüber, dass Dietrich Wagner – trotz Erblindung – Auto gefahren sei und Polizeibeamtinnen auf den Hintern geschaut hätte. Auch dies konnten wir widerlegen. Die Polizei schickte zwei Beamte nach Biberach, wo die Wasserwerfer stationiert sind, um zu prüfen, ob es eine Einschlagdelle gab, die man Herrn Wagner zuordnen könnte. Erfolglos.

All das geschah, um Dietrich Wagner zu kriminalisieren, ihn als unfriedlich hinzustellen und somit den brutalen Polizeieinsatz zu rechtfertigen. Doch die Staatsanwaltschaft musste die Verfahren gegen ihn wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung und Sachbeschädigung einstellen. Das tat sie aber nicht, weil sie Dietrich Wagner keine Straftat nachweisen konnte, sondern sie 'sah von Strafe ab', weil er so schwer verletzt sei.

Eingestellt wurde – allerdings auf dubiose Weise – auch der Wasserwerferprozess, bei dem Dietrich Wagner als Nebenkläger auftrat. Zwar hatte die Strafkammer des Landgerichts bereits bis in den März 2015 hinein terminiert, im November 2014 jedoch stellte sie das Verfahren urplötzlich und mit fadenscheiniger Begründung gegen eine geringe Geldauflage ein.

Genugtuung verspürte Dietrich Wagner indes bei der Verleihung des Georg-Elser-Preises 2011 in München und dem rechtskräftigen Strafbefehl gegen den ehemaligen Polizeipräsidenten und Einsatzleiter am 'Schwarzen Donnerstag' Siegfried Stumpf, der wegen fahrlässiger Körperverletzung im Amt belangt wurde.

Wichtig für die Verarbeitung der Geschehnisse am 'Schwarzen Donnerstag' war zweifelsohne auch das Urteil des Stuttgart vom November 2015, das die Rechtswidrigkeit des Polizeieinsatzes feststellte und dann Grundlage dafür war, dass Dietrich Wagner und andere Opfer vom Land Schadenersatz erhalten haben."

 

Anmerkung d. Red.: In einer früheren Fassung des Textes stand, dass Theresa May 2015 britische Premierministerin war. Das ist nicht korrekt, 2015 war sie noch Innenministerin, erst im Juli 2016 wurde sie Premierministerin. Wir haben den Fehler korrigiert und bitten, ihn zu entschuldigen.


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3 Kommentare verfügbar

  • Jannis
    am 06.07.2023
    Antworten
    May war damals nicht Premierministerin, sondern Innenministerin.
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