Rückblickend nannte Dietrich Wagner die Idee "naiv", sich mit ausgebreiteten Armen winkend dem Wasserwerfer der Polizei entgegenzustellen, um dadurch eine Pause der Angriffe zu erreichen. Damals, am 30. September 2010, sei er aus Respekt vor dem Engagement der Jugendlichen zu einer Demonstration von Schüler:innen gegen das Projekt Stuttgart 21 gekommen, sagte Wagner im Juli 2014 als Zeuge vor dem Stuttgarter Landgericht. Und als viele Jugendliche wegen des im Schlossgarten beginnenden Polizeieinsatzes dorthin wechselten, sei auch er in den Schlossgarten gegangen.
Zu diesem Zeitpunkt ist Wagner 66 Jahre alt und seit Kurzem Rentner. Die Härte des Polizeieinsatzes überrascht ihn genau wie die Schüler:innen, ein "unwürdiges Schauspiel" sei es gewesen, wie durch immer heftigere Wasserstöße Menschen umgeschossen wurden und übereinanderstürzten. Also breitet Wagner irgendwann die Arme aus – bis er einen stechenden Schmerz spürt, umfällt und bewusstlos wird. Ein Wasserwerferstrahl mit einem Druck von mindestens 16 bar hat ihn frontal im Gesicht getroffen. Zwei Männer heben ihn hoch, stützen ihn, führen ihn aus der Menge heraus. Eine Augenärztin leistet Erstversorgung vor Ort, dann wird Wagner ins Katharinenhospital gebracht, drei Wochen lang stationär behandelt, mehrfach operiert. Sehen wird er nie mehr richtig können – auf einem Auge ist er vollständig erblindet, auf dem anderen beträgt sein Sehvermögen noch gut fünf Prozent. Er ist der am schwersten Verletzte der an diesem Tag mindestens 500 Verletzten – vermutlich mehr.
Das Foto mit Wagner, wie er mit blutenden Augen von den beiden Männern gestützt wird, geht sofort um die Welt, macht die Proteste gegen Stuttgart 21 weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt, wird zu einer traurigen Ikone der Bewegung gegen das Bahnprojekt. Es ist ein Foto, das anzuschauen kaum auszuhalten ist – und vielleicht hat es auch deswegen diese Wirkung und Bedeutung. Man muss nur dieses Bild sehen, um zu erkennen, wie unverhältnismäßig brutal, wie skandalös dieser Polizeieinsatz war, der als "Schwarzer Donnerstag" in die Geschichte der Stadt einging.
Das Foto machte ihn zum Gesicht des Protests
Gemacht hat das Bild der Stuttgarter dpa-Fotograf Marijan Murat. Er fotografiert damals schon lange für die Agentur, doch das Bild mit Wagner bezeichnet er in einem Interview als "eines der wichtigsten Fotos in meiner Laufbahn". Denn die Wellen, die dieses und andere Fotos aus dem Schlossgarten verursachten, dass sie die Medien füllten, bei Pressekonferenzen gezeigt wurden, Demonstrant:innen daraus Plakate und Transparente machten, das habe ihm die Bestätigung gegeben, "durch meine Arbeit aufzuklären und Menschen zum Denken zu bewegen", sagt Murat.
Zum Denken bewegt scheinen nach dem 30. September zunächst viele. Die Demonstrationen gegen das Projekt erreichen in den Tagen und Wochen danach ihre größten Ausmaße, bis zu 150.000 Menschen ziehen durch Stuttgarts Straßen, es kommt zur sogenannten Schlichtung mit Heiner Geißler.
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Jannis
am 06.07.2023