Es geht um viel: Die Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems, Geas genannt, tangiert das Grundsatzprogramm der Partei, die Wahlversprechen und den Koalitionsvertrag der Berliner Ampel. "Wir müssen Entscheidungen mittragen, die wir so selbst niemals treffen würden", bekennt Lena Schwelling, die Landesvorsitzende, in einer vielbeklatschten Rede, "doch wir können uns das Europa nicht aussuchen, zu dem wir uns so leidenschaftlich bekennen, denn es gibt nur das eine."
200 Delegierte sind knapp ein Jahr vor der nächsten Wahl zum Europäischen Parlament am rechten Rheinufer zum Austausch genau über dieses Europa zusammengekommen. Zu viele Redner:innen weichen jedoch aus in Politikprosa zu weniger heiklen Angelegenheiten des Kontinents. "Liegen statt fliegen" von Bordeaux nach Helsinki im Nachtzug möchte beispielsweise die Stuttgarter Europaabgeordnete und Verkehrsexpertin Anna Deparnay-Grunenberg und setzt auf "Veränderungsdruck, um Systeme zu hinterfragen". Ausgerechnet die Grünen-Chefin im EU-Parlament Terry Reintke bedient das Vorurteil um die berühmte, als Symbol für Überregulierung missbrauchte Gurken-Verordnung: "Ich nehme 100.000 Gurkenverordnungen, und werde weiterhin für eine geeinte friedliche europäische Union kämpfen."
Die 35-jährige Politikwissenschaftlerin aus dem Ruhrpott wäre geeignete Ansprechpartnerin für eine zentrale Frage: Wie sie denn gelingen soll, die Nacharbeit im EU-Parlament zu den Asylvereinbarungen, die von der Bundesspitze der Partei, von den Regierungsmitgliedern, angekündigt sind. Wie soll da etwas bewegt werden in der Grundsatzfrage der Abschottung, den Grenzlagern, den haftähnlichen Bedingungen oder dem Anspruch auf Prüfung individueller Asylgründe? Im Vorfeld des Landesparteitags hatte der Stuttgarter Europaabgeordnete Michael Bloss auf die Mehrheitsverhältnisse in Brüssel und Straßburg hingewiesen: Nur 72 der 705 Abgeordneten sind Grüne, und die sind ziemlich allein mit ihren Vorstellungen.
Leere Versprechen fürs gute Gewissen
Gesprächsstoff gäbe es also reichlich, aber auf eine sonderbar blutleere Art verspürt der weit überwiegende Teil der Delegierten kein Bedürfnis, sich im größten innerparteilichen Konflikt zu positionieren, die eigene Meinung zu schärfen, sich mit Argumenten und Fakten zum weiteren Vorgehen zu wappnen. Gerade für die vielen Diskussionen in den eigenen Reihen oder mit den Flüchtlingsunterstützungsgruppen, die so enttäuscht sind von dieser Partei, die angeblich so viel Wert legt auf Transparenz, auf Werte und Diskurs.
Um die Gemüter zu beruhigen, hatte der baden-württembergische Landesvorstand für Kehl eine überarbeitete Passage zur Asylpolitik im umfangreichen Europaantrag vorgelegt. Darin wird das konkrete Versprechen gegeben, sich "im weiteren Verfahren im Trilog zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission für Verbesserungen einzusetzen". Wichtig sei unter anderem, heißt es weiter, "dass Familien mit Kindern grundsätzlich nicht in Grenzverfahren kommen dürfen und Mitgliedstaaten nicht zur Durchführung von Grenzverfahren verpflichtet werden".
Dazu wird auch im Leitantrag die in grünen Kreisen inzwischen etablierte Behauptung immer weiter herumgereicht, dass der EU-Beschluss "ohne den Einsatz von unseren Regierungsmitgliedern ein schlechterer gewesen wäre". Belegt ist das keineswegs, erst recht nicht durch jenen fünfseitigen Brief, den Annalena Baerbock auf wundersame Weise aus "Berlin, den 8. Juni 2023" an alle Bundestagsabgeordneten verschickt hat. Tatsächlich weilt die Bundesaußenministerin zu diesem Zeitpunkt in Kolumbien, und tatsächlich erklärte sie dort, wenig zu wissen über den Stand der Gespräche im so weit entfernten Luxemburg. Umgeworfen wird ihr Reiseprogramm erst, als Deutschlands Zustimmung offiziell ist und sie Mitgliedern und Abgeordneten daheim einiges erklären muss. Vor allem, wie es ein Ja der Bundesregierung geben konnte ohne die Zusage, dass Familien der Aufenthalt in Grenzlagern unter haftähnlichen Bedingungen erspart bleibt.
Kretschmann interessiert sich nicht für Kritik
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann hält sich mit solchen und anderen Details in seiner Parteitagsrede erst gar nicht auf. Im Vorfeld hat er mit einem schrägen Zirkelschluss geglänzt und sein Ja zum Kompromiss schon allein damit erklärt, dass Baerbock bei inakzeptablen Verschärfungen ja niemals mitgemacht hätte. Auf dem Parteitag verlangt er – nicht von sich, sondern natürlich von den Kritiker:innen – rauszukommen aus dem, was er "die Komfortzone" nennt. Draußen in der Schlange vor dem Food-Truck hätte der Regierungschef Widerworte abbekommen, "weil wir uns in den vergangenen Wochen viel anhören mussten", wie ein Delegierter aus Südbaden berichtet, zu den Asylbeschlüssen und zum Thema Heizung. Fazit: "Von wegen Komfortzone." Frage: "Warum darüber nicht offen diskutieren?" Antwort: "Weil es dann gleich wieder heißt, wir würden streiten."
2 Kommentare verfügbar
Jörg Rupp
am 11.07.2023Es ist ja nicht nur Kretschmann, sondern…