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Grüne

Liebesgrüße aus dem Ruhestand

Grüne: Liebesgrüße aus dem Ruhestand
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Die Jüngsten sind sie nicht mehr, meinungsstark aber umso mehr: Bei Bündnis 90/Die Grünen sorgen die ultrapragmatischen "Vert Realos" und der debattierfreudige "Grüne Fächer" für Unruhe.



Baden-Württemberg war nie eine Hochburg linker Grüner. Nun treffen sich alte Bekannte beim Gedankenaustausch im Netz, mit dabei sind: Rezzo Schlauch, Anwalt, ehemaliger Vorsitzender der grünen Bundestagsfraktion und Lobbyist; Klaus-Peter Murawski, bis 2018 Chef der baden-württembergischen Staatskanzlei; die frühere Bundestagsabgeordnete Ursula Eid; der einstige Landesgeschäftsführer der Südwest-Grünen Nikolaus Huss; oder der Stuttgarter Rechtsanwalt Roland Kugler.



Seit bald drei Jahren gibt es jetzt die "Vert Realos", die sich selbst als "wertkonservative Grüne, Grünliberale, grüne Kommunalos, Ökolibertäre, sozialliberale Grüne, vor allem aber Menschen aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft" verstehen. Einbringen will sich die Gruppe mit gehobenem Altersschnitt zu den Themen Klima- und Artenschutz, Wirtschaft, Frieden und Sicherheit, individuelle Freiheit und Toleranz oder eben zur "Steuerung der Migrationen". Bislang hat die Öffentlichkeit noch nicht allzu viel mitbekommen von diesen Bemühungen, auch nicht von der organisatorischen Existenz der rebellierenden Altvorderen. Das soll sich ändern – zum Wohle der Partei natürlich und ganz abseits anderswo üblicher Strukturen, wie etwa der Gründung einer offiziellen Senior:innen-Vereinigung. Der Name "Grüne Alte" ist ohnehin schon vergeben an den Zusammenschluss aktiver Mitglieder im Land über 60, der "besonderen Wert" darauflegt, "die Arbeit für unsere Themen an der Basis anzusetzen", um "am Puls der Zeit" zu bleiben.

Alte Grüne distanzieren sich von jungen Grünen

Neben den "Vert Realos" gibt es noch eine inhaltlich ähnlich aufgestellte Vereinigung, aber der "Grüne Fächer" bleibt eher unter sich. Ein paar Dutzend Mitglieder, darunter Baden-Württembergs ehemaliger Umweltminister Franz Untersteller oder der Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer, erörtern schriftlich dies und das. Die Plattform fordert auf zum Austausch über grundlegende und aktuelle Fragen von Bedeutung "für eine liberale, ökologische und progressive Politik in der Mitte der Gesellschaft". Die Befassung mit sich selbst wird dabei nicht als Tabu angesehen.



Daneben diskutieren die beiden Formationen, die sich auch personell überschneiden, zum Beispiel über Lützerath – und die "Vert Realos" distanzieren sich von jenen Mandats- und Funktionsträger:innen der Partei einschließlich der Grünen Jugend, die vor Ort demonstriert haben. In einem Papier über die Idee eines sozialen Pflichtdienst wird der Verdacht geäußert, die Repräsentant:innen der Grünen hätten vor ihrer schnellen pauschalen Zurückweisung nicht wirklich nachgedacht. Oder: Rezzo Schlauch beklagt, mit der Niederlage von Ex-Wissenschaftsministerin Theresia Bauer bei der Oberbürgermeister-Wahl in Heidelberg hätten die Grünen "ihren Exodus von den OB-Sesseln der wichtigsten Städte im Land" fortgesetzt. Zudem orakelt er über die Zeit ohne den grünen Übervater Winfried Kretschmann. Da nämlich werde die Partei den Fahrstuhl in die tiefer liegenden Stockwerke und womöglich in die Opposition nehmen, "wenn nur noch das möglichst nah an der Partei orientierte grün-glatte Profil der zur Wahl stehenden Kandidaten/innen sichtbar wird und politische Diversität innerhalb des grünen Parteispektrums und streitbare Kreativität weggebügelt werden".



Vielleicht geht es aber gar nicht um streitbare Kreativität, sondern um ein ganz großes Missverständnis, um Hol- und um Bringschuld. Hendrik Auhagen, der 71-jährige Ex-Lehrer vom Kreisverband Konstanz, bemängelt den Niedergang der innergrünen Debattenkultur in der realen Welt, sieht ein großes Bedürfnis nach differenziertem Austausch, den die gegenwärtige Parteirealität nicht genug oder gar nicht biete.

Die Landesvorsitzende rät zum Telefon

Das aber will die grüne Landesvorsitzende Lena Schwelling, nicht Teil des erlauchten Kreises, so nicht stehen lassen. Sehr wohl würden "die relevanten Themen und die Herausforderungen der Zeit" breit debattiert, aber ganz offensichtlich nicht dort, wo sich "Vert Realos" und andere bevorzugt treffen. Die Notwendigkeit, von sich aus aktiv zu werden, kann die 30-Jährige ganz und gar nicht erkennen: "Alle haben meine Handynummer." Wer Gesprächsbedarf habe, könne sie jederzeit kontaktieren. Ursula Eid wiederum, die frühere Nürtinger Bundestagsabgeordnete, sieht gerade in der gegenwärtig heiß diskutieren Flüchtlingspolitik durchaus eine Bringschuld der Parteispitze. Ihr Ortsvereinsvorsitzender habe sich an die Landesvorsitzende gewandt und sie aufgefordert, eine Debatte zu organisieren: "Eine Reaktion kenne ich nicht."

Mit ihrem Memorandum "Für eine andere Migrationspolitik" haben die Vert-Superrealos die bislang größte Aufmerksamkeit erregt. Applaus von der falschen Seite muss da kein Maßstab sein. Bemerkenswert sind sie trotzdem, die Reaktionen aus ganz bestimmten Kreisen, aus der CDU, sogar aus der AfD. So beklagt die mindestens rechtskonservative Plattform "Tichys Einblick" mit Blick auf den Bundesvorstand "die verkümmerte Diskussionskultur der aktuellen Grünen-Elite".
 Zudem müssen sich die Anhänger:innen einer anderen Migrationspolitik an bestimmten Formulierungen und Forderungen messen lassen. Zum Beispiel dann, wenn sie der "aktuell schleichenden Erosion unter dem Banner einer falschen Toleranz entgegentreten" wollen. Deutschland wird zum "bevorzugten Ziel" für viele Migrant:innen erklärt, was aber bei nüchterner Pro-Kopf-Betrachtung der Statistiken noch nie gestimmt hat. Derzeit liegen etwa Österreich, Zypern und Kroatien vor der Bundesrepublik. Gefordert werden außerdem "verpflichtende Aufenthaltszonen" an den EU-Grenzen sowie außerhalb, um dort über die Einreise zu entscheiden.

Asylempfänger haben sich "einzuordnen"

"Dass sich kein Land – auch nicht Deutschland – auf das hohe Ross moralischer Überlegenheit setzen darf", heißt es an anderer Stelle. Dabei sollten gerade Grüne aus ihrer eigenen Parteigeschichte wissen, wie oft diese populistische Floskel von der politischen Konkurrenz benutzt wurde, um die seinerzeitige Alternativpartei bei den Leuten madig zu machen, und das ohne jeglichen gedanklichen Aufwand. So manche Wortwahl im Papier der Ruheständler:innen macht stutzig. Beispiel: Dass sich Asylempfänger "einzuordnen" haben in die "geschichtlich gewachsene gesellschaftliche Ordnung" der Bundesrepublik Deutschland. Die notwendige Botschaft, dass sich anerkannte Asylant:innen an Recht und Gesetz halten sollen, ließe sich gewiss auch ohne Feldwebeltonlage übermitteln.

Wenn schon nicht miteinander, so wird jetzt bei Grünen heftig übereinander debattiert. "Für uns ist es selbstverständlich, dass solche menschenverachtenden Positionen und Werte nicht annähernd Mehrheiten in der Partei finden", sagen die Landessprecherinnen der Grünen Jugend Aya Krkoutli und Elly Reich im Gespräch mit den "Stuttgarter Nachrichten". So gesehen sei das Memorandum "irrelevant, nutzlos und offensichtlich nicht durchdacht". Selbst im "Grünen Fächer" wird die Erkenntnis gewälzt, dass die Positionen auf Landes- und Bundesdelegiertenkonferenzen oder in Vorständen keine Mehrheit haben. Und in jedem Fall offensichtlich wird, dass es da eine Truppe fortgeschrittenen Alters gibt, deren Ansichten eben doch noch nicht so richtig dort aufschlagen, wo sie die "Mitte der Gesellschaft" vermuten.

Bei seiner Wahl im März 2011 hatte Winfried Kretschmann das Gefühl, angekommen zu sein, und "das war einfach überwältigend". Zwölf Jahre später ist davon zu wenig geblieben. Die Verkehrs- und Energiewende ist noch nicht wirklich gelungen, bildungspolitisch hat gerade Baden-Württemberg den Sprung ins nächste Jahrtausend längst nicht geschafft. Multikulti, siehe Berlin, steht massiv unter Druck, Migration und Integration sind Großbaustellen und zugleich zu kompliziert für plakative Papiere.

Es wäre lohnend, sich noch deutlich länger zurückzuerinnern. "Wir wollten das Andere in der Politik", erzählte früher Kretschmann gerne aus den Gründungsjahren: "Wir waren nicht links, wir waren nicht kapitalistisch, wir waren auf der ehrlichen Suche nach einem dritten Weg." Jener der Superrealos ist der wohl kaum.


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5 Kommentare verfügbar

  • Bernulf Schlauch
    am 06.03.2023
    Antworten
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    www.kontextwochenzeitung.de
    "Liebesgrüße aus dem Ruhestand"

    "ultrapragmatisch" : man muß dieses Wort nur mal analysieren
    mit dem Wort pragmatisch wird eine Handlungs- oder Vorstellungsweise wertfrei beschrieben
    mit der Vorsilbe ultra werden diese Grünen, die pragmatisch denken,…
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