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Atomkraft

Verschoben, nicht aufgehoben

Atomkraft: Verschoben, nicht aufgehoben
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Am Silvestertag sollten die drei letzten deutschen Atommeiler Isar 2 (Bayern), Neckarwestheim II (Baden-Württemberg) und Emsland (Niedersachsen) abgeschaltet werden. Doch am 24. Februar begann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine – was das Aus der Kernkraft hinauszögert.

Je weniger Gas im Frühjahr durch die russische Pipeline Nord Stream 1 nach Deutschland strömte, desto lauter wurden die Rufe, die drei Meiler weiter zu betreiben. Atom-Fans aus Union und FDP prophezeiten Blackouts oder gleich die Deindustrialisierung des Landes. Die Grünen argumentierten, dass es keinen "Streckbetrieb" brauche, weil die Meiler nur Strom und keine Wärme produzierten. Erst ein Kanzlermachtwort beendete den ideologisierten Atomdiskurs: Olaf Scholz, ein Verfechter von Nord Stream 2, entschied, dass die AKWs bis 15. April 2023 weiterlaufen.

Dabei ist Strom hierzulande nicht knapp, im Gegenteil: Auch im Energiekrisenjahr hat Deutschland mehr Strom ins Ausland exportiert als importiert. Laut Statistischem Bundesamt lag der Exportüberschuss in den ersten sieben Monaten bei 17,4 Terawattstunden, unterm Strich flossen so Einnahmen von über drei Milliarden Euro ins Land.

Dass Deutschland Überschüsse im Stromhandel erzielt, ist schon seit Jahren so. Was sich verändert, sind die Quellen, aus denen der Strom stammt. Von Jahresbeginn bis Mitte September stieg die Stromerzeugung aus grünen Quellen wie Windkraft und Solarenergie um 10,8 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Kohle, Atomkraft und Gas haben dagegen 4,4 Prozent weniger produziert.

Ausgabe 562, 05.01.2022

Renaissance der Untoten

Von Jürgen Lessat

Mehr Widerspruch geht kaum: Kurz vor Jahreswechsel gingen die drei Kernkraftwerke Brokdorf, Grohnde und Gundremmigen C vom Netz. Zeitgleich will die EU-Kommission die Atomkraft zur nachhaltigen Energieform im Kampf gegen den Klimawandel adeln. Was denn nun?

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Der Stromüberschuss hier ändert allerdings nichts daran, dass das Angebot in Europa knapp ist. Das liegt insbesondere am Ausfall von zeitweilig 33 der 56 Atommeiler in Frankreich. Erstmals seit Beginn der Statistik im Jahr 1990 exportierte Deutschland mehr Strom ins Nachbarland als es Strom von dort importiert. Das Narrativ, dass die deutsche Energiewende von französischem Atomstrom abhängt, entpuppte sich als Märchen. Letztlich trug das französische Atom-Fiasko dazu bei, dass die drei deutschen Meiler weiterlaufen. Die Sanierung des AKW-Parks in Frankreich wird derweil auf 50 Milliarden Euro beziffert.

Absurd muten da jüngste Aussagen von Frankreichs Wirtschaftsminister Bruno Le Maire an: Trotz Pleiten und Pannen prognostizierte er eine Rückkehr aller großer Industrienationen, einschließlich Deutschlands, zur Atomkraft. Doch bislang wollen nur die Holländer neue Anlagen bauen, um unabhängiger von fossilen Brennstoffen aus Autokratien wie Russland zu werden. Zwei Meiler sollen bis 2035 an der belgischen Grenze fertiggestellt sein.

Ein riskantes Vorhaben, weil sich Atomprojekte stets zu Desastern entwickeln. Etwa Olkiluoto 3: der dritte Reaktor des finnischen Atomkraftwerks sollte ursprünglich 2009 in Betrieb gehen. Es kam zu Verzögerungen, die Baukosten vervierfachten sich auf 11 Milliarden US-Dollar. In diesem Dezember hätte er regulär Strom produzieren sollen. Vor kurzem kündigte der Betreiber TVO an, dass man frühestens im Februar 2023 damit beginnen könne. Grund sind Risse, die laut Experten erst nach 20 Betriebsjahren hätten auftreten dürfen.

Ähnlich schief läuft es bei Hinkley Point C in Großbritannien. Das Projekt liegt bereits um etwa 8 Milliarden US-Dollar über Plan und hat sich verzögert, nach Angaben des Erbauers, dem staatlichen französischen Energiekonzern EDF, vor allem wegen der Covid-19-Pandemie. Inzwischen sollen die zwei Meiler bis zu 30 Milliarden US-Dollar kosten und 2027 fertig sein.

Auch das französische Projekt Flamanville 3 hat sein ursprüngliches Budget um ein Vielfaches auf 13,2 Milliarden Euro überschritten. Bei Ankündigung im Jahr 2004 war von 3 Milliarden Euro Kosten die Rede, die Inbetriebnahme sollte 2012 erfolgen. Vor wenigen Tagen kündigte die EDF an, ihn im ersten Quartal 2023 in Betrieb zu nehmen.

Kostenexplosionen, Bauzeitverzögerungen und die ungelöste Endlagerfrage – kein Thema für die World Nuclear Association. Laut dem Lobbyverband sind derzeit weltweit 437 Reaktoren in Betrieb und 60 weitere in Bau. 204 Meiler wurden bislang stillgelegt. In 2022 gingen 6 Meiler neu ans Netz, zwei in China, je einer in Pakistan, Finnland, Südkorea und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Baustart war für 8 Reaktoren, fünf in China, zwei in Ägypten und einer in der Türkei. Vier Reaktoren wurden abgeschaltet, drei in Großbritannien, einer in den USA. Atomkraftwerke liefern derzeit zehn Prozent des weltweiten Stromproduktion.

Mittlerweile fordern Abgeordnete von Union und FDP den Weiterbetrieb der deutschen AKWs über den April 2023 hinaus, manche sogar den Neubau von Atommeiler. Die Internationale Energieagentur IEA sieht die Zukunft anders. "Die Welt wird in den nächsten fünf Jahren so viel Strom aus erneuerbaren Energien zubauen wie in den 20 Jahren zuvor", so IEA-Direktor Fatih Birol. "Dies ist ein klares Beispiel dafür, dass die aktuelle Energiekrise ein historischer Wendepunkt hin zu einem saubereren und sichereren Energiesystem sein kann. Die fortgesetzte Beschleunigung der erneuerbaren Energien ist entscheidend, um die Tür zur Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5 °C offen zu halten."


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