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Studie Ergänzungsbahnhof

Stuttgart 2040

Studie Ergänzungsbahnhof: Stuttgart 2040
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Wunder gibt es immer wieder: Baden-Württembergs CDU hat sich selbst und der Welt eingestanden, dass die Verheißungen zur Leistungsfähigkeit von S 21 unerfüllbar sind. Das verschafft Verkehrsminister Winfried Hermann neue Freiheiten.

Wie beim Koalitionspartner die Erkenntnis gewachsen ist, "dass wir neue Optionen brauchen", darüber freut sich Winfried Hermann, der grüne Verkehrsminister. Ohne aufzutrumpfen sagt er das, ohne besserwisserischen Rückblick nach dem Motto "Wir, die S21-GegnerInnen, haben es immer schon gewusst". Schließlich ist das neue Band der Sympathie in dieser Landesregierung noch nicht wirklich belastbar, es wäre ja nicht das erste Mal – Stichwort: Landtagswahlrecht –, dass die CDU Koalitionsverträge bricht.

Auch deshalb wollen die Grünen schnell Nägel mit Köpfen machen und vor allem den sperrigen Stuttgarter OB Frank Nopper und die skeptischen eigenen ParteifreundInnen mit ins Boot holen. "Die Stadt hat zurecht den Anspruch, das Gleisfeld zu bebauen. Das akzeptieren wir voll und ganz, deshalb hat sie investiert in das Projekt", gibt sich Hermann am vergangenen Dienstag, bei der Präsentation der Machbarkeitsstudie zum heiß diskutierten Ergänzungsbahnhof für S 21, eine Steilvorlage – um sie selber sofort zu nutzen. Denn: Durch die neue, heftig diskutierte Station würden keine Gebäude oder gar geplante Wohnungen verhindert. "Der Einwand, 6.000 Einheiten könnten nicht gebaut werden, ist viel zu pauschal", stellt der Minister fest.

Viele der vorgestellten Details werden jetzt monate-, wenn nicht noch jahrelang die Fachleute beschäftigen, die zentralen Botschaften beschäftigen hingegen die ProjektpartnerInnen und die interessierte Öffentlichkeit. Ihnen zufolge ist die Nahverkehrsergänzungsstation, wie der Zusatzbahnhof im Koalitionsvertag heißt, technisch wie baulich umsetzbar. In der gewählten Tieflage gibt es keine schwerwiegenden oder unüberwindbaren Beeinträchtigungen von Städtebau und Umweltbelangen. Alle drei Zulaufrichtungen können mit technisch guten Lösungen an die Ergänzungsstation angeschlossen werden, von Feuerbach, von Bad Cannstatt aus Stuttgart-Vaihingen über die Panoramabahn, die zudem bei Störungen im Tunnel hoch zum Flughafen eine Schlüsselfunktion bekommen soll. Damit dann nicht nur Nahverkehrszüge oder S-Bahnen im Ergänzungsbahnhof ein- und ausfahren können, sondern auch der Fernverkehr seinen Weg in den Talkessel findet.

S-21-GegnerInnen sind wenig begeistert

Kopfbahnhof-BefürworterInnen wird keines dieser Argumente überzeugen. Sie kritisieren scharf, dass der Begriff Klima in der gesamten Studien nicht ein einziges Mal vorkommt. Sie wollen die leistungsfähigen oberirdischen Gleise behalten. "Seit mehr als 100 Jahren funktioniert der Stuttgarter Kopfbahnhof vorzüglich", so Werner Sauerborn vom Aktionsbündnis Gegen S 21 und mit Blick auf die Ergänzung: "Wenn Mist gebaut wird, ist die Lösung ja nicht, noch mehr Mist zu bauen." Für Hermann, wiewohl selbst Gegner der ersten Stunde, ist aber dieser Zug schon abgefahren. Er will jetzt den Koalitionspartner bei der Stange halten sowie die Bahn, die Region, den Stuttgarter Gemeinderat und nicht zuletzt den Bund überzeugen. Denn der soll 75 Prozent bezahlen.

Die Konstruktion ist tricky und elegant zugleich. Die neue Station soll kein Teil von Stuttgart 21 werden, sondern dient, wie der Langname schon sagt, dem Nahverkehr. Also: läuft – jedenfalls im Idealfall aus Sicht von Land, Region und Stadt – die Realisierung über das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz. Noch ein aussagekräftiger Langname, denn eigentlich heißt es: Gesetz über Finanzhilfen des Bundes zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse der Gemeinden. Und genau darauf zielt Hermann mit seinem Bemühen, den Blick über den eigentlichen Tiefbahnhof hinaus zu weiten.

Selbst wenn der Tiefbahnhof – wie die Bahn behauptet – den Deutschlandtakt schaffen würde, wären alle weiteren Kapazitäten erschöpft und der Eisenbahnknoten 2040, dessen Entwicklung im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist, schnell an seine zu engen Grenzen gestoßen. Würde aber der Bund seinen eigenen Anteil stemmen, müssten Land, Region und Stadt gerade noch 25 Prozent bringen. "Verteilt über Jahre", sagt der frühere Vorsitzende des Bundestagsverkehrsausschusses Winfried Hermann, "ist das auf jeden Fall machbar."

Stuttgart zeigt dem Land die kalte Schulter

Überhaupt ist Zuversicht Trumpf. Zu den nächsten Schritten zählt, ein Betriebskonzept und den volkswirtschaftliche Nutzen zu belegen. Wie die ExpertInnen im Verkehrsministerium ausdrücklich betonen, bemisst sich der Nutzen jedoch nicht allein an der Zahl der ein- und ausfahrenden Züge, sondern mit daran, welche verkehrlichen Effekte ausgelöst werden. Allen, die die Planungen zügig vorantreiben wollen, spielt in die Hand, dass sich die parlamentarische Opposition und sogar die FDP den Ausbau des Nahverkehrs auf die Fahnen geschrieben haben.

Nicht von ungefähr schlägt Minister Hermann den Bogen zum vielbeachteten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz. Nur zu gut kennt er seine Pappenheimer von der schwarzen Bremsfraktion: Oft genug hat er erlebt, dass CDU-VerkehrspolitikerInnen im Landtag noch immer nicht davon lassen können, Ideen nur deswegen zu attackieren, weil sie von den Grünen kommen. Und die FDP verlangt nach "harten Fakten statt diffuse Wunschvorstellungen".

Die Gesamtkosten der Anschlüsse in die drei Richtungen sind mit rund 785 Millionen Euro berechnet, wobei 262 davon auf unterstellte Steigerungen entfallen. Die Planungszeit wird mit sechs, die Bauzeit mit weiteren sechs bis sieben Jahren angegeben. Der Verkehrsminister möchte erreichen, dass jenes Zeitfenster genutzt wird, in dem das Gleisfeld abgebaut sind, die Stadt aber mit allen weiteren Arbeiten noch nicht begonnen hat, auch wenn er selber dann vermutlich schon in Pension ist.

Ob derartige Abläufe überhaupt jemals konkret diskutiert werden, hängt stark an der grünen Überzeugungsarbeit der kommenden Monaten. Am Dienstag nach der Präsentation lässt sich ein Sprecher der Stadt, dem Land die kalte Schulter zeigend, jedenfalls zitieren mit dem Satz: "Wir haben bei der ersten Durchsicht feststellen müssen, dass zentrale Aspekte, die wir in das Verfahren eingebracht haben, fehlen." Die Kontext-Nachfrage, um welche es sich dabei handelt, harrt noch der Antwort.
 

Die komplette Machbarkeitsstudie und weitere Anliegen gibt's hier.


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22 Kommentare verfügbar

  • Hayo Poetzsch
    am 19.06.2021
    Antworten
    Neuer Ergänzungsbahnhof zum Tiefbahnhof?
    Diese absurde Idee bitte nicht nach Berlin durchsickern lassen, solange Frau Merkel noch im Amt ist, sonst bekommt dieser Bahnhof auch noch den Stempel der Alternativlosigkeit aufgedrückt. Wir haben doch (noch) alles, was wir für einen perfekten…
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