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Der potenzielle Delinquent

Der potenzielle Delinquent
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Die Staus an der Grenze zu Frankreich sind derzeit kilometerlang, die Gegend rund um das mondäne Seebad Biarritz, Bühne des G7-Gipfels am Wochenende, gleicht einem Hochsicherheitstrakt. Ein Mitarbeiter von Radio Dreyeckland wurde aus dem Land geworfen.

Die Menschen, die in Biarritz leben, nennen ihre Stadt und die Region drumherum momentan einen "Bunker". 10 000 Polizisten wurden an die Atlantikküste verlegt, um den Gipfel der Staats- und Regierungschefs der sieben führenden Industrienationen (Russland gehört nicht mehr dazu) zu schützen. Das Heer wurde mobilisiert, die Luftwaffe und die Marine. Sogar Boden-Luft-Raketen sind auf den grünen baskischen Hügeln installiert worden.

Auf der Gegenseite treffen seit Montag Menschen aus ganz Europa im Protestcamp am Rand der französischen Grenzstadt Hendaye ein. Das Camp wurde mithilfe lokaler Behörden durchgesetzt, unterstützt von Bürgermeister Kotte Ezenarro, der genervt ist von der Angstmacherei vor den Demonstranten durch die Sicherheitsbehörden. Es ist für Ezenarro "verrückt", den G7 hier durchzuführen, noch dazu mitten im Urlaubshochsommer. Er will als "Privatmann" an den "interessanten Debatten" teilnehmen.

Im Camp werden bis zum Wochenende des G7-Gipfels, vom 24. bis zum 26. August, zwischen 5000 und 10 000 Menschen leben, protestieren und auf dem Gegengipfel debattieren. Der wird in Hendaye und auf der anderen Grenzseite auf dem Messegelände Ficoba in Irun von Mittwoch bis Samstag stattfinden. Er endet mit einer internationalen Großdemonstration über die streng kontrollierte Grenze hinweg. Vorher soll auf 40 Veranstaltungen und 70 Workshops über Alternativen zu G7 und deren neoliberale Politik gesprochen werden, die von den USA, Kanada, Japan, Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien vorangetrieben wird.

An Händen und Füßen gefesselt

Letztlich kann daran wohl auch Luc (sein voller Name ist der Redaktion bekannt) teilnehmen. Der freie Mitarbeiter von Radio Dreyeckland (RDL) in Freiburg befindet sich erneut auf dem Weg durch Frankreich zum Gegengipfel. Bis Redaktionsschluss am vergangenen Dienstagabend war aber noch unklar, ob er überhaupt bis dorthin durchkommt.

Bereits am 8. August geriet Luc in der Nähe der französischen Stadt Dijon, wo er derzeit wohnt und arbeitet, in eine Polizeikontrolle. Er wurde sofort festgenommen, in eine Abschiebezelle gesperrt und fast 24 Stunden später nach Deutschland abgeschoben. "Mit Hand- und Fußfesseln versehen, wurde ich mit 160 Kilometern pro Stunde mit Blaulicht nach Kehl gefahren und dort abgesetzt", sagt er. Gedroht wurde ihm mit einer dreijährigen Haftstrafe, sollte er vor dem 29. August, also vor oder während dem Gipfel, französischen Boden betreten. Denn sein Name steht auf einer der Listen, auf denen unter "Politisch Motivierte Kriminalität Links (PMK Links)" sogenannte "Störer" oder "Gefährder" geführt werden.

Die Informationen über ihn stammen mit großer Wahrscheinlichkeit vom Bundeskriminalamt, das verschiedene Gefährder-Listen führt. Es war zu erwarten, dass das BKA sie vor dem G7 an die französischen Behörden übermitteln würde. Offenbar folgt Frankreich einem Vorgehen, wie man es schon vom G20-Gipfel in Hamburg her kennt. Dort wurde Journalisten eine zuvor erteilte Akkreditierung wieder entzogen (Kontext berichtete). Aufklärung? Fehlanzeige. Nachdem weder das Bundeskriminalamt noch das Bundespresseamt plausible Gründe für dieses Vorgehen nennen konnten, klagten betroffene Journalisten. Aber auch nach fast zwei Jahren wurde am Verwaltungsgericht in Berlin dazu nichts entschieden.

Rauswurf war illegal

Im Fall von Luc ging zumindest die vorübergehende Klärung in Frankreich deutlich schneller. Seine Anwältin Muriel Ruef erzwang vergangene Woche eine Eilentscheidung vor dem Verwaltungsgericht in Paris. Dabei stellte sich heraus, dass das Vorgehen der französischen Behörden und der Beschluss des dortigen Innenministeriums illegal waren. Dem RDL-Mitarbeiter wurde eine Entschädigung von 1000 Euro zugesprochen – ein "kleiner Erfolg", wie er sagt, auch gegen Frankreichs Innenminister Christophe Castaner.

Im Verfahren erfuhr die Anwältin, dass aus dem Innenministerium bereits ein neuer Beschluss gegen ihren Mandanten Luc vorliegt. Der versuchte zunächst in Kehl bei der deutschen Polizei Näheres zu erfahren, dann auf der Polizeistation in Straßburg. "Die Beamten erklärten mir nur, dass nichts gegen mich vorliegt", erzählt er. Also machte er sich erneut auf den Weg quer durch Frankreich – zunächst nach Dijon, um sich bei seinem Arbeitgeber zu melden, denn seinen Arbeitsvertrag konnte er seit seiner Abschiebung nach Deutschland nicht mehr erfüllen. Ob er je in Biarritz ankommen wird? "Nach Ansicht meiner Anwältin habe ich aber nun genug getan, um die Lage zu klären", sagt er.

Nur ein Bluff?

Bleibt die Frage, ob der zweite Beschluss des Innenministeriums nur ein Bluff war, eine Maßnahme zur Einschüchterung, um den RDL-Mitarbeiter doch noch an einer kritischen Berichterstattung zu hindern? Für das freie Radio stand das fest. Der Freiburger Sender hatte deshalb "aufs Schärfste" gegen die Maßnahme protestiert. Die RDL-Redaktion erinnert der Vorfall "fatal" an die Vorgänge beim G20-Gipfel in Hamburg. Sie hat sich mit einer umfassenden Frageliste an die französischen Behörden gewandt.

Für RDL zeigt sich daran, wie willkürlich gegen missliebige Personen vorgegangen werde, die Unschuldsvermutung nichts mehr gelte und Grundrechte wie die Freizügigkeit für EU-Bürger ausgehebelt würden, wenn diese, aus welchen Gründen auch immer, auf einer "Schwarzen Liste" stehen. Im Fall von Luc sei im ersten französischen Beschluss lediglich ausgeführt worden, er sei "verdächtig", beim G20-Gipfel in Hamburg Straftaten verübt zu haben. Dazu komme, dass er vor eineinhalb Jahren in der Nähe des geplanten französischen Endlagers Cigéo für hochradioaktiven Atommüll in Lothringen in eine Polizeikontrolle geraten sei, wo seine Personalien aufgenommen wurden, als er für RDL über den Widerstand gegen das Endlager berichtete. "Das war mein erster Kontakt mit der französischen Polizei mit Kontrolle der Personalien überhaupt", sagt er.

Experten vom "Institut für Bürgerrechte & öffentliche Sicherheit" an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität in Berlin haben immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass auf Schwarzen Listen nicht nur "Gewalttäter" oder "Straftäter" geführt werden, sondern auch Beschuldigte, Verdächtige oder "sonstige Personen". Es genüge sogar eine "Prognoseentscheidung", um jahrelang in diesen Listen gespeichert zu bleiben. Und die reiche aus, um aus einem EU-Mitgliedsland geworfen zu werden, in dem man gemeldet ist und arbeitet.

Update, 22.8.2019: Am Mittwochabend wurde Luc erneut verhaftet und später zum zweiten Mal nach Deutschland ausgewiesen.


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1 Kommentar verfügbar

  • Michael
    am 21.08.2019
    Antworten
    Und warum gehen gegen diese Überwachungsmaschinerie nicht die Massen auf die Straße? In einem Land, das geheime staatliche Sicherheitspolizeien ertragen musste, wo Bespitzelung nicht erst in der DDR zu massenhaften Menschenrechtsverletzungen führte, da sollte die Hellhörigkeit angesichts von…
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