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S-Bahn Stuttgart

Die Geisterbahn

S-Bahn Stuttgart: Die Geisterbahn
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Nach dem Eindruck vieler Fahrgäste wird die Stuttgarter S-Bahn immer unzuverlässiger. Das Bauchgefühl erweist sich als wahr. Die Linie S62 fällt sogar so oft aus, dass manche an ihrer Existenz zweifeln. 

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Im August 2024 hatte die Stuttgarter S-Bahn einen starken Monat: Das Pünktlichkeitsziel wurde nur knapp verfehlt. So knapp wie sonst fast nie in den letzten zehn Jahren. Wobei sich allgemeine Aussagen über die Zuverlässigkeit der S-Bahn als etwas kompliziert erweisen. Denn der Betreiber, die Deutsche Bahn Regio (DB), operiert mit zwei verschiedenen Pünktlichkeitsdefinitionen. Die strengere wertet aus, wie viele Züge weniger als drei Minuten Verspätung hatten. Weil es da aber ganz düster aussieht, gibt es daneben noch die sogenannte Sechs-Minuten-Pünktlichkeit, bei der fünf Minuten und 59 Sekunden Verspätung noch nicht als Verspätung gelten. Für die erste Variante strebt die DB eine Pünktlichkeitsquote von 94,5 Prozent an, für die zweite 98 Prozent.

Diese Zielwerte werden im Jahresdurchschnitt seit über einem Jahrzehnt konsequent verfehlt – aber zumindest bei der Sechs-Minuten-Pünktlichkeit gab es Jahre, in denen es relativ knapp war. Weil die Pünktlichkeit der Stuttgarter S-Bahnen schon 2013 von vielen als unzureichend empfunden wurde, reagierte die Politik mit einem S-Bahn-Gipfel. Das Format wurde dann vier Mal wiederholt, nach dem fünften und letzten Gipfel im Juli 2017 bejubelte der Verband Region Stuttgart einen "Aufwärtstrend". Laut einer Pressemitteilung sei die S-Bahn dank der Bemühungen nun wieder stabiler und zuverlässiger. So hieß es damals: "Störanfälligkeit und Verspätungen der S-Bahn haben offensichtlich das tiefste Tal durchschritten." Seither gab es keine weiteren Krisengipfel – und die Stuttgarter S-Bahn hat in der Zwischenzeit sämtliche Negativrekorde gerissen. Seit 2020 geht der Trend steil bergab, subjektiv und objektiv.
 


So ergab eine Fahrgastbefragung 2023, dass die Reisenden die Pünktlichkeit der S-Bahn im Schnitt mit der Schulnote 3,6 bewerten. Die Pressemitteilung der DB stellt dazu fest: "Im Vergleich zum Vorjahr haben sich mit Ausnahme der Sauberkeit alle Werte verschlechtert und bleiben zum Großteil unter der Zielnote von 2,5." Das Bauchgefühl vieler Passagiere, wonach es immer schlimmer wird, erweist sich als wahr: Mit Blick auf das vergangene Jahrzehnt entpuppt sich die S-Bahn tatsächlich als immer unzuverlässiger, was "sowohl für Fahrgäste als auch für alle Beschäftigten im Bereich der S-Bahn frustrierend" sei, wie die Bahn selbst schreibt. Tiefpunkt war der November 2023, wo die Quote bei der Drei-Minuten-Pünktlichkeit nicht bei den angestrebten 94,5 Prozent lag, sondern bei 56,6 Prozent. 

Insgesamt gab es seit 2015 nur zwei Monate, in denen der Zielwert erreicht wurde. Zuletzt häuften sich die Monate, in denen er nicht knapp, sondern drastisch verfehlt wurde. Wie etwa mit 57,8 Prozent im vergangenen April, dem zweitschlechtesten Monat in der Geschichte der Stuttgarter S-Bahn. Im Vergleich zu den gegenwärtigen Zuständen wirkt der Ausgangspunkt von 2013, auf den eine Serie von Krisengipfeln folgte, geradezu paradiesisch – damals hatten 86,2 Prozent der S-Bahnen weniger als drei Minuten Verspätung, 2024 waren es nur noch 73,4 Prozent. 

Und dann kam die Pofalla-Wende

Bei der ganzen Misere kommt als Facette noch hinzu, dass Statistiken der Deutschen Bahn seit der sogenannten Pofalla-Wende durch einen frechen Trick aufgehübscht werden. Zurück geht der Begriff auf den früheren CDU-Bundestagsabgeordneten Ronald Pofalla, der zwischen 2017 und 2022 als Vorstand bei der Bahn für deren Infrastruktur verantwortlich war – und es ist kein Begriff, den nur dezidierte Bahnkritiker:innen verwenden, sondern auch der Bundesrechnungshof.

Der definiert das Prinzip in einem Bericht von 2022 so: "Züge, die vor dem Erreichen des Zielbahnhofs eine nicht mehr einholbare Verspätung haben, stoppt die DB AG an einem Zwischenhalt und lässt sie umkehren. Die ausgefallenen Halte dieser verspäteten Züge lässt die DB AG nicht in die Pünktlichkeitsstatistik einfließen. Daraus ergibt sich rechnerisch eine bessere Pünktlichkeitsquote. Für die Reisenden hat dieses Vorgehen gravierende Nachteile, da ein Teil ihrer Zugfahrt entfällt." Allerdings habe selbst dieser Versuch, die Statistik besser aussehen zu lassen, nur befristet für Abhilfe gesorgt und ab 2021 habe sich die Pünktlichkeitsquote weiter verschlechtert. 

Diese Aussagen beziehen sich auf den Fernverkehr, doch das Prinzip gilt auch auf regionaler Ebene. Ebenso sind die vom Rechnungshof geäußerten "Zweifel daran" übertragbar, "wie transparent die Pünktlichkeitsquoten sind und ob sie die Zuverlässigkeit des Fernverkehrs realistisch widerspiegeln". Soll heißen: Es wird auf Kosten der Reisenden eine Statistik schöngefärbt, die hinterher immer noch beschissen aussieht und die selbstgesetzten Ziele trotzdem verfehlt.

In Stuttgart mit der S1 zu fahren, ist inzwischen so traumatisch, dass es seit diesem März einen Horrorcomic gibt, der reale Erlebnisse als Inspiration verwendet ("Stuttgarter Schocker: Schrecken der S1", Kontext berichtete). Allerdings ist die S1 mit Blick auf die Statistik noch nicht einmal die schlimmste Linie – diese zweifelhafte Ehre gebührt der S3. Aber vermutlich geht es sogar noch schlechter. Denn in der Verspätungsstatistik wird die Linie S62 gar nicht ausgewiesen – und die ist meist das erste Opfer, wenn es Personalengpässe gibt, also eigentlich fast immer. 
 


Erst im September 2022 ging die Linie an den Start, als Expressverbindung zwischen Weil der Stadt und Stuttgart (die reguläre S6 braucht auf der Strecke sechs Minuten länger). Nach nur zwei Wochen Betrieb war erstmal wieder Schluss, weil der Bahn Lokführer:innen fehlten und die S62 offenbar als entbehrlichste Linie eingestuft wird. Offiziell fährt die S62 schon längst wieder. Doch auf Reddit fragen sich Stuttgarter:innen, ob sie vielleicht nur ein Mythos ist? Ein Nutzer bekräftigt: "Ja tatsächlich schon einigemale in der S62 gesessen – aber ja sehr selten und würde behaupten das sind <10% dass die fährt." Allerdings gibt es ja auch Leute, die behaupten, den Yeti gesichtet zu haben.

Die Seite s-bahn-chaos.de dokumentiert Missstände in der baden-württembergischen Landeshauptstadt, hat phasenweise auch ausgefallene S-Bahnen anhand von Echtzeitverkehrsdaten erfasst, bevor es zu Problemen mit der Datenquelle kam. Aus dem Archiv ist allerdings ersichtlich, dass an einigen Tagen von 13 geplanten Fahrten der S62 alle 13 ausgefallen sind – dank der Pofalla-Wende gilt das aber nicht als Verspätung. 

Sollte da trotzdem noch ein zaghafter Restoptimismus verbleiben, dass es ja vielleicht auch wieder besser werden könnte, so zerstört Baden-Württembergs grüner Verkehrsminister Winfried Hermann alle träumerischen Illusionen – denn im Zuge der Arbeiten an Stuttgart 21 steht noch so manche Zumutung bevor. Diesen Mai kündigte Hermann an: "Bei Baustellen und Streckensperrungen haben wir klare Informationen, dass es im nächsten Jahr auf keinen Fall besser wird." Und: "Das Leiden an Stuttgart 21 für die Fahrgäste wird noch eine Stufe höher sein." Keine Rede mehr davon, dass das tiefste Tal offensichtlich durchschritten sei. Liebe Fahrgäste, machen Sie sich auf das Schlimmste gefasst.

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1 Kommentar verfügbar

  • Helga Stöhr-Strauch
    vor 13 Stunden
    Antworten
    Ein Gruß in die alte Heimat und einen eher zweifelhaften Trost für Alle, die an der Politik des Konzerns Bahn verzweifeln: eine der meist befahrenen Pendlerstrecken zwischen Brandenburg/Havel und Berlin wird derzeit repariert und der intransparent ausgeschilderte und leider auch nur begrenzt…
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