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Nahverkehr Stuttgart vs. Wien

Sogar die Rolltreppen sind schneller

Nahverkehr Stuttgart vs. Wien: Sogar die Rolltreppen sind schneller
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Im Oktober hat Nelly Rommel ihr Praktikum bei Kontext begonnen. Es hat Spaß gemacht zusammenzuarbeiten, doch schon ist die Zeit rum und die 19-Jährige muss wieder zurück nach Wien. Zum Abschied erklärt sie, warum sie dabei auch ein lachendes Auge hat.

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Zwei Monate war ich jetzt in der Kontext-Redaktion Praktikantin, habe meine ersten Artikel recherchiert und verfasst – es war toll. Nun geht es wieder nach Hause, nach Wien, und noch nie habe ich mich auf die Wiener Öffis mehr gefreut als jetzt. Jeden Morgen stehe ich gegen neun Uhr auf dem Bahnsteig des Nordbahnhofs und warte auf die S-Bahn in den Stuttgarter Westen. Gleich am ersten Arbeitstag laufen über die halbe Anzeigetafel weiße Banner: Zug zu spät, Zug fällt aus, dazu gibt es jede halbe Minute eine neue Durchsage.

In der zweiten Woche meines Praktikums fallen drei S-Bahnen hintereinander aus. Als ich über den Lautsprecher höre, das sei wegen Krankheitsfällen des Personals, muss ich lachen. In Wien habe ich so etwas noch nie gehört. Wien ist im Vergleich zu Stuttgart ein Bus- und Bahn-Schlaraffenland. Wenn ich in Stuttgart zehn Minuten auf die U-Bahn warten muss, wünsche ich mich zurück nach Wien, wo ich mich ärgere, wenn die U-Bahn erst in fünf Minuten kommt. Fünf Minuten?! Gab es einen Unfall oder was?

Rätselhaft ist mir in Stuttgart bis zum Schluss geblieben, warum die Bahnen der SSB vorne drauf ein U haben, aber Stadtbahn heißen. Unsere U-Bahnen sind wirklich U-Bahnen und keine teils durch Tunnel fahrende, lahme Straßenbahnen. Sogar die Rolltreppen (Fachwort Fahrtreppen) sind in Wien schneller unterwegs als in Deutschland: Wien 0,65 Meter pro Sekunde, Deutschland 0,5 Meter pro Sekunde.

Auch preislich ist Wien klar Vorreiter. Würde es das Deutschlandticket nicht geben, hätte ich als Person, die nicht studiert, für zwei Monate 160 Euro für die Öffis in Stuttgart zahlen müssen. Für die Stuttgarter:innen vielleicht ganz normal, ich aber bin aus allen Wolken gefallen. In Wien würde ich für den gleichen Zeitraum 100 Euro zahlen, eine Jahreskarte kostet nur 365.

Hinzu kommt, dass Stuttgart die verwirrendsten (Charlottenplatz), hässlichsten (Stadtmitte, Wilhelmsplatz Cannstatt) und meisten Haltestellen hat, die einfach Baustellen sind (Hauptbahnhof, Staatsgalerie).

Wiener Grant

Auch in Wien gehört das Mosern über die Öffis zur Tagesordnung. Ein gängiges Mantra der Wiener:innen ist zum Beispiel, dass die Rolltreppen so gut wie nie funktionieren. Tatsächlich tun sie das aber zu 97 Prozent der Zeit.

Natürlich läuft nicht alles perfekt in Wien. Auch die Wiener Linien – so der offizielle Name – haben mit Personalmangel zu kämpfen, im vorigen Jahr wurden die Intervalle deswegen verlängert, auch Verspätungen gab es deshalb. Doch seit Anfang 2023 sind die Intervalle wieder auf den Normalbetrieb umgestellt worden. Auf der Strecke der U6, die zu vergleichen ist mit der Stammstrecke S1, fährt zu Stoßzeiten alle drei Minuten eine U-Bahn. Was in Wien die Krise des öffentlichen Nahverkehrs war und die Wiener:innen besonders grantig (verärgert) gestimmt hat, ist in Stuttgart ein ganz normaler Dienstag.

Außerdem haben die Wiener Linien einfach Charakter. Die U6, die von Floridsdorf nach Siebenhirten fährt, bezeichnen manche als versandelt (wienerisch für heruntergekommen), sie wurde für ihre eher weniger erträglichen Gerüche bekannt, was zu einem Ess- und Trinkverbot in allen U-Bahnen führte. Die U4 ist bekannt für den Bier-Kavalier, einen älteren Fahrgast, der dort regelmäßig Frauen auf ein Bier einlädt und auch mal von wütenden Partnern eine reingehauen bekommt.

Hinzu kommen die schnuckeligen alten Straßenbahnen des Typs E2 von 1978 und die netten Sprüche, die zu besonderen Tagen über die Anzeigetafeln laufen: am Tag der Pride Parade zum Beispiel "We ride with Pride!". Die Fahrer:innen haben außerdem coole Uniformen, die ein bisschen wie Adidas-Anzüge ausschauen. Und außer den Security-Leuten der Wiener Linien finde ich alle Mitarbeiter:innen sehr freundlich.

Im Wiener Linien-Shop werde ich, bekennende Antikapitalistin, zum totalen Konsumopfer. Ob ein Armband mit Bim-Haltestellenschild (Bim ist wienerisch für Straßenbahn) oder jedes Fahrzeug der Wiener Linien in Miniversion für die Modellbahn. Ich besitze bereits die an Adiletten angelehnten Wiener Letten, bald will ich mich mit einem T-Shirt mit Bim-Piktogramm als Wiener-Linien-Fan outen. Fußball interessiert mich nicht, ich bin Öffi-Patriotin. Aber nicht in Stuttgart.

Natürlich ist es nett, nun bald die Verwandtschaft und Freund:innen wiederzusehen, doch am meisten freue ich mich, wieder in einem der flitzigen orangenen U-Bahnwagen zu sitzen. Ich werde auf der längsten Rolltreppe bei der Zippererstraße (53 Meter) fahren und mir im Wiener-Linien-Shop endlich das Armband mit dem Bim-Haltestellenschild kaufen, der Familie schenke ich zu Weihnachten eine Keksdose mit dem U-Bahnnetz drauf. Hoffentlich komme ich früh genug fürs Weihnachtsshoppen in Wien an: Nach Hause fahre ich mit der Deutschen Bahn ...

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5 Kommentare verfügbar

  • Markus Weidmann
    am 14.12.2023
    Antworten
    Ein Freund von mir fährt regelmäßig nach Wien. Er fährt bis München mit der DB, ab dort mit ÖBB. Sei zuverlässiger und bequemer, und das Personal sei viel lockerer.
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