KONTEXT:Wochenzeitung
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Der Hölle so nah

Der Hölle so nah
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Datum:

Die Stadtbahnhaltestelle "Staatsgalerie" wird wegen der querenden S-21-Gleise angehoben und verlegt. Der Neubau aber wird und wird nicht fertig. Deshalb muss die alte Haltestelle, der Zugang zu Baden-Württembergs Kunstmuseum, eingeschränkt weiter betrieben werden. Man kann ihr beim Verfall zusehen.

Uhhh! Ahhhh! Ohhh und: SEUFZ! Sollen wir da jetzt wirklich runtergehen? Sollen wir wirklich diese verpfützte Treppe nehmen – Platsch, Platsch, Platsch! –­, die in einem langen, schmalen und schummrigen Betonschacht mündet, dessen Ende noch nicht zu erkennen ist? Nein, dieser Weg wird kein leichter sein – aber es ist der einzige, der hinabführt. Vor ähnlich unterirdischen Orten werden wir sonst gewarnt. "Lasst ihr, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!", so formuliert es etwa Dante in seiner Göttlichen Komödie, und zwar in Inferno III, Nummer 9, auch genannt: "Das Höllentor". Aber dies hier ist keine göttliche, sondern eine sehr weltliche Komödie, sich abspielend an und in einem infernalischen Stuttgarter Untergrunds-Ort, der freilich nicht von Dante erdichtet, sondern von der SSB, der Stuttgarter Straßenbahnen AG, tatsächlich gebaut wurde und als Stadtbahnhaltestelle "Staatsgalerie" firmiert.

Doch halt! Ist ja alles nur ein Provisorium und somit vorübergehend! Die alte und von fünf Stadtbahnlinien angefahrene Haltestelle "Staatsgalerie" muss wegen der Querung der S21-Gleise eben mal kurz angehoben, ein bisschen Richtung Planetarium verlegt und dort im Ruckzuck-Verfahren neu gebaut werden. Der Stadtbahnverkehr wird dafür maximal zwei Wochen unterbrochen, so stand das laut Stuttgarter Zeitung jedenfalls 2005 in der Baugenehmigung für den neuen Tiefbahnhof. Und dass an so einer Prognose nicht gerüttelt werden kann, dafür bürgt schon der Architekt Christoph Ingenhoven, der nicht nur den neuen Hauptbahnhof, sondern nebenan (und vermutlich nebenbei) auch noch die neue "Staatsgalerie"-Haltestelle der SSB entworfen hat. Also gut, die SSB gibt sich 2014 noch als Schisser und deshalb zu: "Vor der Aufgabe, die Haltestelle Staatsgalerie neu zu bauen und in das bestehende Stadtbahnnetz einzubinden, haben auch wir Respekt." Und ist dann doch zuversichtlich: "Die Arbeiten für die neue Haltestelle beginnen noch in diesem Jahr. Insgesamt ist mit einer Bauzeit bis etwa 2019 zu rechnen."

Und da sind wir nun wieder, im Jahr 2019 und schon an dessen Ende. In einer Haltestelle, die tatsächlich ziemlich fertig aussieht, genauer gesagt: Sowas von fertig! Wir haben uns also durch die Einstiegsluke gewagt und gehen jetzt den schon erwähnten grauen Gang entlang, an dessen Decke Kabel und ein paar trüblichtige Funzeln hängen, an dessen Wänden Graffiti für "Analsex 69" werben oder Gebietsansprüche ("PKK Zone!!") verkünden, und dessen Boden gesprenkelt ist mit dunklen Kaugummiflecken und hell schäumenden Sputuminseln, gelegentlich (und auch olfaktorisch) ergänzt durch braune Häuflein.

Aber was sollen jetzt diese Da-stinkt’s-da-zieht’s-da-hallt’s-Klagen oder diese Da-geh-ich-abends-nicht-mehr-durch-Ängste!? Für Klaustro- und andere Phobiker jedenfalls bietet dieser Betonschlauch wunderbare Möglichkeiten für eine Konfrontationstherapie.

Aber jetzt weitet sich der Raum, was wir im Düsterlicht allerdings nicht gleich erkennen. Aha! Da steht links eine mit einem Stahlstab gesperrte Rolltreppe, die zu einem seit Jahren stillgelegten Gleis und Bahnsteig hinunterführt. Hat die alte Dame, die es mit ihrem Rollator irgendwie nach unten geschafft hat und nun wieder umdreht, das nicht gewusst? Und warum schaut sie eigentlich so betreten und wie ertappt? Nun ja, sie hat an dieser Rolltreppe einen Beutel mit Brotresten ausgeleert, obwohl eine etwas versteckt aushängende und fast museal wirkende Hausordnung das Füttern von Vögeln untersagt.

Aber es ist ja auch verboten, "die Anlagen zu bekleben, zu beschriften, zu besprühen, zu verschmieren, zu verschmutzen oder zu beschädigen". Nie war der Widerspruch zwischen reinem Verbots-Wort und dreckiger Tat wohl größer als an der Haltestelle "Staatsgalerie". Das Vögel-Füttern führt übrigens dazu, dass Tauben hier eine gut gehende Fresserei und Kackerei betreiben. Dicke, träge, plumpe Viecher, die so aussehen, als wären sie schon immer hier gewesen, ja, als wäre diese Haltestelle für sie und um sie herum gebaut worden. Und jedenfalls nicht für uns.

An der rechten Seite, also dort, wo aus der Deckenverkleidung schmutzgelbe Dämmwolle herausquillt, geht’s tatsächlich noch per hie und da funktionierender Rolltreppe hinab zu einem Bahnsteig. Hier ist noch fast alles gut, wenn wir mal davon absehen, dass Doppelzüge nicht halten können und dass es von der Decke tropft, so als dringe nicht nur der Regen rein, sondern als wolle auch noch der Nesenbach "Hallo" sagen. Wieder oben und ganz hinten, also da, wo es früher zum Schlossgarten ging, verschließt eine Stahltüre den Zugang zur nun dahinter klaffenden S21-Baugrube. (Vor dieser Tür bildet sich bei Nässe manchmal eine riesige Lache, die wir hiermit als Widmung an die fleißigen Raucher zum Kippensee ernennen.)

Aber nun zum Höhe- respektive Tiefpunkt der "Staatsgalerie", nämlich zum Bahnsteig der stadteinwärts (aber schon lange nicht mehr zum Bahnhof) führenden Linien. Dort hat die SSB die Rolltreppen demontiert und stattdessen ein Stahlrohrgerüst als Notbehelf errichtet. Diese Stufen geben bei jedem Tritt nach, es scheppert, knarrt und ächzt und dröhnt, so als würde die wacklige Konstruktion schwer malträtiert und gleich kollabieren. Ach ja, diesen Klage-Sound müssten wir mal aufnehmen und als Neue-Musik-Klanginstallation in Donaueschingen vorführen.

"Gelegentlich wird ein Provisorium zur Dauereinrichtung", so schreibt Wikipedia, und fährt fort: "…dann spricht man scherzhaft von einem Providurium. Dies sollte aber nur dann der Fall sein, wenn die vorübergehende Errichtung dem Nutzen auf Dauer standhält." Dieses "Staatsgalerie"-Providurium aber, das schlimmer aussieht als die stillgelegten Berliner U- und S-Bahnhöfe zu DDR-Zeiten, wurde komplett aufgegeben, wir können ihm seit Jahren beim Verfall zusehen.

Haltestellen seien, so noch einmal die Wikipedia, "die Schnittstellen zwischen dem ÖPNV und dem Fußverkehr. Ihre gute Erreichbarkeit ist wesentliche Voraussetzung für einen attraktiven öffentlichen Nahverkehr. Lage und Gestaltung der Haltestellen sollten dem Rechnung tragen und eine sichere sowie möglichst direkte, bequeme und schnelle Zugänglichkeit aus allen Richtungen ermöglichen." Nach dieser Definition ist die marode "Staatsgalerie" schon lange keine Haltestelle mehr. Sondern eine Zumutung für alle, die von der SSB nach wie vor als Fahrgäste bezeichnet werden. Nein, so einen Gastgeber sollte sich Stuttgart nicht leisten.

Das Elend geht auch oberirdisch weiter. Vor dem von S21-Baufahrzeugen verstellten Eingang und vor der grünen Lärmschutzwand steht ein Schild mit Piktogrammen, die Rollator- und  Rollstuhlfahrern, Kinderwagenschiebern und Müttern, die ihren Nachwuchs an der Hand halten, einen Alternativ-Weg weisen. Weisen sollen, sagen wir mal lieber. Denn auch unter Anwohnern ist die Frage, wie man denn in S21-Zeiten zu Fuß zum Bahnhof oder auch nur zur Staatsgalerie kommt, zurecht gefürchtet.

Nein, wir wollen (und können) diesen verschlungenen Ampel- , Kreuzungs- und Baustellenverhau wirklich nicht beschreiben. Lieber nochmal auf den Termin der "Staatsgalerie"-Haltestellen-Fertigstellung verweisen. Auf einer SSB-Homepage findet sich zur neuen "Staatsgalerie"-Haltestelle noch dies: "Diese Haltestelle …wird die alte Haltestelle im Laufe des Netzes 2018 ablösen."

Nachdem die Termine im Lauf der Jahre aber immer weiter verschoben werden (und das Providurium weiter verfällt), schreibt die Stuttgarter Zeitung im September diesen Jahres, dass es nun wohl bis 2023 dauern werde und die direkten Linien zum Hauptbahnhof bis dahin weiter gesperrt blieben. Das Netzwerk Kernerviertel, ein Zusammenschluss von S21-Gegnern, zieht auf seiner Homepage ein natürlich nur vorläufiges Fazit: "Nach dem derzeitigen Planungsstand wären es fast sieben Jahre, in denen die SSB die abschnittsweisen Streckensperrungen Richtung Charlottenplatz bzw. Hauptbahnhof mit einem provisorischen Stadtbahnnetz und Umleitungen auffangen muss." Das Jahr 2023 also. Oder noch ein bisschen rausschieben und vorher noch ein paar neue Termine nennen? Die SSB ist eben nicht nur ein Von-A-nach-B-Mobilitäts-Unternehmen, sie veranstaltet zudem, wenn auch nur auf dem Papier, schöne Zeitreisen.


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5 Kommentare verfügbar

  • Ralf Peter
    am 17.11.2019
    Antworten
    Es wichtig einen Hauptverantwortlichen der SSB-Misere zu nennen. Der SSB-Chef Arnold. Dieser unterstützt schon immer an vorderster Front, fachlich völlig überfordert und unwissend, das peinliche Fernverkehrsprojekt Stuttgart 21 statt sich um seine eigentlcihe Aufgabe zu kümmern. Den Schaden und die…
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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 7 Stunden
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