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Paketdienst Amazon

Keine Festanstellung, keine Verantwortung

Paketdienst Amazon: Keine Festanstellung, keine Verantwortung
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Auto parken, Türe auf, Paket raus, klingeln, Treppe hoch, Paket abgeben, quittieren lassen, Treppe runter, weiterfahren – Paketbot:innen haben gerade jetzt viel zu tun. Ihr Verdienst ist gering und ihre Rechte kennen sie oft nicht.

Früher Vormittag, knapp über null Grad. Am Auslieferungszentrum von Amazon in Sindelfingen öffnet sich ein großes Rolltor, fünf Paar Transporterscheinwerfer leuchten nach draußen, die ersten Sprinter fahren los. Begleitet werden sie bis zur Straße von Frauen und Männern in orangefarbenen oder grünen Amazon-Leuchtwesten mit Rückenaufschriften wie "Dispatcher", "Yard Marshall", "Area Manager". Direkt nach dem Start halten viele Transporter erst mal kurz am Straßenrand. Die Fahrer:innen checken ihr Handy, auf dem die genaue Route der heutigen Tour eingetragen ist, manche rauchen noch eine, trinken aus ihrem mitgebrachten Thermobecher einen Schluck Kaffee, telefonieren mit der Familie zu Hause.

Dieser kurze Stopp ist für andere Leuchtwestenträger:innen die Gelegenheit, ins Gespräch zu kommen. Eine Handvoll Frauen und Männer von Verdi, dem DGB, der Katholischen Betriebsseelsorge und von der Fairen Mobilität gehen auf die stehenden Autos zu, bieten Flyer an, die auf Polnisch, Russisch, Ukrainisch und acht weiteren Sprachen Hilfe anbieten.

Denn Paketauslieferer haben oft Probleme. Zu lange Arbeitszeiten, zu schwere Pakete, vorenthaltener Lohn. Dragana Bubulj kennt sich da aus, sie arbeitet für die Faire Mobilität Stuttgart, eine Einrichtung, die vom DGB getragen wird. Der Auftrag: sich um prekär Beschäftigte vor allem aus osteuropäischen EU-Ländern zu kümmern. Die Paketbranche ist einer der Schwerpunkte, hier arbeiten viele EU-Bürger:innen, die oft kein oder nur rudimentär deutsch sprechen. Dragana Bubulj ist wie alle Faire-Mobilität-Beschäftigten mehrsprachig. Sie kommt aus Serbien, lebt seit zehn Jahren in Deutschland und spricht BKS (Bosnisch, Kroatisch, Serbisch), Deutsch, Englisch und etwas Spanisch. Letzteres hilft bei dem Fahrer eines weißen Kleintransporters mit Hamburger Kennzeichen. Er kommt aus Rumänien, spricht aber auch Spanisch, da er eine Zeit lang in Spanien gearbeitet hat. Offenbar gerne. Dort lebten die besten Menschen, sagt er und lächelt breit. Nein, er habe kein Problem mit der Firma, bei der er gerade arbeitet, so der Mittvierziger. Etwa 180 Pakete fahre er pro Tag aus, heute mit 68 Stopps. Wie lange braucht er dafür? Er zuckt ratlos mit den Achseln, zeigt auf sein Handy, das die Tour vorgibt. Bubulj gibt dem Fahrer den Flyer, der Mann bedankt sich sichtlich erfreut.

"Mal sehen, ob er sich meldet", sagt Bubulj. Sie erlebe häufiger, dass Fahrer:innen bei solchen Aktionen sagten, sie hätten keine Schwierigkeiten und ein paar Tage später riefen sie dann an. Ein weiterer weißer Transporter hält am Straßenrand, der linke Außenspiegel ist mit Paketband festgeklebt. Hat der Fahrer einen Unfall gehabt? Er nickt. Bezahlt die Firma den Schaden? Der Mann schüttelt den Kopf. Den müsse er selbst übernehmen. "Das hören wir oft", sagt Bubulj und gibt auch ihm einen Flyer mit.

Subunternehmen sind für Amazon praktisch

Zwar tragen einige Transporter am Auslieferungszentrum einen Amazon-Schriftzug, doch die meisten sind blank weiß, der Aufkleber mit dem Firmennamen des Subunternehmers ist eher versteckt. Vier verschiedene Firmen sind an diesem Morgen unterwegs. Bei Amazon selbst ist kein Fahrer angestellt, das macht das US-Unternehmen (Jahresumsatz weltweit knapp 514 Milliarden US-Dollar, davon 33,6 Milliarden in Deutschland) nicht. Prinzipiell werden für die letzte, die teuerste Meile vom Lager zu den Kund:innen Fremdfirmen beauftragt – oft dürfen die ausschließlich für Amazon fahren, wie eine Recherche von "Correctiv" beschreibt.

Auf die Frage, warum Amazon keine Pakezulieferer:innen direkt anstellt, antwortet der Konzern nicht. Die Pressestelle teilt mit: "Amazon Logistics bietet lokalen Lieferpartnern die Möglichkeit mit Amazon zu wachsen. Wenn wir Standorte neu eröffnen, greifen wir auf die Expertise lokaler Firmen zurück, die sich dort auskennen und Kund:innen beliefern können. Diese kleinen und mittelständischen Unternehmen wachsen mit uns, kennen die Region und schaffen Arbeitsplätze. Das ist gut für beide Seiten."

Über Letzteres lässt sich trefflich streiten. Zumindest für die Männer und Frauen, die die Pakete tagtäglich in die Hand nehmen, klingeln, Treppen steigen, halten sich die Vorteile in Grenzen. Je nach Arbeitgeber verdienen sie etwa Mindestlohn, in den Subunternehmen gibt es in der Regel keine Tarifverträge und keine Betriebsräte, weiß Verdi. Die Gewerkschaft fordert deswegen, Subunternehmen in der Paketbranche zu verbieten – wie in der Fleischwirtschaft bereits geschehen. Die Paketbranche ist eine "stark zerklüftete Branche mit vielen Kleinstunternehmen", schreibt die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung, die den Sektor hat untersuchen lassen. Demnach haben 88 Prozent der insgesamt 14.400 Unternehmen weniger als 20 Beschäftigte. Von den sechs großen Paketdienstleistern in der Republik greifen die meisten auf Subunternehmen zurück für die letzte Meile, teilweise beauftragen auch diese wieder Subunternehmen, so dass Beschäftigte laut Böckler-Stiftung "teilweise nicht einmal wissen, wer juristisch ihr Arbeitgeber ist". Nur DHL hat seine Fahrer:innen größtenteils angestellt.

4,15 Milliarden Pakete wurden 2022 in Deutschland zugestellt. Das waren zwar acht Prozent weniger als im Jahr davor, aber 14 Prozent mehr als vor Corona. Bis 2027 erwartet der Bundesverband Paket und Expresslogistik 4,9 Milliarden Sendungen. Die Branche boomt, weil immer mehr Menschen Klamotten, Lebensmittel, Medikamente und so weiter im Internet bestellen. Der Umsatz steigt, die Löhne für die Paketbot:innen, die zumeist angelernt sind und von denen überdurchschnittlich viele aus dem Ausland stammen, allerdings weniger. Laut einer Untersuchung des Statistischen Bundesamtes liegt der Monatslohn für Un- und Angelernte bei 2.100 bis 2.500 Euro brutto.

Dafür müssen die Botinnen und Boten sechs Tage die Woche arbeiten, weiß Johann Brstiak, acht Stunden pro Tag. Brstiak ist bei der katholischen Betriebsseelsorge, kümmert sich speziell um Amazon in Sindelfingen. Er meint, dass der Fahrerjob "für manche ein guter Einstieg in den Arbeitsmarkt ist". Allerdings weiß Brstiak aus seinen vielen Gesprächen auch: "Es werden viele Fahrer ausgebeutet." Die Branche verdiene gut, da sollte sie mehr in die Verantwortung für ihre Beschäftigten gezwungen werden, sagt Brstiak. Stichwort: Direktanstellung statt Subunternehmen.

Für Junge und Gesunde ein netter Job

Eine junge Fahrerin, die gerade das Amazongelände verlassen hat, stört das mit den Subunternehmen nicht. Bahar Gedik fährt seit eineinhalb Jahren für Amazon, ihr jetziger Arbeitgeber sei in dieser Zeit ihr dritter und der wäre jetzt auch okay. "Das Team ist gut, auch wenn wir viele verschiedene Sprachen sprechen – wir verstehen uns." Zudem würden nun Überstunden bezahlt: "Die App läuft ja immer im Hintergrund und zeichnet die Arbeitszeiten auf." Das liefe nun korrekt. "Aber ich habe auch schon erlebt, dass mit den Stunden – ich sag mal – gespielt wurde von den Chefs." 30 Jahre ist sie alt, nach der Schule habe sie bei der Post gearbeitet, sei dann zu Amazon gewechselt, beziehungsweise zu einem Subunternehmer. "Da verdiene ich mehr als bei der Post", sagt sie lachend, hält dann inne. "Okay, wenn man Urlaubs- und Weihnachtsgeld und so soziale Sachen dazuzählt …" Sie überlegt. "Dann weiß ich nicht so genau." Ihre Kundschaft in Nürtingen, wo sie ausfährt, sei meistens nett. Selbst müsse man immer freundlich sein, denn die Kund:innen würden ja per Mail befragt, wie zufrieden sie mit der Lieferung waren. "Wir werden wöchentlich bewertet und die Kundenstimmen sind da ganz wichtig." Für eine gute Bewertung gebe es 50 bis 75 Euro Wochenbonus, sagt Gedik. Dass die Gewerkschaft Hilfe bei Problemen anbietet, findet sie trotz aller Zufriedenheit "richtig gut", denn sie habe mal 1.300 Euro zahlen müssen für Pakete, die beschädigt oder weg waren, Hilfe sei also manchmal nötig. Nun müsse sie aber wirklich los, sagt sie, winkt freundlich und gibt Gas.

Solange jemand jung und fit ist, kann der Paketboten-Job okay sein. Mit der Zeit allerdings geht die Arbeit auf die Knochen. Das zeigt eine Studie der Berufskrankenkassen von 2018, wonach Beschäftigte von Postdiensten Spitzenplätze bei Krankentagen, bei der Medikamenteneinnahme und bei Krankenhausaufenthalten einnahmen, wie die Wirtschaftswoche damals berichtete. Das Problem ist mittlerweile auch im Arbeitsministerium angekommen. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) erklärte Anfang Dezember: "Viele Paketboten werden Bandscheibenvorfälle bekommen. Deshalb will ich durchsetzen, dass Pakete, die mehr als 20 Kilogramm wiegen, nicht mehr von einem allein geschleppt werden müssen."

Petition statt Gesetz

Für den baden-württembergischen DGB-Vorsitzenden Kai Burmeister, der bei der Flyer-Aktion vor dem Amazonlager in Sindelfingen dabei war, ist das zu wenig. Er fordert die Politik auf, für gute Arbeitsbedingungen in der Branche zu sorgen. Ketten-Sub-Sub-Subunternehmen sorgten für undurchschaubare Zustände. "Wir brauchen da mehr Transparenz, allerdings sehe ich in der Politik keine große Bereitschaft. Bislang duckt die sich eher weg."

Wohl wahr. Im Mai dieses Jahres forderte der Bundesrat die Bundesregierung auf, das Paketboten-Schutz-Gesetz zu ändern und Subunternehmen in der Branche zu verbieten. Mittlerweile hat das Wirtschaftsministerium von Robert Habeck (Grüne) einen Entwurf für ein Postrechtsmodernisierungsgesetz vorgelegt, ein Verbot von Subunternehmen in der Paketzustellung ist darin nicht vorgesehen.

Dragana Bubulj und ihren Kolleg:innen, die jeden Tag Briefe an Subunternehmen schreiben, in denen sie ausstehende Löhne und Ähnliches einfordern, wird die Arbeit also nicht ausgehen. Verdi hat mittlerweile eine Petition gestartet, mit der die Bundesregierung aufgefordert wird, die Arbeitsbedingungen in der Paketbranche zu verbessern.

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1 Kommentar verfügbar

  • Karl Heinz Siber
    am 14.12.2023
    Antworten
    "quittieren lassen"? Passiert das in Stuttgart noch? Ich habe seit mindestens 3 Jahren keine gelieferte Paketsendung mehr quittieren müssen. Die Boten stellen die Pakete einfach ins Haus oder in den Aufzug.
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