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Streik in Handel und Busverkehr

Wenn sich Arbeit nicht mehr lohnt

Streik in Handel und Busverkehr: Wenn sich Arbeit nicht mehr lohnt
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Überstunden, damit der Lohn reicht, immer weniger Kolleg:innen, geringe Gehälter. Im Handel und im privaten Busverkehr wird gerade für mehr Lohn gekämpft. Auch mit Streiks, wie jüngst in Stuttgart. Mit Wirkung: Für die Busfahrer:innen gibt es mehr Geld.

In drei Branchen verhandelt Verdi derzeit über Löhne: Einzelhandel, Großhandel und private Busbetriebe. Deren Beschäftigte brauchen mehr Geld, denn angesichts der hohen Inflation wird es mit Gehältern von 2.300 oder 2.600 Euro brutto eng am Ende des Monats. "Und für Urlaub kannst du gar nichts mehr ansparen", sagt Funda Kaya. Die 31-Jährige arbeitet bei Kaufland in Stuttgart-Vaihingen und ist mit ihren Kolleg:innen an diesem Streiktag auf den Schillerplatz gekommen, um gemeinsam mit Busfahrern für höhere Löhne zu kämpfen.

In einem Pulk stehen die zehn, zwölf Kaufland-Frauen und zwei Männer zusammen, sie tragen gelbe Streikwesten, sie sind aufgeregt. Die meisten haben noch nie gestreikt und das Zusammenkommen von – laut Verdi – etwa 1.500 Frauen und Männern beflügelt sie. Sie wollen erzählen: über galoppierende Preise und immer mehr Arbeit. "Es haben doch ganz viele, auch kleinere Betriebe diesen Inflationsausgleich gezahlt. Da sparen die sogar Steuern. Wir haben nichts bekommen", erzählt Azra Paljewac.

Nur einen Gutschein über 250 Euro habe es gegeben – und der muss auch noch bei Kaufland eingelöst werden. "Da verdienen die doch nochmal an uns", sagt sie und zupft ihr Kopftuch zurecht. "Aber dann machen die so Imagekram: Spenden hier und Spenden da, um zu zeigen, wie toll sie sind." Sie steht inmitten ihre Kolleginnen Melek Karadal, Sara Christi, Ayse Saygin, Karin Stendtle, Selda Aylan, Semra Arslan, Bilal Basaran, Alev Hotz, Funda Kaya. Die Sonne strahlt und vorne auf der Verdi-Bühne sorgt eine Saxofonistin für gute Stimmung.

"Wenn jemand geht, wird niemand neues eingestellt", erzählt Kaya. "Wie soll ich sagen? Der Körper ist einfach belastet." Und wie sieht's mit dem Lohn aus, reicht der? Sie rollt die Augen. "Vor zwei Jahren kostete Käse zwei Euro, jetzt dieselbe Menge vier." So langsam lohne es sich gar nicht mehr zu arbeiten. "Die Mieten steigen auch noch", ruft Paljewac. Die nächste Kollegin will etwas sagen: "Früher bin ich öfter am Wochenende mal ausgegangen, das geht nicht mehr." Und die vierte: "Mein Sohn fährt auf Klassenfahrt – das wird immer schwieriger zu bezahlen." Seit drei Jahren arbeite sie bei Kaufland, sagt Melek Karadal. "Immer noch in G1." Also in der niedrigsten Gehaltsstufe, die bei 2.000 Euro brutto liegt.

Solidarität über Branchen hinweg

Auf der Bühne freut sich gerade der baden-württembergische Verdi-Chef Martin Gross: "Ich sehe hier so viele Menschen, die nicht in Deutschland geboren sind oder deren Eltern aus anderen Ländern hierhergekommen sind – ich bin stolz über den Zusammenhalt, den wir hier zeigen."

Seine Freude hängt auch damit zusammen, dass die Branchen Handel und private Busunternehmen für die Gewerkschaft keine Selbstläufer sind in Tarifverhandlungen. Der Organisationsgrad hält sich in Grenzen, auch weil in den vergangenen Jahren die Unternehmenseinheiten immer kleiner geworden sind oder Teile abgespalten wurden. Wenn in einem Betrieb nur noch 80 oder 150 Menschen arbeiten, ist der Aufwand für die Gewerkschaft hoch, die Beschäftigten davon zu überzeugen, Mitglied zu werden. Doch langsam wird es besser. Neben intensiverer Gewerkschaftsarbeit mögen auch die zunehmenden Streiks anderer Branchen dazu beitragen, dass sich mehr Menschen anschließen. Und natürlich die Inflation.

Der Streik der Busfahrer hat sich gelohnt

Nur ein paar Meter entfernt von den Kaufland-Frauen steht eine kleinere Gruppe Männer – Busfahrer der Firma Fischle in Waiblingen. "Wir müssen zu oft an Wochenenden arbeiten", findet einer der Fahrer. Im Monat kämen so 190 Stunden zusammen, tariflich sollen es 169 sein. "Aber das müssen wir machen", sagt Emilio, der seit drei Jahren bei Fischle fährt und seinen vollen Namen lieber nicht nennt. "Sonst reicht das Geld nicht." Außerdem fehlen auch in dieser Branche Fachkräfte – diejenigen, die da sind, müssen also mehr arbeiten. Aber selbst wenn Überstunden – die laut den Männern nicht alle bezahlt werden – mehr Geld in die Haushaltskasse bringen: "Da bleibt doch keine Zeit mehr zum Leben", sagt Nezir Sabani. Der 63-Jährige ist seit 31 Jahren bei OVR Waiblingen (Omnibus-Verkehr Ruoff). "Früher war es besser, da hatten wir mehr Zeit für die Familie", sagt er. Im vergangenen Jahr habe er im August 253 Stunden gemacht!

Ein dritter Busfahrerkollege schaltet sich ein, er ist aufgeregt und wütend. "Uns wird ständig Zeit geklaut." Er erzählt von den zehn Minuten Pause, die es zwischen zwei Touren gibt. "Aber du kommst fast immer etwas zu spät an der Endhaltestelle an. Da fehlt also schon Zeit, du musst ja pünktlich abfahren." Und weil die Fahrgäste meistens schon da stehen und er den Bus nicht alleine lassen kann, bleibt nicht viel von der Pause. Dimitri fährt für Fischle über Dörfer. "Ich steh um drei Uhr auf, um vier geht es los und dann 14, 15 Stunden", sagt er und findet wie seine Kollegen: "Das ist doch kein Leben."

Also haben sie ihre Busse an diesem Tag stehen gelassen. Laut Verdi stockte in 30 Betrieben die Arbeit, darunter in Göppingen, Reutlingen, Böblingen, auch in den Regionen rund um Stuttgart, Karlsruhe und Schwäbisch Hall gab es kaum Linienverkehr. Gefordert wird für die etwa 9.000 Beschäftigten der privaten Busbetriebe im Land mindestens 500 Euro mehr pro Monat, für Azubis mindestens 250 Euro plus. Gelten soll der neue Tarif für 12 Monate. Der Arbeitgeberverband Baden-Württemberg hat bislang 8,5 Prozent mehr für 24 Monate sowie einen Inflationsausgleich von bis zu 3.000 Euro angeboten. Gestern, am Dienstag, den 30. Mai verhandelten die Parteien zum vierten Mal – mit Ergebnis, wie Verdi-Verhandlungsführer Jan Bleckert mitteilte. Demnach gibt es am 1. Juni sieben Prozent mehr, am 1. Februar nächsten Jahres dann nochmal sieben Prozent. Laufzeit des Tarifvertrages: 20 Monate. In den nächsten Wochen werden die Gewerkschaftsmitglieder darüber abstimmen.

Wenig Geld und unfreundliche Kundschaft

"Ihr seid diejenigen, die dieses Land am Laufen halten", ruft Martin Gross von der Bühne. "Ihr sorgt dafür, dass wir einkaufen können, dass wir zur Arbeit und unsere Kinder in die Schule kommen." Das tut der Seele gut, die Streikenden jubeln. Um 17 Prozent seien Lebensmittelpreise in den vergangenen zwei Jahren gestiegen, so Gross. Da müsse nun mehr Lohn her. Nicht nur für diejenigen, die in gut bezahlten Jobs arbeiten,wie bei Daimler. "6.000 Euro Prämie gab es da. Dafür müsst ihr zwei Monate oder mehr arbeiten. Das ist doch nicht gerecht." Dann würden Verkäufer:innen noch von Kund:innen angeschnauzt werden, weil alles teurer geworden sei – "und selbst habt ihr immer weniger in der Tasche". Altersarmut sei da programmiert.

Von unfreundlicher Kundschaft erzählen auch zwei Verkäuferinnen, die bei Primark im Stuttgarter Milaneo arbeiten. "Die Kunden sind sehr respektlos", sagt die eine junge Frau. Und auch hier: "Wir werden immer weniger Leute." Wo früher vier gearbeitet hätten, arbeite jetzt noch eine. "Da wird man krank." Ihre Namen wollen beide nicht in der Zeitung lesen, sie haben Angst vor ihrem Arbeitgeber.

Seit 2015 ist Primark immerhin tarifgebunden – und gehört damit zur Minderheit in der Branche. Denn im Einzelhandel ist die Tarifbindung in den vergangenen 20 Jahren dünn geworden. Bis Ende der 1990er waren die Tarifverträge hier allgemeinverbindlich, es mussten also alle Händler danach zahlen. Das bröckelte ab 2000, einer Zeit, in der es an Verkäufer:innen nicht mangelte und sich Löhne leichter drücken ließen. Mittlerweile arbeitet im Einzelhandel nur jede:r vierte Beschäftigte mit einem Tarifvertrag, stellte der Handelsverband vor einem Jahr fest.

Das Procedere, einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich zu erklären, ist relativ umständlich, vor allem muss der jeweilige Arbeitgeberverband dabei mitmachen. Genau das fordert Verdi in der aktuellen Tarifrunde. Und: 15 Prozent mehr für 12 Monate sowie 200 Euro mehr für Azubis. Der Handelsverband Baden-Württemberg bot 7,5 Prozent mehr für 24 Monate und 1.000 Euro Inflationsausgleich. Zur dritten Verhandlungsrunde treffen sich die Parteien am 23. Juni.


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