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"Regeln am Band bei hoher Geschwindigkeit"

Siebzehn Stunden sind kein Tag

"Regeln am Band bei hoher Geschwindigkeit": Siebzehn Stunden sind kein Tag
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Die preisgekrönte Dokumentation "Regeln am Band bei hoher Geschwindigkeit" erzählt von der prekären Lage der LeiharbeiterInnen in deutschen Fleischfabriken. Und von den Proben zum immer noch aktuellen Brecht-Stück "Die heilige Johanna der Schlachthöfe".

Das alles wurde noch vor Corona gedreht! Zum Beispiel die Sitzung eines Integrationsrats, der sich mit der Lage der Leiharbeiter in der Tönnies-Fleischfabrik in Gütersloh beschäftigt. Oder eben nicht beschäftigt, weil der Vorsitzende vorausschickt, dass es nicht Aufgabe des Integrationsrats sei, das Unternehmen oder dessen Verträge zu kritisieren. Was die Wohnsituation betrifft, darf die Sozialhelferin Inge, eine praktische Frau mittleren Alters und als Gast dabei, immerhin anmerken, dass es die zu verbessern gelte, "damit Menschen nicht wie Schweine leben müssen". Ein Mitglied des Gremiums sagt: "Acht Personen in so einem Raum – kann mir nicht vorstellen, wie das funktionieren soll." Die arbeiteten im Schichtbetrieb und zahlten "zweihundert Euro pro Matratze". Da könne man nur sagen: "Staat, wo bleibst du!?"

Bei Tönnies hielten sich alle an das Gesetz, es gebe keinen rechtsfreien Raum, empört sich ein Vertreter  des Fleisch-Imperiums bei einer Podiumsdiskussion. Außerdem: "Diese Menschen arbeiten hier gerne für ihren Arbeitgeber, sonst wären sie nicht so lange da." Der Arbeitgeber der Polen, Rumänen oder Bulgaren ist offiziell allerdings nicht Tönnies, sondern ein Subunternehmen. Dieses habe weder Überstunden noch Nachtzuschläge gezahlt, sagt ein polnischer Leiharbeiter, der sich wegen einer Krankentransportrechnung an Inge gewandt hat (er ist nicht versichert). Er sei am Anfang immer zu Fuß zur Fabrik und zur Vier-Uhr-Frühschicht, es habe keinen Transfer gegeben. "Acht oder zehn Kilometer pro Weg". Später habe ihn ein Kollege im Auto mitgenommen, der habe aber eine andere Schicht gehabt, so dass er immer lange warten musste. In der Fabrik habe er in einer Stunde zwanzig Tonnen Fleisch bewegt. Jetzt wolle er sich in Belgien nach Arbeit umschauen. Denn: "Der Umgang mit den Leuten war eine Katastrophe".

Die Arbeitsbedingungen selber werden in Yulia Lokshinas Film "Regeln am Band bei hoher Geschwindigkeit" nicht gezeigt. Sie filmt nicht in der Fabrik, darf dort wohl nicht filmen. In ihrer Diplomarbeit an der Münchner Filmhochschule,  dieses Jahr bei den Saarbrücker Filmfestspielen als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet, kreist sie diese Fabrik sozusagen ein. Beobachtet geduldig und konzentriert das Warten und die Pausen am Werkstor, in denen geraucht und müde geschwiegen wird. Sucht einen Trailerpark auf, wo einige dieser Menschen wohnen und schließlich erzählen. Ist bei einer Demo dabei, in der Aktivisten im plüschrosa Schweinekostüm Transparente mit der Aufschrift "Europas größte Sauerei" tragen. Verfolgt an einem Gymnasium, wie ein Lehrer mit seinen SchülerInnen das Brecht-Stück "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" einstudiert. Und hält sich dabei selber immer zurück, ist also nie im Bild zu sehen, nie als Fragende oder Erklärende zu hören.

Eine große Box ist ihm auf die Hand gefallen – bumm

Die Regisseurin vertraut darauf, dass wir uns durch die einzelnen Sequenzen und deren Montage selber ein Bild von den Verhältnissen machen. "Schneller, schneller", habe der Boss am Band gesagt, berichtet eine Litauerin, die mit ihrem Freund vor Tönnies bei "Wiesenhof" gearbeitet hat. Dort, sagt er, während der Fernseher im Wohnwagen läuft und einen blutigen Action-Kracher zeigt, habe es "einem Türken den Kopf abgerissen". In Gütersloh wiederum sind wir nun bei einem Deutschkurs dabei, gerade hat der Lehrer erfahren: "Aha, im Kurs eins werden heute sechs Bulgaren fehlen, vier können Schicht nicht tauschen, zwei hören mit Kurs auf." Einer der Schüler soll sagen, was mit seiner Hand passiert ist. Er habe eine Maschine gewaschen, sagt der, da sei ihm was drauf gefallen. "Ein‘ große Box – bumm!" Der Lehrer kommentiert das so: "Du hast nicht aufgepasst, du warst nicht konzentriert!" Dann fragt er, immer und immer wieder: "Wie geht es dir?" Bis er die für ihn befriedigende Antwort bekommt: "Danke, gut!"

Mit einem Arbeitsunfall beginnt auch dieser Film. Nein, stimmt nicht ganz. Zuerst sind in einer minutenlangen Einstellung eingepferchte Schweine zu sehen, die zu Barockmusik mit einem an einer Kette befestigten Stöpsel spielen. Eine in jedem Sinn merkwürdige, ja, auch eine bewegende Sequenz. So als wollten uns diese Tiere zeigen, dass sie viel mehr sind als nur Fleisch. Und nun setzt eine Frauenstimme aus dem Off ein und erzählt in literarischem Ton: "Irgendwo in diesem Schlachtteil hat Stanislav gearbeitet." An einer Maschine, "die den Rumpf vom Kopf trennt." Irgendwas habe sich dann verhakt, der Kittel, die Handschuhe, und er wurde selbst "unter das Band gezogen". Ob es sich bei diesem Bericht um einen tatsächlichen Unfall in der Tönnies-Fabrik handelt oder um eine fiktive, zu Literatur verdichtete Beschreibung, bleibt offen.

Dass einer in den Sudkessel fällt, sein Körper weiterverarbeitet  und der Unfall vertuscht wird, das gehört hingegen zu dem 1931 uraufgeführten Brecht-Stück, das die GymnasiastInnen einstudieren. (Brecht wiederum wurde inspiriert von Upton Sinclairs 1906 publiziertem Roman "The Jungle", der die Verhältnisse in einem Chicagoer Schlachthaus schildert.) Die zitierten Stellen des Johanna-Stücks – und die Anmerkungen des engagierten Lehrers dazu – fungieren im Film wie einordnende und analytische Kommentare zu den Verhältnissen bei Tönnies und Co. Brecht vergleicht das System mit einer Schaukel, diejenigen, die oben säßen, säßen da nur, weil die anderen unten säßen. Das System wolle unterbinden, dass die da unten ihren Platz verließen. Also Revolution? Das Johanna-Stück ist jenes, in dem der berühmte Satz vorkommt: "Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht."

Die Sauerei scheint so weit weg und ist doch hier

"Ich warte dauernd auf Gegenargumente", sagt der Lehrer zu seinen SchülerInnen, die zwar nachdenklich wirken, sich aber eher zögerlich zu Wort melden. Dass bei Brecht  nicht nur der Staat, sondern auch die Kirche auf der Seite der Herrschenden steht, das immerhin stellt der Film infrage. Der Pfarrer jedenfalls, dem er bei einer Predigt zuhört, spricht bezüglich des Fleischfabriksystems von  "unsäglichen hygienischen Bedingungen" der Arbeiter, von Mietwucher und davon, dass Gerechtigkeit die Bedingung für Frieden sei.

Und dann rekonstruiert der Film noch einen Fall, der wie von Brecht ausgedacht wirkt, sich aber tatsächlich in Gütersloh ereignet hat. Die Sozialhelferin Inge geht den Weg nach, den an einem Sonntag in der Früh eine hochschwangere Leiharbeiterin gegangen ist. Bis hin zu einer Garage, in der sie ihr Kind bekam, das sie dann in einer Tüte zu einem Gebüsch trug und ablegte. Die Frau ist nun auch selber zu sehen, sie war in Haft, ihr Kind ist inzwischen drei Jahre alt, sie hat ihm Kleider zum Geburtstag gekauft. "Die kannte keinen, konnte kein Deutsch. Die war damals durch den Wind", sagt Inge.

Einer der das Johanna-Stück probenden Schüler sagt: "Ich habe noch nie 17 Stunden am Tag gearbeitet, kann mir das gar nicht vorstellen…" Ein anderer: "Das ist für mich so weit weg", aber von der Entfernung her, also, da passiere das hier, "im gleichen Land". Die Regisseurin Yulia Lokshina sagt, ihr Film wende sich Leuten zu, "die keine Sprache haben … keine Zeit und keine Sprache, in der sie sich organisieren, in der sie sich untereinander solidarisch erklären können." Und sie merkt selbstkritisch an: "Wir, Danebenstehende, Daraufschauende, haben eine Sprache, aber wir wissen auch nicht genau wohin damit. Und so reden wir und vergessen, rechtfertigen und schämen uns, nehmen Abstand von der Sache, rufen zum Aufstand auf, reden weiter und vergessen wieder, mit der Zeit."

Nein, das klingt nicht sehr optimistisch. Und dann brach in der Fleischfabrik Corona aus. Und die ausländischen Leiharbeiter wurden nicht nur von Tönnies, sondern auch von Armin Laschet zu Sündenböcken erklärt und als vom Heimaturlaub zurückkehrende Virenschleudern denunziert …


Yulia Lokshinas "Regeln am Band bei hoher Geschwindigkeit" kommt am Donnerstag, 22. Oktober in die deutschen Kinos. Welche Spielstätte den Film in Ihrer Nähe zeigt, sehen Sie hier.


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1 Kommentar verfügbar

  • Peter Meisel
    am 21.10.2020
    Antworten
    17 Stunden sind kein Tag in dem Artikel steht „Die Sauerei scheint so weit weg und ist doch hier“! Ein Tönnies beabsichtigt ein Hotel im Stuttgarter S21 denkmalgeschützten Bahnhofsgebäude errichten? Das passt zur S21 Logik des Auto Lackierers Heinz Dürr als Bahnchef die Kapazität der Bahn zu…
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