Das alles wurde noch vor Corona gedreht! Zum Beispiel die Sitzung eines Integrationsrats, der sich mit der Lage der Leiharbeiter in der Tönnies-Fleischfabrik in Gütersloh beschäftigt. Oder eben nicht beschäftigt, weil der Vorsitzende vorausschickt, dass es nicht Aufgabe des Integrationsrats sei, das Unternehmen oder dessen Verträge zu kritisieren. Was die Wohnsituation betrifft, darf die Sozialhelferin Inge, eine praktische Frau mittleren Alters und als Gast dabei, immerhin anmerken, dass es die zu verbessern gelte, "damit Menschen nicht wie Schweine leben müssen". Ein Mitglied des Gremiums sagt: "Acht Personen in so einem Raum – kann mir nicht vorstellen, wie das funktionieren soll." Die arbeiteten im Schichtbetrieb und zahlten "zweihundert Euro pro Matratze". Da könne man nur sagen: "Staat, wo bleibst du!?"
Bei Tönnies hielten sich alle an das Gesetz, es gebe keinen rechtsfreien Raum, empört sich ein Vertreter des Fleisch-Imperiums bei einer Podiumsdiskussion. Außerdem: "Diese Menschen arbeiten hier gerne für ihren Arbeitgeber, sonst wären sie nicht so lange da." Der Arbeitgeber der Polen, Rumänen oder Bulgaren ist offiziell allerdings nicht Tönnies, sondern ein Subunternehmen. Dieses habe weder Überstunden noch Nachtzuschläge gezahlt, sagt ein polnischer Leiharbeiter, der sich wegen einer Krankentransportrechnung an Inge gewandt hat (er ist nicht versichert). Er sei am Anfang immer zu Fuß zur Fabrik und zur Vier-Uhr-Frühschicht, es habe keinen Transfer gegeben. "Acht oder zehn Kilometer pro Weg". Später habe ihn ein Kollege im Auto mitgenommen, der habe aber eine andere Schicht gehabt, so dass er immer lange warten musste. In der Fabrik habe er in einer Stunde zwanzig Tonnen Fleisch bewegt. Jetzt wolle er sich in Belgien nach Arbeit umschauen. Denn: "Der Umgang mit den Leuten war eine Katastrophe".
Die Arbeitsbedingungen selber werden in Yulia Lokshinas Film "Regeln am Band bei hoher Geschwindigkeit" nicht gezeigt. Sie filmt nicht in der Fabrik, darf dort wohl nicht filmen. In ihrer Diplomarbeit an der Münchner Filmhochschule, dieses Jahr bei den Saarbrücker Filmfestspielen als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet, kreist sie diese Fabrik sozusagen ein. Beobachtet geduldig und konzentriert das Warten und die Pausen am Werkstor, in denen geraucht und müde geschwiegen wird. Sucht einen Trailerpark auf, wo einige dieser Menschen wohnen und schließlich erzählen. Ist bei einer Demo dabei, in der Aktivisten im plüschrosa Schweinekostüm Transparente mit der Aufschrift "Europas größte Sauerei" tragen. Verfolgt an einem Gymnasium, wie ein Lehrer mit seinen SchülerInnen das Brecht-Stück "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" einstudiert. Und hält sich dabei selber immer zurück, ist also nie im Bild zu sehen, nie als Fragende oder Erklärende zu hören.
Eine große Box ist ihm auf die Hand gefallen – bumm
Die Regisseurin vertraut darauf, dass wir uns durch die einzelnen Sequenzen und deren Montage selber ein Bild von den Verhältnissen machen. "Schneller, schneller", habe der Boss am Band gesagt, berichtet eine Litauerin, die mit ihrem Freund vor Tönnies bei "Wiesenhof" gearbeitet hat. Dort, sagt er, während der Fernseher im Wohnwagen läuft und einen blutigen Action-Kracher zeigt, habe es "einem Türken den Kopf abgerissen". In Gütersloh wiederum sind wir nun bei einem Deutschkurs dabei, gerade hat der Lehrer erfahren: "Aha, im Kurs eins werden heute sechs Bulgaren fehlen, vier können Schicht nicht tauschen, zwei hören mit Kurs auf." Einer der Schüler soll sagen, was mit seiner Hand passiert ist. Er habe eine Maschine gewaschen, sagt der, da sei ihm was drauf gefallen. "Ein‘ große Box – bumm!" Der Lehrer kommentiert das so: "Du hast nicht aufgepasst, du warst nicht konzentriert!" Dann fragt er, immer und immer wieder: "Wie geht es dir?" Bis er die für ihn befriedigende Antwort bekommt: "Danke, gut!"
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Peter Meisel
am 21.10.2020