Was für ein mysteriöser Ort. Verzauberter Knotenpunkt. Das Tor zu Narnia. Point of no return. Herzlich willkommen an der U-Bahn-Haltestelle Charlottenplatz!
Natürlich habe ich kein Navigationssystem in meinem Gehirn implantiert. Es ist aber auch nicht so, dass ich überhaupt nicht weiß, wie ich durch einen fremden Ort navigieren muss. Wenn man als Reiseführerin arbeitet, und das habe ich fünf Jahre lang getan, lernt man mit der Zeit, überall hinzufinden. Und noch wichtiger – man weiß auch, wie man zurückfindet. Man kann sich sogar mit der U-Bahn anfreunden. In meinem Heimatort Odessa gibt es keine U-Bahn, aber ich habe mich in Kiew und Rom mit der Metro vertraut gemacht. Paris war es schon etwas herausfordernder. Meine erste Metro-Erfahrung dort endete in einem absoluten Desaster. Mein Englisch war damals noch ausbaufähig.
Und wäre da nicht eine mitfühlende Studentin namens Delphia gewesen, die ich auf Englisch angesprochen habe, ich würde heute wahrscheinlich immer noch im Pariser Untergrund festsitzen. Delphia nahm mich in ihre Obhut, fuhr mit mir bis zur gewünschten Haltestelle und, am allerwichtigsten, brachte mich zurück an die Oberfläche. Das war im Jahr 2013. Seitdem ist mein Englisch besser geworden und ich habe gelernt, U-Bahn-Systeme besser zu verstehen.
Überall. Außer am Charlottenplatz.
Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, die Haltestelle Charlottenplatz an der gewünschten Straßenecke zu verlassen. Bei meinem ersten Besuch an diesem unterirdischen Verkehrsknoten bin ich ungefähr zwanzig Minuten lang an verschiedenen Ecken der Hauptstätter Straße, Konrad-Adenauer-Straße, Holzstraße und Charlottenstraße aufgetaucht. Man stelle sich ein Erdmännchen vor, das den Kopf aus seinem Bau streckt und sofort wieder unter der Erde verschwindet – genau so habe ich wohl ausgesehen. Immerhin habe ich auf diese Weise die Namen aller angrenzenden Straßen gelernt, was auch hilfreich sein kann.
Beim nächsten Mal musste ich am Charlottenplatz umsteigen. Ich bog nur zwei Mal um die falsche Ecke – okay, mal ehrlich, das ist nicht das schlechteste Ergebnis. Schließlich war das richtige Gleis gefunden. Aber warum steht mein Zug nicht auf der Anzeigetafel? Okay, ich muss warten, vielleicht wird er noch angezeigt. Aber nein, das wird er nicht. Irgendetwas stimmt nicht. Bingo! Natürlich nicht, Anna! Das richtige Gleis liegt eine Ebene tiefer. Auf zur Rolltreppe … Nein, nicht diese hier! Hier fährt dein Zug, aber in die falsche Richtung. Schnell eine andere Rolltreppe finden. An diesem Tag kam ich gnadenlos zu spät zu einer Besprechung bei Kontext. Ich erklärte ehrlich: "Ich bin am Charlottenplatz verloren gegangen." Entschuldigt bitte, liebe Kolleg:innen, ich gelobe Besserung.
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Rosa
am 22.05.2023