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Alle Räder stehen still

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Deutsche Konzerne bauen die besten Autos der Welt, sagt Roman Zitzelsberger, der Bezirksleiter der baden-württembergischen IG Metall. Schön wär's. Denn tatsächlich kommen immer neue Untersuchungen mit immer neuen Horrormeldungen auf den Tisch. Und die Arbeitnehmervertreter finden nicht die Kraft für Klartext.

In Wolfsburg hat der VW-Betriebsrat in der Belegschaft Unterschriften gesammelt. Das wäre mal eine gute Idee gewesen, hätte die Aktion die richtige Stoßrichtung gehabt. Statt aber den Bossen gehörig aufs Dach zu steigen, wetterte Betriebsratschef Bernd Osterloh gegen das "Politikgezänk" und die "zwei Jahre Dauerkritik", der VW jetzt schon ausgesetzt sei. Zwei verlorene Jahre, aus der Sicht der KundInnen und aus der Sicht der "lieben Kolleginnen und Kollegen", die laut Zitzelsberger Autos bauen, mit denen Konkurrenzprodukte "in puncto Qualität, Sicherheit und auch bei der Schadstoff- und Emissionsminimierung nicht ansatzweise mithalten können".

Die Tragweite dieser Realitätsverweigerung ist immens. Denn so wenig plausibel es ist, dass VW-Chef Martin Winterkorn nichts gewusst haben soll von den betrügerischen Machenschaften, so sehr muss den gesunden Menschenverstand ausschalten, wer gleichzeitig an die komplette Ahnungslosigkeit in den Werkshallen glaubt. Ingenieure haben sich die irreführende Software ausgedacht, Vorgesetzte deren Einbau entschieden. Die Vorstellung, dass unter zigtausend Arbeitern bei all der sonstigen Technikbegeisterung kein blasser Schimmer davon vorhanden war, was da montiert wurde und wozu – die mag nicht so recht einleuchten. Denn selbstverständlich wird derzeit in Belegschaften darüber diskutiert, dass die so groß angekündigten freiwilligen Nachrüstungen von mehr als zwei Millionen deutschen Fahrzeugen technisch noch gar nicht entwickelt ist.

Verklemmter Umgang mit den Tatsachen

Wie wenig Gewerkschafter bereit sind, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen und sie dann auszusprechen, belegt die Debatte um die Blaue Plakette. "Mich besorgt, dass der Überblick verloren geht, und dass man sich nicht auf das Wesentliche konzentriert", lässt sich Zitzelsberger kürzlich in einem Interview zitieren, in dem er zugleich der Politik vorwirft, keine klare Kante zu zeigen. Fahrverbote lehnt der Metaller ab, die Blaue Plakette findet er aber als "bundesweites Steuerungsinstrument" gut für den Fall, dass es in Ballungsräumen trotz Updates "nicht ohne Einfahrbeschränkungen gehen" sollte. Dabei würde es bei einer Einführung der verschärften Umweltzonen in den hochbelasteten Innenstädten doch zu nichts anderem kommen können als zu Fahrverboten, weil alle Autos ohne Blaue Plakette draußen bleiben müssten.

Dass hier etwas faul sein muss, belegt auch der verklemmte Umgang mit den Tatsachen. Auf offene Worte aus Stuttgart oder vom Frankfurter IG-Metall-Vorstand, wie sie bei jedem Tarifkonflikt gang und gäbe sind, hat die Republik im Diesel-Skandal vergeblich gewartet. Dabei könnte der angerichtete Schaden die Gewerkschafts-Mitglieder auf lange Sicht weitaus teurer zu stehen kommen als so manches Lohnprozent, das Arbeitgeber nicht herausrücken wollten. Stattdessen: Allerweltsparolen in der Tonlage von "Wir müssen eine Balance zwischen Klimaschutz und gesunder Luft und einer innovativen, zukunftsfähigen Produktion hinbekommen, ohne dass die Beschäftigten unter die Räder geraten" (IG Metall-Chef Jörg Hofmann, vordem Bezirksleiter in Stuttgart).

Im vergangenen November hat die mächtigste DGB-Gewerkschaft ("Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will") selber einen Fünf-Punkte-Plan präsentiert, damit "die Autoindustrie die Kurve bekommt". Unter anderem sollten sich die Hersteller verpflichten, ab 2018 in allen Fahrzeugsegmenten Elektroautos anzubieten. Fehlanzeige. Durch technische Verbesserungen an Verbrennungsmotor sollte der Kohlendioxidausstoß pro Jahr grundsätzlich um eineinhalb Prozent verringert werden. Fehlanzeige. Tricky ist die Passage zu den Emissionsgrenzwerten erdacht. Die müssen in den Augen der Metaller strenger gefasst werden, "um die Erderwärmung zu stoppen und die Klimaschutzziele zu erreichen". Vor der Festlegung müsse aber "abgeklärt werden, wie sie sich auf die Arbeitsplätze auswirken".

Die Autobauer fühlen sich "in ihrer Ehre getroffen"

KäuferInnen, UmweltschützerInnen oder sogar KlägerInnen geraten auf diese Weise aus dem Blick. Eine Strategie, die angesichts immer weiterer Enthüllungen nur zum Scheitern verurteilt sein kann. So belegt das "International Council On Clean Transportation" (ICCT) aktuell, wie viele Fahrzeuge noch immer nicht den gesetzlichen Anforderungen entsprechen: Neun von zehn getesteten Dieselmotoren der neuesten Abgasnorm Euro 6 sind auf der Straße deutlich schmutziger als auf dem Papier. Im ICCT sitzen renommierte Experten, die 2015 den Abgasskandal mit ins Rollen gebracht hatten. Jetzt wurden die Daten von insgesamt 541 Diesel-Pkw mit den Abgasnormen Euro 5 und 6 ausgewertet. Danach stoßen Euro-6-Motoren durchschnittlich viereinhalb Mal mehr Stickoxide (NOx) aus als gesetzlich erlaubt. Was wenig ist, es gibt auch Überschreitungen ums Zwölffache. Nicht zum ersten Mal verlangt das ICCT unabhängige Tests, wie sie der ADAC und das baden-württembergische Verkehrsministerium schon ins Auge gefasst haben. Die Autos dafür sollen aber nicht von den Herstellern kommen, sondern zufällig ausgewählt werden bei privaten Haltern oder Mietwagenfirmen.

Die Kolleginnen und Kollegen seien "in ihrer Ehre getroffen", sagt Zitzelsberger, "oder vielleicht besser: ihrer Überzeugung, etwas Gutes zu schaffen". Und weiter: "Das öffentliche Bashing sollte endlich aufhören." Eine Tonlage, die sich kaum anders anhört als jene der ertappten Manager oder Entwickler. Dabei müsste selbstkritische Aufarbeitung im Gegenteil jetzt erst recht anfangen. Denn gerade die deutschen Hersteller, die mit den besten Produkten der Welt, haben ihre Zusagen vom ersten Dieselgipfel Anfang August inzwischen offiziell relativiert. Nicht in Berlin, sondern in Wien, als die Importeure ebenfalls zu einem Spitzengespräch zusammenkamen.

Der VDA hat einen Zeitplan bis Ende 2019 vorgelegt

VW, Daimler und Audi machten vor gut drei Wochen deutlich, dass die Software für die versprochenen freiwilligen Nachrüstungen, die vor allem in den Augen von CDU- und FDP-Politikern so schnell kommen sollen, dass Fahrverbote zum 1. Januar 2018 verhindert werden können, nicht nur noch nicht entwickelt ist. Sondern, dass dies auch noch dauern wird. Sie stehe frühestens Ende des ersten Quartals 2018 zur Verfügung, berichtet Günther Kerle, der Sprecher der österreichischen Automobilimporteure, aus den Gesprächen. Was damit zu tun habe, dass zwischen der verpflichtenden Nachrüstung und freiwilligen Maßnahmen erhebliche Unterschiede bestünden.

"Das geht nicht auf Knopfdruck, sondern benötigt mehr als ein paar Wochen", bestätigt Eckehart Rotter, der Leiter der Presseabteilung beim Verband der Automobilindustrie (VDA). Denn es handle sich "um keine leichte Aufgabe". Die entsprechende Software müsse zudem von den Zulassungs- und Prüfbehörden abgenommen und genehmigt werden. Erst danach könnten die jeweiligen Pkw-Modelle zum Aufspielen in die Werkstatt gerufen werden. Der VDA hat einen Zeitplan bis Ende 2019 vorgelegt. Unterschieden wird auch zwischen dem "Muss-Bereich", also jenen Fahrzeugen, die per Gesetz nachgerüstet werden, und der freiwilligen Aktion. Für die tüfteln die Hersteller an Lösungen – immer im Bemühen um eine deutliche Senkung der NOx-Werte. Zugleich aber dürfen sich andere Parameter, auf deren Grundlage PKW-Typen zugelassen wurden, nicht ändern, weil sonst die Stilllegung der Fahrzeuge droht.

Zu allem Überfluss ist seit Anfang September 2017 das neue, wenigstens realitätsnähere Messverfahren in Kraft. Bestätigen sich durch immer neue Tests immer neue Überschreitungen, wird das Thema Hardware-Lösungen erneut breiteren Raum einnehmen. "Kurzfristig kann dies keine Wirkung bringen", sagt Rotter, "vielmehr wäre damit eine weitere Verzögerung um mindestens zwei Jahre verbunden, da dafür – neben aufwändiger Entwicklungsarbeit – zusätzlich eine Sommer- und Wintererprobung erforderlich ist." Die IG Metall hatte schon zu Jahresbeginn angekündigt, "ihre Verankerung in den Betrieben für Bestandsaufnahmen in der Automobilindustrie und angrenzenden Branchen von Mannheim bis zum Bodensee" zu nutzen. Erste Ergebnisse vorzulegen wäre hoch an der Zeit. Und Unterschriften könnten unter Beschäftigten auch noch einmal gesammelt werden – vorsorglich beispielsweise für einen Appell samt Selbstverpflichtung, mit Beginn der neuen Feinstaub-Saison am 1. Oktober im Großraum Stuttgart freiwillig auf den ÖPNV umzusteigen.


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4 Kommentare verfügbar

  • Philippe Ressing
    am 10.09.2017
    Antworten
    Es ist ja leider keine neue Erkenntnis, das sich Gewerkschaften vor den Karren der Industrie spannen lassen. Erinnern wir uns an die Pro-Atomkraft-Demonstrationen in den 80er Jahren oder die Braunkohle heute. Wer sich für Konversion und Alternativen einsetzte, bekam den Druck der saturierten…
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