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Auf Gottliebs Fahrspur

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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Auf dem Dieselgipfel machten Bund und Autoindustrie 500 Millionen Euro locker, um die Luft in besonders belasteten Städten zu verbessern. Doch Geld ist nicht alles. Es braucht auch den Willen zur nachhaltigen Mobilität, wie eine Rundfahrt durch Gottlieb Daimlers Heimat zeigt.

Alte Baumriesen spenden Schatten, Wiesen tauchen die Szenerie in Grün, aus Brunnen sprudelt frisches Mineralwasser – wer Ruhe und Erholung vom Großstadttreiben sucht, findet sie im Kurpark in Stuttgart-Bad Cannstatt. Das wusste schon Gottlieb Daimler zu schätzen. Am Rande dieses Idylls kaufte sich der Ingenieur im Jahre 1882 eine Villa. In deren Gartenhaus tüftelte er mit Wilhelm Maybach Tag und Nacht an der Vision individueller Mobilität. 1885 bauten die beiden die sogenannte Standuhr: den weltweit ersten kleinen schnelllaufenden Verbrennungsmotor, der mit Benzin betrieben wurde. Eine getunte Version dieses Modells ließen sie im Sommer 1886 in eine Pferdekutsche montieren. Anschließend unternahmen sie streng geheime Fahrversuche zwischen Esslingen und Bad Cannstatt. Diese Motor-Kutsche war das erste Automobil mit vier Rädern und einem Benzinmotor.

Man stelle sich Gottlieb Daimler heute vor, wie er sich mit einem Daimler von seinem Anwesen am Kurpark auf eine Fahrt nach Stuttgart aufmacht. Der Autopionier würde staunen, welche Malaises er mit der Standuhr angestoßen hat: Stauhauptstadt, Feinstaubalarm, Messstellendauerrekord am Neckartor – längst ist Daimlers einstige Vision für viele Stadtbewohner durch schlechte Luft, Lärm, Flächenverbrauch, Staus und Klimaerwärmung zum Albtraum geworden.

Auch deshalb lässt sich das Ende von Daimlers Erfindung absehen. Volvo will in zwei Jahren nur noch Autos mit E-Motoren produzieren. In Großbritannien und Frankreich sollen ab 2040 keine neuen Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor mehr auf die Straßen rollen. In Norwegen könnte das E-Zeitalter schon 2025 beginnen. Die deutsche Autoindustrie hält (noch) unbeirrt an der alten Technologie fest, lobt vermeintliche Umweltprämien aus, um den eingebrochenen Dieselabsatz anzukurbeln. Oder versucht, sich vom Abgasbetrug freizukaufen, indem sie zur Hälfte den Fonds "Nachhaltige Mobilität für die Stadt" füllt, der Anfang August beim Berliner Dieselgipfel mit der Politik vereinbart wurde.

Geld von Daimler soll Verkehrskollaps beheben

Mit 500 Millionen Euro sollen in den 28 besonders abgasbelasteten Regionen Deutschlands der öffentliche Personennahverkehr, intelligente Verkehrssteuerungs- und Parkleitsysteme, neue Schienenfahrzeuge und emissionsarme Busse sowie eine bessere Radverkehrsinfrastruktur gefördert werden. Es besitzt eine gewisse Ironie, dass damit auch Geld vom Autokonzern Daimler in die Heimatstadt seines Namensgebers fließt, um den Fluch des überbordenden Verkehrs zu mildern.

Wie schwierig jedoch der Wandel ist, zeigt sich gerade hier. Stuttgart genießt den Ruf, Autohauptstadt Deutschlands zu sein. Nicht nur, weil Daimler und Porsche hier ihren Stammsitz haben, sondern auch, weil nur 7,5 Prozent der täglichen Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt werden, dafür 55,5 Prozent mit dem Auto. So viel wie in kaum einer anderen deutschen Großstadt, wie <link https: www.greenpeace.de sites files publications external-link-new-window>Greenpeace in einem Städte-Ranking zur nachhaltigen Mobilität feststellt. Auch gehört Stuttgarts Pkw-Dichte zur höchsten deutscher Großstädte. Laut Kraftfahrtbundesamt waren zu Jahresbeginn 298 172 Personenkraftwagen hier zugelassen. Auf 1000 Einwohner kommen 487 Pkws und verstopfen die Straßen der Stadt.

Dennoch schafft es Stuttgart im Greenpeace-Ranking unter den 14 untersuchten Großstädten auf den Mittelfeldplatz sieben. Pluspunkte sammelt die Stadt vor allem bei der Radinfrastruktur. So besitzt die Schwabenmetropole die meisten Bike-and-Ride-Plätze aller Städte. Positiv fällt den Testern auch die Stellplatzpflicht für Räder auf: Laut Bauverordnung müssen in Stuttgart bei jeder neuen Wohneinheit zwei wettergeschützte Stellplätze für Fahrräder geschaffen werden. "Das ist im Vergleich mit anderen Städten vorbildlich", lobt Greenpeace die Vorschrift aus grün-roten Regierungszeiten.

Wo keine Radfahrer, da auch keine verletzten Radfahrer

Bei der Zahl der Leihfahrräder wiederum gehört Stuttgart zu den Schlusslichtern. "Dabei kann eine schnelle Verfügbarkeit von Zweirädern ein Anreiz sein, um mehr Menschen auf den Sattel zu bringen", monieren die Umweltschützer. Punkte gibt Greenpeace dagegen für die Sicherheit: Nur in Dortmund und Essen verunglücken weniger Fußgänger und Radfahrer. Allerdings "sind in Stuttgart aber auch kaum Radfahrende auf der Straße".

Vor Ort an Gottlieb Daimlers einstiger Wirkungsstätte lässt sich erkennen, was nachhaltiger Mobilität im Weg steht – einmal abgesehen von den zwei gigantischen Baustellen, auf denen Verkehrswege der Zukunft entstehen sollen: einer Neckarbrücke für Stuttgart 21 und dem Rosensteintunnel im Zuge der B10. Über deren Sinn sind die Meinungen gespalten. Für Stuttgart-21-Befürworter bringt das milliardenschwere Bahnprojekt mehr Fahrgäste in Züge, für die Kritiker ist es ein unsinniger Schienenrückbau. Beim Straßentunnel prognostizieren die einen weniger Verkehr in Cannstatter Wohngebieten, die anderen sehen ihn als Ausweichroute für chronisch überlastete Autobahnen und verbinden damit mehr Durchgangsverkehr und Abgase. Im Stadtbezirk selbst erobern sich die Radler langsam den Straßenraum. So führt seit 2015 Stuttgarts Hauptradroute 1 auch durch Bad Cannstatt. Doch die wichtigste Verbindungsachse für den hiesigen Radverkehr endet unterwegs im Nichts. Am Verkehrsknoten Cannstatter Wilhelmsplatz bleibt Radlern Richtung Stuttgart-City nichts anderes übrig, als einen zeitraubenden Umweg über den Cannstatter Bahnhof zu nehmen. Während Volks- und Frühlingsfestzeiten gibt es wegen der Festbesucher gar kein Durchkommen für Radfahrer.

Politischer Gegenwind bremst zusätzlich. Dass Autofahrer mit Radfahrern mehrspurige Straßen teilen, also Fahrbahnen zu Radwegen werden, ist den konservativen Kräften im örtlichen Bezirksbeirat ein Dorn im Auge. Für CDU-Fraktionschef Roland Schmid führt die Hauptradroute "vor allem im morgendlichen und abendlichen Berufsverkehr zu langen Staus" und wurde von der "öko-linken Mehrheit im Gemeinderat aus rein ideologischen Beweggründen" angelegt. Radfahrer sehe man darauf selten, da es bessere und schönere Alternativrouten gebe. Genau dies will die AfD nun mit einer Verkehrszählung beweisen – und bei entsprechendem Ergebnis den Rückumbau zur Fahrbahn für Autos beantragen. Dass Hunderte Anwohner der Nürnberger/Waiblinger Straße seither ruhiger leben, weil laute Überholmanöver und Wettrennen rücksichtsloser Autofahrer mit nur noch einer Fahrbahn nicht mehr möglich sind, übersehen die Autobefürworter geflissentlich.

Marktplatz war Parkplatz – heute haben Fußgänger Vorfahrt

Der Streit, wie autogerecht eine Stadt sein darf, wird in Bad Cannstatt seit Jahrzehnten ausgefochten. Zum Beispiel am historischen Marktplatz. Dieser war in der Nachkriegszeit nämlich vor allem ein Parkplatz. Seit 1975 wurde darüber gestritten, ihn autofrei zu machen. CDU und FDP traten stets auf die Bremse. Nachdem die Gemeinderatswahl 2009 eine öko-linke Mehrheit hervorgebracht hatte, dauerte es noch vier Jahre, bis die 50 Stellplätze abgeschafft wurden: Im Juli 2013 bekamen Fußgänger und Radfahrer in mittelalterlicher Kulisse Vorfahrt. Seither wird der Platz im Sommerhalbjahr auch für Open-Air-Veranstaltungen genutzt.

Im Gegenzug forderten CDU und FDP neue Parkplätze an anderer Stelle der Cannstatter Altstadt. Nach ihren Vorstellungen sollte die Stadtbahnlinie U13 aus der Badstraße verschwinden, um auf den Gleisflächen 30 Stellplätze anzulegen. Letztlich scheiterten die Konservativen mit ihrer Parkplatzoffensive. Stattdessen soll ab 2018 mit der U16 sogar eine weitere Stadtbahnlinie durch die Badstraße fahren, um zwischen Fellbach und Stuttgart-Feuerbach die rege genutzte Linie 13 zu entlasten. Schon in diesem Herbst bekommt der Stadtbezirk mit der U19 eine neue Linie, die zwischen dem nördlichen Stadtteil Neugereut und dem Cannstatter Wasen pendelt. Eine Verlängerung dieser Linie bis zum Mercedes-Benz-Museum und Cannstatter Daimler-Werktor ist geplant.

Ein Kampf um Parkplätze tobte auch nebenan in der Seelbergstraße, die die historische Altstadt und das Einkaufscenter Cannstatter Carré verbindet. Nach Eröffnung des Konsumtempels im Februar 2006 reichten die schmalen Gehwege nicht mehr für die vielen Fußgänger, die diese Straßenachse bevölkern. Auf Widerstand der ansässigen Einzelhändler stieß der Vorschlag der Grünen, eine Fußgängerzone einzurichten. Schließlich einigte man sich darauf, nur auf einer Straßenseite den Gehweg zu verbreitern, was den Verzicht auf rund 30 Stellplätze bedeutete. Der Umbau wurde Mitte 2014 vollzogen.

Neubaugebiet Neckarpark soll autofrei werden

Eine kleine Revolution bahnt sich im Cannstatter Neubaugebiet Neckarpark an: Hier sollen Autos fast komplett aus dem Stadtbild verschwinden. In dem neuen Stadtteil mit rund 800 Wohneinheiten, der auf einem ehemaligen Güterbahnhofgelände entsteht, sollen die Bewohner ihre Fahrzeuge in einem zentralen Quartiersparkhaus abstellen. "Einzelne straßenbegleitende Stellplätze sind leider noch vorgesehen", kritisiert Peter Mielert, Grünen-Fraktionschef im Bezirksbeirat.

Schon im November bricht in Bad Cannstatt sowie in Stuttgarts Stadtbezirken Nord und Süd ein neues Mobilitätszeitalter an. Dann startet das sogenannte Parkraummanagement (PRM), mit dem alle Stellplätze an öffentlichen Straßen gebührenpflichtig werden. Anwohner dürfen mit einem Parkausweis, der jährlich 30,70 Euro kostet, weiterhin gebührenfrei parken. Die Bewirtschaftung soll vor allem Einpendler bewegen, auf Busse und Bahnen umzusteigen, und so Parkdruck und Parkplatzsuchverkehr drosseln. Erfahrungen aus Stuttgart-West und -Ost, wo das PRM bereits eingeführt ist, bestätigen diese Erwartungen.

"Eine nachhaltige Verkehrswende hat in einigen deutschen Städten begonnen, doch in keiner ist sie auch nur annähernd abgeschlossen", lautet das Fazit im Greenpeace-Städteranking. Noch immer sei das Privatauto das Maß der städtischen Verkehrsplanung. Damit Deutschlands Städte beim Aufbau einer nachhaltigen Mobilität nicht den Anschluss an moderne europäische Städte wie Kopenhagen, Amsterdam oder Zürich verlieren, brauche es mehr als ein schlichtes Nachjustieren. "Nötig sind mutige und innovative neue Verkehrskonzepte, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientieren, nicht an denen der Autos", so Greenpeace. Ob dies auch Gottlieb Daimler unterschrieben hätte?


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3 Kommentare verfügbar

  • Fritz Meyer
    am 28.08.2017
    Antworten
    Stuttgart hat sich seine Zukunft "nachhaltig" verbaut. Was in der - treffenden - Beschreibung dieses Artikels allerdings noch fehlen sind diverse Einwohner, die einem derzeit besonders oft auffallen (und nicht nur in Stuttgart):

    Da haben wir die Neureichen, die mit ihren übermotorisierten…
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