KONTEXT:Wochenzeitung
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Am Tisch mit der politischen Macht

Am Tisch mit der politischen Macht
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Ist die Presse wirklich die Vierte Gewalt, die den Mächtigen auf die Finger haut? Unser Autor hat daran seine Zweifel. Das Wichtigste sei, beim Presseball am Tisch der Mächtigen zu sitzen und die Botschaft auszusenden: Wir sind eins. Und Stuttgart 21 fällt dann halt unter denselben.

Für mich hat das Streifen durch die Zeitungskioske in den großen deutschen Bahnhöfen immer etwas Deprimierendes. Einerseits sieht man da sehr viele Zeitungen, und das ist schön, aber in dieser farbenfrohen Vielfalt steckt auch eine grau-triste Einfalt. Ja, es sind sehr bunte Blätter, die man da sieht, wirklich bunte Blätter. Fast alle, 8000 liegen in den großen Bahnhofskiosken aus, sind Unterhaltungsmagazine. Prominent präsentiert werden Zeitschriften zum Thema Garten, Garten, Garten, Auto, Auto, Auto, Frau, Frau, Frau, Computer, Computer, Computer.

Klar, man findet auch den Spiegel, die Zeit, die SZ – aber explizit politische Magazine, vielleicht sogar linke Zeitschriften, etwa Konkret, Titanic, Jungle World, Lunapark, da muss man richtig suchen. In meinem Heimatdorf auf der Schwäbischen Alb bekomme ich am Kiosk nur auf Bestellung die SZ oder die FAZ, die taz nicht. Neulich lagen zwei Ausgaben des Spiegel aus – und 15 Magazine "Alblust".

Ist das schlimm? Vielleicht.

Ich bin kein Unterhaltungsmuffel. Als ich Chef der taz war, in den 90ern, haben wir eine Humorspalte eingeführt, wir haben die taz damals auch thematisch geöffnet – für damals noch so politisch überaus inkorrekte Themen wie Essen und Trinken, wir machten ein vordergründig unpolitisch scheinendes Sonderheft, "satt & selig" hieß es; und zum 17. Geburtstag gab es eine Ausgabe, die ausschließlich Karikaturisten gestaltet hatten.

Aufklären? Dafür steht ein Großteil der Medien nicht

In meinen eigenen Artikeln und Gesprächen habe ich stets versucht und versuche es noch immer, ein Motto der guten, alten BBC (sie ist, obwohl es sie noch gibt, längst untergegangen, leider) umzusetzen: To inform and to enlighten and to entertain – informieren und aufklären, Wissen vermitteln, und das auf möglichst spannende und kurzweilige Weise. Aber dafür, fürchte ich, steht ein Großteil der Print-Medien nicht.

Ist das schlimm? Vielleicht.

Die Gesellschaft zerfasert, die Spaltung zwischen Arm und Reich nimmt ständig zu, die Spannungen nehmen zu, das Auftauchen, das Erstarken der AfD, der zunehmende Hass gegen Ausländer, das Fremde – alles Anzeichen dafür, dass es zunehmend ungemütlich wird in diesem Land. Wobei "ungemütlich" ein gemütlicher Ausdruck ist, ein Euphemismus, zu den sich verschärfenden Klassengegensätzen.

Und hat dies etwas mit "den" Medien zu tun? Ich denke schon.

Wenn ich die Zeitschriften sehe, denke ich automatisch: Es geht hier um Brot und Spiele. Aber das Ganze ist kein Spiel.

Ich habe vor einigen Jahren ein langes "Stern"-Gespräch mit Jürgen Todenhöfer geführt. Todenhöfer war in den 70er-, 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts einer der kältesten der Kalten Krieger, ein Reaktionär, er war Ehrenoberst der US-Armee, er saß für die CDU 18 Jahre im Bundestag, und er gab dort den ultra-rechten Hardliner. 1980 fuhr er als Verteidigungsexperte immer wieder ins sowjetisch besetzte Afghanistan, unterstützte dort die Mudjahedin, die Vorläufer der Taliban. Als ich ihn traf, war er stellvertretender Vorstandschef der Burda-Medien und nun ein vehementer Kritiker der Antiterrorkriege des Westens: "Bin Laden", sagte er, und das war auch die Überschrift des Gesprächs, "hat viel weniger Menschen getötet als George Bush."

Dieser Todenhöfer, fast vergessen, war auch der Medienexperte der Regierung Kohl, er war ein enger Vertrauter von Leo Kirch, dem späteren Medienzaren. Wenn man so will, machte Todenhöfer Leo Kirch zum Herrn über das entstehende Privatfernsehen. Wir wollten, so sagte mir Todenhöfer, den Rotfunk, also die ARD und dort vor allem den WDR (der damals als besonders links galt) zerstören, wir wollten aber vor allem die Politmagazine, Panorama, Monitor zerstören. Und das Angriffsmittel waren Shows, Erotikshows, Quizshows, Krawallshows, Unterhaltungsfilme, Sport, Sport und nochmals Sport.

Harald Schmidt hilft bei der Verdummung mit

Ganz wichtig bei dieser Attacke war ein Schwabe aus Nürtingen: der Entertainer Harald Schmidt. Sein Auftrag war, das Kabarett, das als prinzipiell linksverdächtig galt, also Hildebrandt & Co, nicht nur zu entschärfen, und als "Gutmenschentum" zu verhöhnen, sondern das Kabarett strukturell in etwas zu verwandeln, das nicht mehr der Aufklärung verpflichtet ist, sondern, etwas platt ausgedrückt: der Verdummung. Harald Schmidt änderte den Charakter des Kabaretts, er machte sich lustig über Minderheiten, verspottete Schwache, machte Polenwitze. Mit dieser rücksichtslosen Enttabuisierung half er mit, dass dieses Land (sozial)-politisch verrohte.

Wenn man heute das öffentliche Fernsehen sieht, das an Wochenenden rund um die Uhr Sport sendet, wichtige Dokumentationen spätnachts versendet (wenn sie überhaut noch produziert werden), wenn man heute Comedians wie Nuhr hört – dann weiß man: Die Attacken von Todenhöfer & Co waren mehr als erfolgreich. Und dieses seichte Fernsehen, dieses Leitmedium, hat natürlich auch die anderen Medien nach und nach verstrahlt. Ich weiß, er ist ein Verfemter, gleichwohl ein Gedanke von ihm, von Lenin: "Schlechte Kultur setzt sich immer durch."

Schleichend wandelt sich der Charakter von vielen Medien. Man sieht es auch an den hiesigen Zeitungen: Vor ein paar Jahren machte die Stuttgarter Zeitung eine Blattreform: Die Bilder wurden größer, die Schrifttypen größer, die Überschriften größer, bunte Infografiken ploppten überall auf, der Weißraum wurde größer, die Texte kürzer – sogar ziemlich dramatisch kürzer: um rund 20 Prozent (nur in Parenthese: damit wurden auch 20 Prozent der eh schon dürftigen Löhne für Freie eingespart!) Alles kürzer, alles leichter, alles bunter, alles unterhaltsamer – das ist die Devise. Und mit ihr einher geht, subkutan, eine Entpolitisierung, die jedoch wiederum sehr politisch ist: Der Leser erfährt weniger über die Wirklichkeit, die ihn umgibt, unter der er vielleicht so gar leidet. Konkret: Der Leser hier in Stuttgart erfährt wenig – es sei denn er liest Kontext – über den strukturellen Wahnsinn des Immobilienprojekts S 21.

43 Zeilen für den Brand im S-21-Tunnel

Vor wenigen Tagen brannte in einem S-21-Tunnnel eine Baumaschine. Großeinsatz der Feuerwehr, Rauch, Qualm, Anwohner wurden aufgefordert, Türen und Fenster zu schließen, stundenlang kämpften die Feuerwehrleute in Stuttgarts Untergrund. Der StZ war der Tunnelbrand (der ja auch vorwegnimmt, was bei S 21, falls es denn realisiert würde, mal mit vollen Zügen passieren kann), war dieses Unglück 43 Zeilen wert, den StN 39 Zeilen. Die Zeitungen zeigten dramatische Bilder vom Helden-Kampf der Feuerwehrleute? Nein, das taten sie nicht, keine Bilder gab's vom Unglücksort.

Zufall? Vielleicht.

Wenn im Neckarstadion, Verzeihung, in der Mercedes-Benz-Arena, in der Umkleidekabine ein Brand ausgebrochen, die Feuerwehr stundenlang im Großeinsatz gewesen wäre – wie wäre dann die Berichterstattung gewesen? Was hätte man da für Bilder gesehen?

Ein kurzer historischer Ausflug: Schon ein paar Wochen, nachdem die Nazis im Januar 1933 an die Macht gekommen waren, betonte Joseph Goebbels, wie wichtig ihm Unterhaltung ist. In seiner Rede im Berliner Hotel Kaiserhof im März 1933 erklärte der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, bei dem Ziel, den deutschen Film (statt Film kann man auch Zeitung/Fernsehen denken) "von der Wurzel aus zu reformieren", sei es wichtig, das "Schaffen des kleinsten Amüsements, des Tagesbedarfs für die Langeweile" nicht zu vernachlässigen.

Und im Laufe des Zweiten Weltkrieges legte Goebbels immer mehr Wert auf unterhaltende Stoffe. Gerade der Unterhaltungsfilm, sagte er, sei "als wertvolles Instrument der Volksführung im Kriege" ernst zu nehmen – auch das Lustspiel, betonte er 1940, könne tiefere Bedeutung haben. Von sogenannten "ernsthaften" Filme hielt Goebbels hingegen gar nichts, ihre "abwegige Problemstellung" lehnte er ab. 1942 forderte Goebbels explizit die Produktion von Unterhaltungsfilmen und notierte am 8. Februar 1942 in seinem Tagebuch: "Auch die Unterhaltung ist heute staatspolitisch wichtig, wenn nicht sogar kriegsentscheidend".

Brot und Spiele. Das alte Herrschaftsspiel.

Im Grundgesetz, Artikel 5, heißt es: "Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt." Die Pressefreiheit ist also ein hohes Gut.

Aber, das ist die entscheidende Frage: Wie geht die Presse mit diesem Gut um? Versteht sie sich als Vierte Gewalt? Ist sie Vierte Gewalt? Hat sie also tatsächlich Lust, hat sie die Kraft, hat sie überhaupt die Intention, den Mächtigen, den Regierenden auf die Finger zu gucken? Auch mal auf die Finger zu hauen? Sind die Medien gefährlich für die, sagen wir mal ganz altmodisch: die Herrschenden?

Im Adlon sind die Chefredakteure bollestolz

Jedes Jahr, im Winter, gibt es den Bundespresseball an einem noblen Ort in Berlin, im Adlon. Es ist ein hochwichtiges gesellschaftspolitisches Großereignis, ein Hochamt der Eitelkeiten, 2500 Gäste aus Politik, Wirtschaft und Kultur sind geladen, der Bundespräsident eröffnet den Ball traditionell mit einem Walzer, er tanzt mit der Frau des Vorsitzenden der Bundespressekonferenz. Aber das Wichtigste ist: Wer darf am Tisch des Bundespräsidenten, der politisch Mächtigsten sitzen? Wenn man da sieht, wie bollestolz die Chefredakteure oder Herausgeber der wichtigsten Zeitungen oder anderer Medien dann sind, wenn sie da, direkt bei der Macht, Wange an Wange sitzen dürfen – da kann man den Glauben an die Vierte Gewalt verlieren.

Die Botschaft, die von diesem Regierungs-Macht-Tisch ausgeht: Wir gehören zu Euch. Wir sind eins.

"So lange es Zeitungen wie die Neue Zürcher Zeitung gibt", sagte Max Frisch in den 1970er Jahren, "braucht man keine Zensur." Das sagte dieser Schriftsteller – wohl wissend, dass die NZZ weltweit (und dies seit Jahrhunderten) als eine der besten Zeitungen gilt.

Er war kein Linker wie Max Frisch, das ganz gewiss nicht, Paul Sethe war ein Konservativer, CDU-Mitglied, er war Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, aber was den Journalismus betrifft, war er von einer Klarheit, die man heute als altmodische Klassenkampf-Rhetorik diffamieren würde. Am 5. Mai 1965 schrieb Sethe an den Spiegel einen Leserbrief, ich zitiere: "Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten." In dem Brief hieß es weiter: "Da die Herstellung von Zeitungen und Zeitschriften immer größeres Kapital erfordert, wird der Kreis der Personen, die Presseorgane herausgeben, immer kleiner. Damit wird unsere Abhängigkeit immer größer und immer gefährlicher." Er wisse, dass es im deutschen Pressewesen Oasen gebe, "in denen noch die Luft der Freiheit weht, [...] aber wie viele von meinen Kollegen können das von sich sagen?"

Es gibt eine mediale Autoritätsgläubigkeit gegenüber Politik, auch gegenüber der Wirtschaft, ­ die für die Regierenden sehr praktisch ist. Eine irre Autoritätsgläubigkeit gegenüber PR-Abteilungen, die heute professionell arbeiten, Journalisten freundlichst unterstützen: mit gut geschriebenen Artikeln, farbigen Charts, klaren Diagrammen, alles so perfekt, dass man das Ganze, der überarbeitete Redakteur ist dafür froh, ins Blatt fallen lassen kann.

Nationale Themen werden im Gleichschritt genommen

Ärgerlich: Bei wichtigen Themen, Themen von nationaler oder systemischer Bedeutung laufen Medien zu oft im Gleichschritt mit – vor allem, wenn es ums Militär geht, wenn es um Schlüsselindustrien, wenn es um Großprojekte geht, wenn es um G7 oder G20, irgendwie um Ehre und Ruhm geht.

1999 greifen Nato-Jets die Bundesrepublik Jugoslawien an. Mit dabei: Deutschland. Kriegsfreudig: Kanzler Schröder, Vizekanzler Fischer. An der Heimatfront, medial bis heute nicht hinterfragt, wird mit Lügen (fast mustergleich wie im Ersten und Zweiten Weltkrieg) gearbeitet, um eine kriegsunwillige Bevölkerung umzustimmen. Fischer, komplett durchgeknallt, spricht davon, dass man "ein neues Auschwitz" verhindern müsse, Scharping, völlig irre, erfindet einen "Hufeisenplan", nach dem Serben albanische Zivilisten vertreiben: "Wenn ich höre, dass man die Eltern und die Lehrer von Kindern zusammentreibt, und die Lehrer von den Kindern erschießt ... dann ist da etwas im Gange, wo kein zivilisierter Europäer mehr die Augen zumachen darf." Und: Die Serben, so Scharping, "spielen mit abgeschnittenen Köpfen Fußball, zerstückeln Leichen, schneiden den getöteten Schwangeren die Föten aus dem Leib und grillen sie". Er schildert das so, als wäre er dabei gewesen.

Aber: Dieser KZ-Horror – reine, nein, unreine Lüge. Später, als die Nato-Bomben aus den Flugzeugen fielen, gab es unfassbare Gräuel – <link https: www.kontextwochenzeitung.de politik external-link-new-window>an Zivilisten, Soldaten, das ist leider wahr. Krieg ist Krieg. Heute wird über die Bundeswehr wieder viel geredet: Die Bundeswehr ist doch eine Lachnummer! Sie ist am Ende, sie hat U-Boote, die nicht tauchen können, sie kriegt nichts mehr hoch, keinen Hubschrauber, kein Flugzeug, gar nichts funktioniert, sie schafft es nicht mal, ihre Soldaten aus Afghanistan zurückzuholen! Da lacht der Komiker. In der satirischen "Heute-Show" spottet ZDF-Mann Oliver Welke über "Uschis Resterampe", und er lästert über die "vielen Panzer, die nur noch von Tesafilm und von der Leyens Haarspray zusammengehalten" werden.

Aber noch viel mehr, viel, viel mehr als Komiker Welke lachen die Militärstrategen in ihren Büros und Bunkern. Sie lachen sehr, weil der Komiker ihr Geschäft unterstützt: Aufrüstung. Umrüstung der Bundeswehr zu einer Angriffs- und global agierenden Interventionsarmee. Es waren die Inspekteure der Bundeswehr, die die Aufregung über die angebliche Schrott-Armee mit einem internen Papier für den Verteidigungsausschuss entfacht haben, wohl wissend, dass ihr Manöver zum Sieg führen würde.

Der Krieg ist nicht das Thema, sondern die Gurkentruppe

Statt über den 18-jährigen Krieg in Afghanistan zu reden, was er insgesamt gekostet hat (fast 800 Milliarden Euro), was er gebracht hat (ein zerstörtes, nicht befriedetes Land): dass er und die Irak-Kriege neben Tausenden Toten auch Hunderttausende, ja Millionen Verletzte, Verstümmelte, Verzweifelte und Vertriebene (die auch nach Europa drängen) verursachten – also statt darüber zu reden und in den Medien zu debattieren, spottet die Nation über die Gurkentruppe. Und diskutiert vor allem auch nicht darüber, ob die unerklärten, jahrzehntelangen Kriege gegen den Irak und Afghanistan, die außergerichtlichen Tötungen durch US-Spezialeinheiten, die völkerrechtswidrigen Exekutionen durch Drohnen in vielen muslimischen Staaten Terror-Zuchtprogramme sind, die eben jene Monster schaffen, gegen die man glaubt, nur durch noch mehr Bomben siegen zu können.

Stattdessen, medial, das große Bedauern: Dass die Bundeswehr es dieses Jahr wieder nicht schafft, den Rüstungsetat auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukt hochzutreiben – was fast eine Verdoppelung des eh schon gigantischen Etats wäre, auf gut 70 Milliarden Euro. Ein Rüstungsetat, der den Charakter des Landes ganz gewiss radikal verändern würde: Sparta-Deutschland.

Aber diese Aufrüstung, das müsse sein, heißt es etwa in der "Zeit": "aus eigenem Interesse". Ebenso wie Politiker und Militärs und Rüstungslobbyisten, so machen viele im Radio, im Fernsehen, in Zeitungen nun mit: Unsere Armee ist unterfinanziert. Unsere Armee muss modernisiert werden. Wer an diesen Wahrheiten zweifelt, das ist Konsens, den muss man nicht mehr ernst nehmen. Wer am Sinn von Auslandseinsätzen zweifelt, der ist der Komiker im Land. Wer Krieg als Mittel der Politik noch immer infrage stellt – ein gefährlicher Fantast. Man ist sich einig: Deutschland muss Kriege führen und kann es nicht. So klagt die liberale "Zeit", dass im Gegensatz zur wiedererstarkten "Weltpolizei USA" die "Armee der viertstärksten Wirtschaft auf Erden" einfach "ein Witz" sei. "Zeit"-Kommentator Josef Joffe fragte schon vor ein paar Jahren ganz zornig: "Wieso sind nur acht von 101 Eurofightern 'voll einsatzfähig' und von 104 Tornados nur 36? Wie sollte dieser klägliche Rest in den Krieg fliegen, wenn die Luftwaffe nur vier Tankflugzeuge hat?"

Hat irgendjemand aus den großen Medien die Behauptungen der Militärs ernsthaft überprüft? Die Bundeswehr ist kein unterfinanzierter Schrotthaufen. Der Verteidigungshaushalt ist einer der größten der Welt. Aktuell umfasst der Wehretat (er ist der zweitgrößte Ressortposten im Haushalt) 42, 9 Milliarden Euro.

Eine ähnliche Komplizenschaft der meisten Medien gab es bei einem anderen wichtigen Projekt: bei Hartz IV und der Agenda 2010, bei diesen Chiffren für das rücksichtslose Schleifen des Sozialstaats. Die meisten Medien übernahmen deckungsgleich die Sprachregelungen aus Berlin. Sie akzeptierten, dass diese sogenannten Reformen "alternativlos" seien. Sie akzeptierten damit etwas, was es in einer demokratischen Gesellschaft nie geben darf: totalitäres Denken. Denn: Wenn man in der Politik nicht mehr in Alternativen denken kann, zu was braucht man dann noch Wahlen?

Bei genauerem Hinschauen hätte es S 21 nicht gegeben

Ein Letztes, wenn die Vierte Gewalt bei Großprojekten genauer hingucken würde, würde es viele Großprojekte nicht geben. Wenn der SWR, die Stuttgarter Nachrichten, die Stuttgarter Zeitung von Anfang an bei S 21 genau hingeguckt und nicht nur – von einigen wenigen, sehr wichtigen tapferen StZ-Kollegen abgesehen – Jubelberichte gebracht hätten, wenn die einfach sorgfältig hingeguckt hätten, so wie sie bei einem Hartz-IV-Empfänger hingucken, wenn der einen kleinen Betrug begeht, dann würde es dieses Projekt nicht geben. Und der Staat würde sich Milliarden sparen.

Und die Stadt Stuttgart würde wahrscheinlich eine kluge Einwohnerin nicht verlieren: Die Kabarettistin Christine Prayon überlegt, ob sie wegen S 21 die Stadt verlassen soll, sie sieht bei einer S-21-Demo die Rolle der Medien so: "Danke, liebe 'FAZ', liebe 'Welt', liebe 'Süddeutsche', lieber 'Focus', ach ja, liebe 'Stuttgarter Zeitung', dass ihr uns wochenlang mit Wesentlichem, mit Inhalten, mit der Wahrheit verschont und damit für Ruhe im Land gesorgt habt. Danke, dass ihr uns nicht mit Artikeln über die 'Arroganz der Mächtigen' und die 'Entmündigung der Bürger' genervt habt, sondern lieber die Chancenlosigkeit des Protests erwähntet."

Was, zum Schluss, nicht verschwiegen werden darf: ein Problem sind auch die Leser und Leserinnen. Warum, warum bloß, greifen sie zu diesen bunten, seichten Produkten? Es ist wie mit dem Auto: Alle, fast alle, also bis auf Verkehrsminister Andreas Scheuer, wissen, dass Radfahren, Zugfahren besser ist. Und doch, wider dieses Wissen, werfen sich fast alle Bundesbürger ins Auto, auch wenn es nur darum geht, sonntags ein paar Brötchen zu kaufen – in einem Laden, ein paar Hundert Meter von Zuhause entfernt.


Der Text ist eine gekürzte Fassung der Rede, die der langjährige Stern-Autor Arno Luik beim Demokratiekongress der Anstifter gehalten hat. Zum Schluss ermunterte er das Publikum, möglichst viele Kontexte zu schaffen.


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9 Kommentare verfügbar

  • Philipp Horn
    am 23.04.2019
    Antworten
    Hat Arno Luik nicht für den Stern geschrieben?Der sich so gnadenlos blamiert hat mit den angeblichen Hitler Tagebüchern?
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