Diese Volksabstimmung wie eine Monstranz vor sich herzutragen, ist wirklich eine Ungeheuerlichkeit. Die Volksabstimmung beruhte auf mehreren Versprechungen, vor allem der, dass der Kostendeckel eingehalten wird. Und schon ein paar Wochen danach hat die Bahn gesagt: Ätsch, es kostet 1,2 Milliarden mehr. Spätestens ab diesem Augenblick war die Volksabstimmung ein Betrug, eine Farce. Und da hätte ein Ministerpräsident, der geschworen hat, Schaden von seinen Bürgern abzuwenden, eingreifen müssen. Er hätte die Nichtigkeitsklausel ziehen können und müssen, wenn der Finanzierungsrahmen gesprengt wird, dann wäre man draußen gewesen. Er hätte, das kann man doch von einem fürsorgenden Regenten erwarten, nur die Verträge lesen müssen.
Warum hat er das in Ihren Augen nicht gemacht?
Kretschmann ist ein Schlaule. Er denkt strategisch. Der wollte die Macht, wollte noch weiter hoch, vielleicht sogar Bundespräsident werden. Das wollte er nicht aufs Spiel setzen wegen so einem blöden Bahnhof.
Sie kritisieren die Südwest-Grünen, Kretschmann und Hermann, besonders scharf. Gibt es im Zusammenhang mit S 21 nicht andere, die dies eher verdienen?
Hermann und Kretschmann – Stuttgarts Oberbürgermeister Kuhn spielt keine große Rolle, der ist bloß ein Mitläufer – sind für mich die tragischeren Figuren als die Ex-Ministerpräsidenten Mappus und Oettinger oder die Ex-Bahnchefs Mehdorn und Grube, all diese S-21-Obertäter. Weil diese Leute ihren "Idealen", ihren falschen Zielen treu geblieben sind. Aber die Grünen haben ihre Ideale aufgegeben, haben sie verraten. Sie wurden primär wegen S 21 gewählt bei diesen Landtagswahlen 2011. Und anschließend, unfassbar schnell, legen sie die totale Kehrtwende hin, exekutieren sie das, was für sie kurz vorher noch ganz furchtbar war – das macht mich fassungslos. Weil S 21 – man kann es drehen und wenden, wie man will – ein absolut sinnloses und gefährliches Projekt ist.
Dazu würden die Grünen wohl sagen, dass sie an dieser Stelle ihre Ideale aufgeben, um sie an anderer Stelle durchsetzen zu können.
Ja? Wie etwa bei den Gigalinern, diesen Monster-LKWs? Immer gut, eine entlastende Begründung zu finden. Man nennt das ja gern: Realpolitik. Aber irgendwann wird es schwierig. Bei so einem Projekt, bei dem sogar der jetzige Bahnchef sagt: Wenn wir gewusst hätten, was das kostet – wobei das eine Lüge ist, dass die Bahn das nicht wusste –, dann hätten wir das nicht gemacht. Kretschmann hätte jetzt eine historische Chance, als großer Held dazustehen, er könnte aus staatspolitischen Gründen sagen, weil S 21 nun sogar die Existenz der hochverschuldeten Bahn selber gefährdet: Die Groko in Berlin will 50 Prozent mehr Bahnverkehr. Dieses S 21 zerstört diese Absichten, es wird bloß weitere Milliarden verschlingen, zieht jetzt die Notbremse, bitte! Die Vernunft zwingt uns dazu! Das könnte er sagen. Aber der Ministerpräsident schweigt.
Dann würde sein Koalitionspartner CDU vermutlich auf die Barrikaden gehen.
Meinen Sie? Ich glaube nicht. Selbst der CSU-Bundesverkehrsminister ist ja für mehr Verkehr auf die Schiene – was Stuttgart 21 faktisch verhindert. Kretschmann könnte es also sogar mit der CSU – sind ja seine Freunde – gut begründen. Aber ich glaube ohnehin nicht, dass Stuttgart 21 je eingeweiht wird.
Warum?
Es könnte schon sein, dass die Bahn es schafft, eine Brandschutzgenehmigung zu bekommen, mit ganz vielen Tricks, und wenn sie irgendeinen Beamten beim Eisenbahnbundesamt findet, der 65 ist und seine letzte Unterschrift macht. Aber die werden es nicht in Brüssel durchkriegen, an der europäischen Gesetzgebung wird das scheitern.
Dann wird S 21 der nächste BER?
Der Berliner Großflughafen ist im Vergleich zu Stuttgart Peanuts, Larifari, und zwar auch auf einer politischen Ebene. Denn in Stuttgart wissen alle Beteiligten seit 1992, dass das, was sie da machen, ein Ding der Unmöglichkeit ist. Schon 1992 sprach ein Bahndirektor, als er die Pläne gesehen hatte, in einer Fachzeitschrift von einer "kriminellen Neigung des Bahnhofs". Für mich stellt sich da schon die Frage: Warum passiert dieser unglaubliche Vorgang in Stuttgart? Warum wird der Bahnverkehr hier dermaßen dramatisch behindert, zerstört? Stuttgart ist, so kann man wohl sagen, die Welthauptstadt des Autos. Ist es ein Zufall, dass all die Bahnchefs seit 1991, seit Heinz Dürr, bis auf eine Ausnahme alle aus der Autoindustrie kamen, um dann das Konkurrenzunternehmen zur Straße zu leiten? Ist es ein Zufall, dass alle strategischen Entscheidungen der Bahn den Effekt haben, dass das Bahnfahren immer noch schlechter wird? Und all diese Bahnchefs haben im diametralen Gegensatz zum offiziellen Glaubensbekenntnis der Politik agiert, nämlich mehr Verkehr, mehr Menschen auf die Schiene zu bringen. Einerseits macht die Bahn, was sie will. Andererseits sind es aber auch die Politiker, die zulassen, dass dieser Staatskonzern den erklärten staatspolitischen Großzielen ungerührt zuwiderhandelt, zuwiderhandeln darf.
Und dann kommt noch ein wichtiger weiterer Akteur dazu, die Medien. Es gibt ja diesen berühmten Satz des früheren StZ-Außenpolitik-Chefs Adrian Zielcke: "Ohne die Zustimmung der 'Stuttgarter Zeitung' zu diesem Großprojekt würde, so vermute ich einfach einmal, Stuttgart 21 nie gebaut werden." Sie waren einer der ersten, die kritische Artikel über dieses Projekt geschrieben haben. Und das im "Stern", einem Magazin, wo das nicht zu erwarten war.
30 Kommentare verfügbar
Jue.So Jürgen Sojka
am 28.03.2019BW-Trend März 2019 Kretschmann (Grüne)
sehr zufrieden / zufrieden 72 -3 _ weniger / gar nicht zufrieden 21 +2
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