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Das Übel

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Spazierengehen in der Stadt ist für mich alles andere als ein Kult, auch keine Lockdown-Obsession, nur eine halbwegs gesunde Methode, an der Luft was aufzuschnappen. Neulich war ich auf dem Rote-Socken-Weg an den südlichen Hügeln der Stadt. Diese Wanderroute heißt wirklich so, die Naturfreunde haben sie so getauft. Normalerweise trägt man rote Socken an den Füßen. Die CDU hat sie sich ins Hirn gestopft. Finaler Sockdown.

In Wahlkampf des deutschen Herbsts '21 wäre es das Vernünftigste, sich zu Hause dem Vergilben der Tapeten und dem Lärm der Baumaschinen vor den Fenstern hinzugeben. Ich weiß, diese ständigen Hinweise auf angeblich doofe, aber tatsächlich noch doofere Wahlplakate sind nicht einfallsreicher, als seine Eindrücke von einer Stadt mit Taxifahrer-Sprüchen zu schildern.

Neulich habe ich einen türkischen Taxifahrer gefragt, wie das Geschäft in der Pandemie laufe. Ach ja, sagte er, ganz gut, er fahre ja eh nur für ein Taschengeld. Wie er das meine, wollte ich wissen. Na ja, sagte er, seine Frau sei Ärztin und er Maschinenbauingenieur. Er sei beruflich sehr viel unterwegs gewesen, nur zwei Monate im Jahr zu Hause. Eines Tages habe seine Frau gesagt: Entscheide dich! Jetzt finanziere seine Frau die Familie, und er fahre dreimal die Woche Taxi für sein Taschengeld. Sehr gut, habe ich gesagt, das ist der Gender-Fortschritt.

Auf der Straße hängt ein Wahlplakat: "Deutsch statt Gendern!" Das Wort "Deutsch" steht auf einem hässlichen blauen Fetzen mit einer abgebildeten Schwarzrotgold-Fahne, und ich frage mich, wie solche Plakatmacher ihr Taschengeld verdienen. Okay, ein Brauner ist immer drin.

Dann gibt es noch Lindner. Der fährt nicht Taxi, sondern Porsche, weil ihm anscheinend jemand Taschengeld gibt. Lindners Dreitagebart-Gesicht sehe ich als Schwarzweißfoto mit dem Mond im Hintergrund über einem Textbalken: "Für mehr Freude am Erfinden als am Verbieten." Diese Zeile birgt eine interessante Logik: Als Thomas Alva Edison den elektrischen Stuhl erfunden hat, um mit der qualvollen Hinrichtung von Menschen für seinen Starkstrom zu werben, löste das bei vielen Leuten große Freude aus. Diese Freude ließ immer schlagartig nach, wenn die Todesstrafe verboten wurde.

Trotz der albernen Wahlarena-Aktionitis sind die Bundestagswahlen bis heute ein wichtiges, ein "relevantes" Thema. Gar nicht so Wenige überlegen sich bis kurz vor Abpfiff qualvoll ernsthaft, wen sie wählen sollen, obwohl die Partei Die Partei auf einem sehr guten Plakat den entscheidenden Tipp längst geliefert hat (im Wahlkampf muss mehr "geliefert" werden, als jeder Pizza-Service verkraftet). Besagtes Plakat sagt uns mit einem einzigen Wort, was wir im Angebot haben: "Irgendwas".

Selbstverständlich ist mir klar, dass mit Wahlen nicht zu spaßen ist. Das Recht auf freie Wahlen, wurde mir schon früh eingetrichtert, sei ein so wertvolles Gut, dass es einer Todsünde gleichkomme, es zu missachten. Ähnliches gilt in unserer Demokratie, für das Streikrecht. Die meisten halten es für eine so großartige Errungenschaft, dass sie Arbeitskämpfe aus demokratischer Überzeugung sofort unterstützen, solange sie niemanden stören: Lokführer-Streiks auf Abstellgleisen, Müllabfuhr-Streiks außerhalb von bewohnten Ortschaften und Kita-Streiks in den Ferien.

Damit wir uns richtig verstehen: Generalstreiks sind bei uns nur legal, wenn "Demokratie" und "Freiheit" bedroht sind. Ob eine Regierungsbeteiligung Lindners diesen Tatbestand erfüllt, ist schwer zu sagen. (Die verquere "Merkel weg!"-Bewegung hat ja bisher ihren Generalstreik aufs Impfen gegen Corona beschränkt, um auf diesem Weg die Republik zum Erliegen zu bringen.)

Jetzt wird auch noch das geistige Klima gekillt

Ich habe immer gewählt, immer gültig, nie Daisy Duck, Florian Silbereisen oder Stuttgarter Kickers auf den Wahlzettel gekritzelt. Genau genommen habe ich das Wählen von der Pike auf gelernt. Erstmals ging ich 1972 an die Urne, zu einer Zeit, als uns dieses Wort eher an Jimi Hendrix und Janis Joplin erinnerte und selbst unsere Suizidgedanken irgendwas mit Pop zu tun hatten.

1972 durften 18-Jährige wählen. Im selben Jahr hatte die CDU versucht, Willy Brandt per Misstrauensvotum zu stürzen. Funktionierte nicht, weil die Stasi, wie zwanzig Jahre später bekannt wurde, ein paar CDU-Stimmen käuflich erworben hatte. Rainer Barzel, ein Vorgänger Laschets, war der Dumme.

Von dieser Art Korruption konnte ich seinerzeit noch nichts wissen, weil in der BRD nie jemand von irgendwas wusste. Dennoch hat sich der käufliche Politiker in meinem staatstragenden Unterbewusstsein verankert. Heute bin ich ein moralisch durch und durch korrupter Wähler, der fröhlich in die Kabine marschiert, um in der Freiheit hinterm zugezogenen Vorhang seine Hosen bis zu den roten Socken herunterzulassen.

Briefwahl? Niemals. Mein Stimmzettel muss nach einem heruntergekommenen Schulgebäude riechen, zum Himmel stinken. Nur so lerne ich, was "Bildung für alle" in der Demokratie bedeutet. Frei nach einem SPD-Poster: Eben noch in einem versifften Hauptschulzimmer, morgen schon im korrupten Bundestag.

Ganz entscheidend für den Start meiner Wählerkarriere war das "kleinere Übel" – seinerzeit ein anderes Wort für SPD. Zwar hatten mich die K-Gruppen-Revolutionäre meiner subversiven Dorfumgebung unter Androhung sozialer Einzelhaft gewarnt, jemals eine Partei zu wählen, für die ein Herr Noske auf Arbeiter schießen ließ. Trotzig aber sagte ich mir mit Wolfgang Neuss: "Pack den Willy in den Tank!" (statt des Esso-Tigers). Das war cool, denn ich hatte ja kein Auto. Und schon war meine Stimme für das kleinere Übel im Kübel.

Einige korrupte Legislaturperioden später las ich auf Wikipedia: "Das Übel ist in der Philosophie ein Begriff, der alles bezeichnet, was dem Guten entgegengesetzt ist." Nach meiner Exegese musste dies auch für das kleinere Übel gelten, allerdings war das Adjektiv "übel" längst ein Übel der sogenannten Jugendsprache. Da war dann auch mal etwas "übel lustig", also irgendwas mit SPD und Scholz (Sonneborn, Smiley).

Damit in die Gegenwart: Wer oder was zum Teufel soll das heute sein, das kleinere Übel? Pack die Baerbock in den Tank? Bereit für Patzer, Pannen, Panzer. Manchmal zieht es dir die roten Socken selbst dann aus, wenn du sie aus Rücksicht auf die Intelligenz der Verfassungsschützer und anderer Laschets als Tattoos an deinen Füßen verewigt hast.

Erlöse uns von dem kleineren Übel: Ein Übel kommt niemals allein, und am Ende gewinnt immer die große Koalition der größten Übel.

Was ich eigentlich sagen wollte: Mir ist das Spazierengehen vergangen. Die Schreckensbilder mit ihren Irgendwas-Visagen in den Straßen killen zu allem Übel vollends das geistige Klima. Deshalb ziehe ich erst wieder los, wenn ich diese verdammte Schulhausnummer hinter mir habe. Hallo, Taxi: letzte Ausfahrt Roter-Socken-Weg, scharf links.


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Ausgabe 709 / Bedeckt von braunem Laub / bedellus / vor 1 Tag 1 Stunde
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