Deutschland und insbesondere Stuttgart sind die wichtigsten Zeugen der schweren Tage meines Exils. Sie sind Zeugen der Tage, in denen ich die Stadt, in der ich geboren wurde und ununterbrochen 58 Jahre gelebt habe, meine Liebsten, meine Mutter, meinen Sohn, meinen Geliebten, meine Freunde und meine Erinnerungen unvermutet zurücklassen musste. Dieses Land, das mir die schwierige Zeit erleichtert hat, will jetzt den Diktator empfangen, der der Grund für mein Leben im Exil ist. Und das mit einem Staatsempfang.
Erdoğan kommt nach Deutschland ...
Sein Besuch verletzt Tausende Exilanten tief – Akademiker, Journalisten, Schriftsteller, Politiker – die wie ich alles zurücklassen und in Deutschland Asyl suchen mussten. Davon bin ich überzeugt.
In einem Bericht des UN-Menschenrechtskommissariats wird festgehalten, dass in mehr als dreißig überwiegend von Kurden besiedelten Städten in der Osttürkei ganze Stadtteile mit schweren Waffen zerstört worden sind. Für die Kurdinnen und Kurden, die in Afrin Angehörige verloren haben, die das Grauen von Sur und Cizre erleben mussten, deren Häuser zerstört wurden, ist Erdoğans Besuch ein weiterer Grund zur Traurigkeit. Das gleiche Gefühl erleben Zehntausende Gefangene, Angeklagte und von ihren Arbeitsstellen Entlassene.
Während ich diese Zeilen schreibe, wird gerade Enis Berberoğlu, Abgeordneter der wichtigsten türkischen Oppositionspartei CHP, aus der Haft entlassen. Am selben Tag kommt die Nachricht, dass Ibrahim Ayhan, ehemaliger Abgeordneter der drittgrößten Partei HDP, sein Leben verloren hat. Auch Ayhan lebte im Exil. Er erlitt einen Herzinfarkt in Erbil (Hewlêr). Seine Kinder, seine Frau, seine Freunde waren nicht bei ihm. Für sein Herz waren das Gefängnisleben und das Risiko, wieder verhaftet zu werden, vielleicht auch die Sehnsucht oder die Grobheit in seinem Land zu viel.
Werden wohl Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an all das denken, wenn sie mit Erdoğan zusammentreffen?
Werden sie die Menschenrechte und die demokratischen Kriterien der EU oder die Bedeutung von Meinungsfreiheit im Kopf haben? Oder werden sie lediglich an die Schließung der EU-Außengrenzen für Flüchtlinge, für die die Türkei sechs Milliarden Dollar kassiert hat, an die Investitionen in der Türkei und den bilateralen Handel denken?
Wie bereits der HDP-Abgeordnete Mithat Sancar erklärt hat, erwartet niemand von Deutschland, dass es die Oppositionellen in der Türkei rettet, aber zumindest soll Deutschland nicht als Retter Erdoğans auftreten. Die Rettung Erdoğans ist nicht gleichzusetzen mit der Unterstützung der Türkei.
Merkel hat Erdoğan in kritischen Zeiten immer unterstützt. Wenn es weltweit für ihn keine Freunde mehr gab und in der Türkei wichtige Wahlen bevorstanden, hat sie sich mit ihm getroffen und Vereinbarungen mit ihm geschlossen.
So ist es auch heute. Die Selfies, die Bundesaußenminister Heiko Maas mit seinem Amtskollegen Mevlüt Çavuşoğlu bei seinem Türkei-Besuch veröffentlichte, zeugen weniger von einem zwangsläufigen Gesprächstermin als von Freundschaft. Mit der Opposition hat Maas in der Türkei nicht das Gespräch gesucht. Die Fotos, wie der vorherige Außenminister Sigmar Gabriel Çavuşoğlu Tee einschenkt, sind uns im Gedächtnis geblieben. Auch der Staatsempfang Erdoğans weist nicht auf eine notgedrungene Beziehung hin.
Frank Überall, der Bundesvorsitzende des Deutschen Journalistenverbands (DJV), bezeichnet den Empfang Erdoğans mit militärischen Ehren in Deutschland als eine Ohrfeige für alle in der Türkei angeklagten Journalistinnen und Journalisten. Damit sendeten Bundespräsident und Bundeskanzlerin das Signal aus, dass die Abschaffung der Pressefreiheit eine innertürkische Angelegenheit sei, die die diplomatischen Beziehungen mit Deutschland nicht trübe, so der DJV-Vorsitzende.
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W. Buck
am 26.09.2018