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Türkischer Rechtsextremismus

"Viel zu lange verharmlost"

Türkischer Rechtsextremismus: "Viel zu lange verharmlost"
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Wie aktiv türkische Rechtsextremisten in Deutschland sind, in welchen Vereinen und Verbänden sie organisiert sind, hatte die Politik bislang wenig auf dem Schirm. Die neue Fachstelle FaTRex will Aufklärungsarbeit leisten – und zwar bundesweit.

Die Ülkücü-Bewegung

Bundesweit werden der Ülkücü-Bewegung, auch als Graue Wölfe bekannt, etwa 12.500 Personen zugerechnet. Mit rund 2.750 Anhängern bildet Baden-Württemberg einen Schwerpunkt, informiert das Landesamt für Verfassungsschutz auf seiner Webseite. Die "Idealisten" (türkisch Ülkücü) streben ein pantürkisches Großreich an. Das türkische Volk halten sie für überlegen und zeichnen sich durch Hass auf die kurdische, die alevitische und die armenische Minderheit aus. Islamismus, Rassismus und Antisemitismus sind ebenso prägend wie das Führerprinzip. Eine genuin rechtsextreme, gewaltbereite Bewegung also, die in der Türkei über die Partei MHP an der Regierung beteiligt ist, sich in Deutschland in der Regel aber eher gemäßigt gibt – Wölfe im Schafspelz sozusagen.  (uls)

Nils Schmid hätte es eigentlich besser wissen müssen. Der SPD-Politiker und ehemalige Vize-Ministerpräsident von Baden-Württemberg engagiert sich für "Schulen ohne Rassismus", ist Mitglied der Deutsch-Türkischen Gesellschaft und hat auch privat Verbindungen in die Türkei und die türkische Community hierzulande, seine Frau Tülây ist türkischer Herkunft. Einer wie er sollte auch den türkischen Rechtsextremismus auf dem Schirm haben, könnte man meinen. Besonders die Ülkücü-Bewegung, auch als Graue Wölfe bekannt, eine der größten rechtsextremistischen Bewegungen in Deutschland (siehe Kasten).

Organisiert sind die türkischen Ultranationalisten in zahlreichen Vereinen und Verbänden mit harmlos klingenden Namen wie der "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland" (ADÜTDF). Die ADÜTDF ist die inoffizielle Vertretung der türkischen rechtsextremen Partei MHP in Deutschland, und einer ihrer laut Verfassungsschutz 18 Mitgliedsvereine im Regierungsbezirk Stuttgart ist der "Deutsch-Türkische Freundschaftsverein" in Filderstadt.

Bei diesem Verein ist Nils Schmid im April 2024 beim Fastenbrechen zu Besuch und postet ein Foto davon auf Facebook. Besonders pikant: Auf dem Bild sind drei Personen zu sehen, die, es ist gerade Kommunalwahlkampf, auf der SPD-Liste für den Gemeinderat kandidieren – und den Grauen Wölfen nahestehen, wie sich später herausstellt. Nils Schmid löscht das Foto und bedauert den Fehler. Der SPD-Ortsverein Filderstadt jedoch hält an zwei der drei Betroffenen fest und organisiert eine Pressekonferenz, auf der diese sich von den Grauen Wölfen distanzieren.

Immer wieder knüpfen Politikerinnen und Politiker, die sich für Integration und kulturellen Austausch starkmachen, Kontakte zu Personen, die zu den Grauen Wölfen gehören. Zu deren Strategie gehört es unter anderem, über Mandate in der Lokalpolitik etwa auf SPD- oder CDU-Listen politisch Einfluss zu nehmen. Viele deutsche Politiker:innen scheinen das immer noch nicht zu wissen – oder die Gefahr zu unterschätzen, wie etwa der Politologe Ismail Küpeli von der Uni Bochum seit Jahren warnt.

Oft als "innermigrantisches Problem" abgetan

Aufklärung tut also dringend Not. Die will nun die neue Fachstelle türkischer Rechtsextremismus (FaTRex) leisten, die sich Anfang des Jahres in Köln gegründet hat und bundesweit arbeitet. Träger ist der Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland (BDAJ). Das hat Gründe: Viele alevitische Jugendliche sind von türkischem Rassismus und Diskriminierung betroffen, wie der BDAJ-Bundesvorsitzende Serdar Dumlu am 19. Mai in einem Pressegespräch betonte. Sie würden in Schulen von türkischstämmigen Klassenkameraden ausgegrenzt; zudem gebe es Anschläge nicht nur auf Einrichtungen alevitischer Vereine, sondern auch auf Wohnhäuser von Aleviten. Man habe sich bewusst als Betroffenenorganisation für die Fachstelle beworben, sagt FaTRex-Leiterin Özge Erdoğan. "Für mich ist sie mehr als ein Projekt: Sie steht für Empowerment, Sichtbarkeit und die Resilienz der Alevitischen Jugend."

Özge Erdoğan sieht die neue Fachstelle, die vom Bundesprogramm "Demokratie leben" finanziert wird, als Ergänzung zu anderen Stellen, die zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit arbeiten. Mit der FaTRex werde eine Lücke geschlossen: Viel zu lange sei der türkische Rechtsextremismus in Deutschland "unsichtbar gemacht oder verharmlost worden", sagt Erdoğan. Weil die Betroffenen meist selbst aus der migrantischen Community stammten, würde der türkische Rechtsextremismus häufig als "innermigrantisches Problem" abgetan, ergänzt der Fachreferent Kim David Amon. Es dürfe aber nicht sein, dass der türkische Rechtsextremismus hierzulande weniger ernst genommen werde als der deutsche. "Das ist keine Herkunftsfrage, sondern eine Ideologiefrage – und damit eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung", sagt Amon.

Ein Vorkommnis aus dem vergangenen Sommer mag das verdeutlichen: Als der türkische Nationalspieler Merih Demiral im EM-Achtelfinale im Leipziger Fußballstadion den Wolfsgruß zeigte, das Erkennungszeichen der Grauen Wölfe, wurde das von türkischer Seite als normale patriotische Geste heruntergespielt. Der deutsche Neonazi Michael Brück griff die Steilvorlage hingegen erfreut auf und schrieb im rechtsextremen Magazin "Compact": "Jede Regenbogenfahne im Stadion ist schädlicher für unser Land als tausend Wolfsgrüße." Ein Hinweis auf die Gemeinsamkeiten zwischen deutschen und türkischen Rechtsextremisten, wie der Szenekenner Anton Mägerle von der Dokumentationsstelle Rechtsextremismus in Karlsruhe analysiert.

Expertise sammeln, aufklären, vernetzen, fortbilden

Die FaTRex versteht sich als Anlaufstelle, in der Expertise gesammelt und für die Bildungsarbeit genutzt wird. Die sieben Mitarbeiter:innen beobachten die Szene, tragen Wissen zusammen, vernetzen sich mit anderen Akteuren. So soll eine gemeinsame Plattform für alle entstehen, die in dem Feld arbeiten. Eine Fachtagung am 11. Juni in Köln bildet den Auftakt für die Vernetzungsarbeit. Geplant sind auch Fortbildungen für Multiplikator:innen, etwa Workshops zu Symbolen, Sprache und Strategien der Ülkücü-Bewegung. Außerdem will die Fachstelle mit Social Media-Kampagnen vor allem junge Menschen erreichen. Denn gerade junge Türkeistämmige seien anfällig für die Ideologie der Grauen Wölfe, so Serdar Dumlu. Sie würden häufig über Social Media angesprochen, aber auch in Moscheevereinen, in Fußball- oder Nachhilfevereinen.

Fach- und Anlaufstellen zu Extremismus in Baden-Württemberg

Baden-Württemberg hat unter dem Dach des Demokratiezentrums mehrere Stellen, die zu verschiedenen Formen des Extremismus arbeiten: Die Fachstelle für Extremismusdistanzierung (FEX) arbeitet mit Jugendlichen, die Anzeichen einer politischen oder religiösen Radikalisierung zeigen, und unterstützt Fachkräfte im Umgang mit diesen jungen Menschen. Daneben gibt es mobirex für Monitoring, Beratung und Information zur extremen Rechten und zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Die Beratungsstelle Leuchtlinie berät Betroffene rechter, rassistischer oder antisemitischer Gewalt. Neu hinzugekommen ist die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS). Das Demokratiezentrum wird aus dem Topf des Bundesprogramms "Demokratie leben" und aus Landesmitteln finanziert. Für Ausstiegsberatung ist das beim Landeskriminalamt angesiedelte Kompetenzzentrum gegen Extremismus zuständig.  (uls)

Auch der Verfassungsschutz warnt vor einer wachsenden Zahl junger, nicht organisierter Ülkücü-Anhänger, die durch verbale Aggression, Gewaltbereitschaft und Straftaten auffallen, wie das Landesamt Baden-Württemberg in seinem Bericht von 2023 schreibt. "In diesem Milieu ist zudem eine gesteigerte Waffenaffinität zu beobachten."

Offensichtlich ist es also doch nicht ganz so, als wäre türkischer Rechtsextremismus bislang ein "blinder Fleck" gewesen, wie FaTRex-Leiterin Özge Erdoğan bei der Pressekonferenz kritisierte. Neben dem Verfassungsschutz haben auch viele Monitoring- und Beratungsstellen in ganz Deutschland das Phänomen im Fokus. Eine Fachstelle allerdings, die sich ausschließlich mit diesem Phänomen beschäftigt, hat es bisher nicht gegeben.

Doch wie sinnvoll ist eine so spezialisierte Stelle? Mathieu Coquelin, Geschäftsführer der von der Landesarbeitsgemeinschaft Mobile Jugendarbeit/Streetwork Baden-Württemberg getragenen Fachstelle für Extremismusdistanzierung (FEX), hat gemischte Gefühle gegenüber diesem exklusiven Ansatz. Einerseits begrüßt er, dass mit der neuen Stelle "die politische Dimension des türkischen Rechtsextremismus und eine lange marginalisierte Betroffenenperspektive stärker sichtbar werden". Andererseits wisse man aus der Praxis, "dass sich Ideologiefragmente und Hinwendungsdynamiken von türkischem Rechtsextremismus und Islamismus häufig überschneiden".

"Wir haben das auf dem Schirm", sagt dazu Erol Ünal, der als Fachreferent bei FaTRex arbeitet – "auch die Verbindungen zur türkischen Regierungspartei AKP und die Überschneidungen mit dem deutschen Rechtsextremismus". Alle dafür notwendige Expertise sei im Team vorhanden. Ünal stammt aus Esslingen und wurde als Kind von seinem Vater in Moscheegemeinden der Grauen Wölfe geschickt. Später hat er ein Buch über diese Zeit und seine Abwendung von der Szene geschrieben ("Der Abtrünnige").

Auch Coquelins leise Kritik, man hätte sich eher eine Landes- als eine Bundesfachstelle gewünscht, kontert Ünal. Die Referent:innen seien in allen Bundesländern beratend und aufklärend unterwegs. Beispielsweise habe er unlängst einen Vortrag für die SPD-Landtagsfraktion in Stuttgart gehalten.

Bei einem anderen Aspekt muss sich erst noch zeigen, was die neue Stelle leisten kann. Coquelin weist darauf hin, wie wichtig bei der Bildungsarbeit eine enge Verzahnung mit etablierten Strukturen wie Kultusministerien oder Verbänden der Jugendarbeit sei. Das Ziel sei ja, "Multiplikatoren zu erreichen, von der Lehrerin bis zum Jugendsozialarbeiter. Denn die müssen das Problem am Ende mit den Jugendlichen thematisieren". Ob FaTRex als neuer Akteur sich diese Zugänge schnell verschaffen kann, sei noch nicht ausgemacht.

Unter dem Radar: die "Osmanischen Reichsbürger"

Diese Skepsis teilt der Politologe Ismail Küpeli, der gerade im Unrast-Verlag das Buch "Graue Wölfe. Türkischer Rechtsextremismus in Deutschland" veröffentlicht hat. Den bundesweiten Ansatz von FaTRex begrüßt er jedoch ausdrücklich: Zum einen sei das wichtig für diejenigen Bundesländer, in denen bislang jegliche Anlaufstelle zum türkischen Rechtsextremismus fehle. Zweitens seien auch die rechten Netzwerke bundesweit aktiv. Küpeli hebt außerdem die themenspezifische Arbeit hervor. Bisher sei der türkische Rechtsextremismus oft nebenher bearbeitet worden, seine Besonderheiten hätten dadurch zu wenig Aufmerksamkeit erhalten. Als Beispiel nennt er die "Osmanischen Reichsbürger", die seit einiger Zeit gemeinsame Sache mit deutschen "Reichsbürgern" machten, was selbst ihm als Experten zunächst entgangen sei.

Dass der Bund die FaTRex finanziert, sieht Erol Ünal als Anzeichen dafür, dass die Politik das Thema endlich ernst nehme. Das gilt aus seiner Sicht auch für Baden-Württemberg. Hier hatte Ünal im Auftrag des Landesverbands der Migrantenvertretungen (LAKA) 2023 das Projekt "Hadi, wir müssen reden" aufgebaut, das über Ultranationalismus in der migrantischen Gesellschaft aufklärt – in der türkischen, aber auch in der kroatischen oder der russlanddeutschen Community. Zunächst wurde das Projekt vom Bundesprogramm "Demokratie leben" und der Stadt Stuttgart finanziert. Seit diesem Jahr erhält es Geld aus dem Landeshaushalt.

Auch Ismail Küpeli äußert sich hoffnungsvoll, dass die Politik den Ernst der Lage erkannt hat. Allerdings reichten Fachstellen und Projekte alleine nicht aus, um türkischen Rechtsextremismus in Deutschland zu bekämpfen. "Es braucht auch ein härteres Durchgreifen der neuen Bundesregierung in Form von Vereinsverboten militanter Gruppierungen", sagt der Experte. Dabei macht er sich keine Illusionen, was ein Verbot der Grauen Wölfe als Ganzes angeht, wie es etwa in Frankreich gilt und auch in Deutschland immer wieder gefordert wird. "Offenbar ist Deutschland da vorsichtiger, weil die Bundesregierung sehr enge Beziehungen zur Türkei unterhält und quasi ihre gesamte Außenpolitik gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten über die Türkei abwickelt", sagte Küpeli vergangenen Dezember im Kontext-Interview.

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2 Kommentare verfügbar

  • Schreiber
    vor 6 Stunden
    Antworten
    Vielen Dank für die Thematisierung der Auswirkungen des türkischen Rechtsextremismus in Deutschland. Es ist wichtig dieses unterbelichtete Thema aufzugreifen, weil es uns alle, Türken wie Deutsche betrifft, und das Zusammenleben zunehmend beeinträchtigt.

    Deutsche werden gegenüber Türken…
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