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Ausgabe 739
Gesellschaft

Emigration aus Portugal

Rückkehr würde Opfer bedeuten

Emigration aus Portugal: Rückkehr würde Opfer bedeuten
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Fast ein Drittel der jungen Portugies:innen verlässt die Heimat, um ein besseres Leben im Ausland zu finden. Beatriz Bordadágua ist eine von ihnen, innerlich hin- und hergerissen zwischen Heidelberg und Lissabon. Indessen zeigt sich der iberische Staat bemüht, die junge Generation im Land zu halten.

Am 18. Mai wählte Portugal ein neues Parlament – zum dritten Mal innerhalb von drei Jahren. Auch Beatriz Bordadágua gab bei diesem Urnengang ihre Stimme ab, per Briefwahl. Die 28-jährige Lissabonnerin lebt seit fast drei Jahren in Heidelberg und hat bereits häufiger von Deutschland aus als in ihrem Herkunftsland gewählt: "Für mich ist das zur Normalität geworden."

Nach einem Erasmus-Semester in Berlin und einem Astrophysik-Studium am renommierten Instituto Superior Técnico in Lissabon, an dem unter anderem UN-Generalsekretär António Guterres studierte, stand ihr nächstes Ziel bald fest: das Heidelberger Institut für theoretische Studien. Dort promoviert sie in der Forschungsgruppe Theory and Observation of Stars (Theorie und Beobachtung der Strne). "Ich hatte ernsthaft überlegt, mich auch in Porto zu bewerben", gesteht Bordadágua, "aber in Portugal ist eine Karriere in der Forschung unheimlich prekär, da die meisten Stellen nur über Stipendien finanziert werden. Außerdem wusste ich, dass mir Auslandserfahrungen Türen öffnen können, und immerhin kann ich so auch etwas Geld sparen." So war ihre Wahl getroffen, und knapp eine Woche nach ihrem Master-Abschluss verabschiedete sie sich von der iberischen Hauptstadt nach Baden-Württemberg.

Viele Portugies:innen haben dieselbe Entscheidung getroffen wie Bordadágua. Laut UNO leben heute über 2,1 Millionen im Ausland. Damit hatte Portugal, im Verhältnis zu seiner Gesamtbevölkerung von etwa 10 Millionen Menschen, die höchste Auswanderungssrate Europas und den achten Platz weltweit, wie die Beobachtungsstelle der portugiesischen Emigration 2023 in einem Atlas zum Thema erläutert.

Bereits während der Salazar-Diktatur zwischen den 1950er und 1970er Jahren erhofften sich viele Bewohner:innen – überwiegend aus eher bildungsfernen Familien – ein besseres Leben im Ausland. Damals war Deutschland nach Frankreich die zweitbeliebteste Wahlheimat vieler Portugies:innen. Jahrzehnte später wurde Portugal, neben Italien, Griechenland und Spanien ab den 2010er Jahren stark von der Wirtschaftskrise getroffen. Wieder packten viele Leute ihre Koffer, doch diesmal waren deutlich mehr qualifizierte Fachkräfte unter ihnen.

Mit einem Wirtschaftswachstum von etwa 1,9 Prozent im Jahr 2024 zählt Portugal heute zu den erfolgreichsten Volkswirtschaften der Europäischen Union – der EU-Durchschnitt lag im selben Zeitraum bei lediglich 0,8 Prozent. Dennoch erlebt das Land einen massiven Braindrain, also Verlust von Wissen, vor allem unter jungen Menschen. Schätzungen des Atlas' zur portugiesischen Emigration zufolge haben bis zu 30 Prozent der in Portugal geborenen Personen im Alter zwischen 15 und 39 Jahren das Land verlassen. Von einer Rückkehr in die Heimat träumen jedoch viele.

Zwischen Saudade und Zweifel

"Ich würde sehr gerne nach Portugal zurückziehen", sagt auch Bordadágua. Immer häufiger verspüre sie "Saudade". Damit ist ein sanftes Gefühl der Sehnsucht und Melancholie gemeint – ein unübersetzbarer Begriff der portugiesischen Sprache. Obwohl Bordadágua in Heidelberg eine große Freundesgruppe aus der Heimat gefunden hat, mit der sie zum Beispiel Ostern feiert, bleibt ihr Heimweh groß. Eine Rückkehr in ihr Herkunftsland sei "schon machbar", aber sie müsste Opfer bringen: "Zum Beispiel müsste ich wieder bei meiner Mutter einziehen oder mir einen zweiten Job suchen, um mir eine eigene Wohnung leisten zu können."

Eduardo, ihr Freund, den sie noch aus Uni-Zeiten kennt, hat ebenfalls das Land verlassen und lebt seit über zwei Jahren in Österreich. Auch seine Rückkehr bleibt ungewiss. Wenn Bordadágua darüber nachdenkt, vielleicht irgendwann Kinder in ihrer Heimat zu bekommen, werden ihre Zweifel noch größer. "Ich kenne junge Leute, die in Portugal eine Familie gegründet haben und die sind bestimmt glücklich. Aber ich würde wirklich gerne wissen, wie sie das schaffen. Ich weiß, irgendwie muss es möglich sein, aber so wie ich das von außen mitbekomme, wirkt es einfach unmöglich."

Seit Anfang der 2000er-Jahre hat sich in der Lebensrealität der Menschen in Portugal vieles verändert. "Der Mindestlohn ist in den letzten 15 Jahren um etwa 50 Prozent gestiegen", betont die Ökonomin Susana Peralta, Forscherin der Nova School of Business and Economics in Lissabon. "Das ist beispiellos." Damit erreicht das Mindestgehalt heute 870 Euro. Die Wohnungslage im Land scheint jedoch völlig abgekoppelt von dieser Realität. Mit einer Durchschnittsmiete von etwa 1.700 Euro gehört Lissabon mittlerweile zu den teuersten Städten Europas. Das liegt unter anderem daran, dass das iberische Land 2012 sehr attraktive "Golden Visa" für ausländische Reiche einführte. Allein durch den Erwerb einer Immobilie und einen Mindestaufenthalt von sieben Tagen pro Jahr in Portugal konnten sie sich so ein Visum sichern und damit auch Zugang zum Schengen-Raum. Inzwischen berechtigen nur noch Investitionen in Unternehmen, wissenschaftliche und kulturelle Initiativen sowie Investmentfonds zum Erhalt eines "Golden Visa". Doch der Schaden ist angerichtet. Laut einer Studie der Vermietungsplattform Idealista sind die Mieten in Portugal zwischen 2015 und 2024 im Mittel von 4,3 auf 15,8 Euro pro Quadratmeter gestiegen – ein Zuwachs von etwa 267 Prozent, der vor allem die bevölkerungsreichsten Großstädte betrifft.

Hilfsprogramme gegen Emigration

Viele junge Portugies:innen malen sich also schon früh eine Zukunft im Ausland aus. Dabei ergreift die Politik zunehmend Maßnahmen, um die junge Generation im Land zu halten. Zuletzt führte die konservative Partei von Premierminister Luís Montenegro eine Teilsteuerbefreiung für unter 35-Jährige ein. Im ersten Berufsjahr wird die Einkommenssteuer vollständig vom Staat getragen. Ab dem zweiten Jahr werden 75 Prozent übernommen und bis zum Ende des zehnten Jahres sinkt der Anteil dann schrittweise auf 25 Prozent. Die Ökonomin Peralta übt daran jedoch Kritik: "In meinen Augen ist das eine soziale Ungerechtigkeit. Ich bin der Meinung, dass Steuern sich primär nach dem Einkommen und nicht nach dem Alter richten sollten."

Zudem bietet der Staat Wohnbeihilfen für 18- bis 35-Jährige an. Diese sind allerdings auf fünf Jahre befristet, und auch ihr Anteil wird jedes Jahr geringer. Wer nach dem Studium in Portugal direkt ins Berufsleben startet, kann sich außerdem die Studiengebühren (1.000 bis 2.000 Euro pro Jahr) zurückerstatten lassen. Zwar befürwortet Peralta die Wohnbeihilfen, doch die nachträgliche Finanzierung des Studiums betrachtet sie skeptisch. Die Studiengebühren seien längst nicht die größten Ausgaben von Studierenden angesichts der hohen Mietpreise in den Großstädten. Sie ergänzt: "Die jungen Leute, die ihre Studiengebühren bereits zahlen konnten, haben Familien, die ohnehin dazu in der Lage waren. Wir sollten sie dabei unterstützen, ihr Studium zu bezahlen, nicht es zurückzuerstatten."

Mit dem Programm Regressar (deutsch: zurückkommen) versucht Portugal auch diejenigen, die das Land bereits verlassen haben, zu einer Rückkehr zu bewegen. Die Regelung sieht unter anderem Steuervorteile und finanzielle Beihilfen vor, um Emigranten bei der Heimkehr zu unterstützen. Die 28-jährige Bordadágua lässt sich von den Hilfsprogrammen dennoch nicht beeindrucken. Angesichts der hohen Lebenskosten und niedrigen Gehälter in Portugal gingen ihr die zeitlich begrenzten Maßnahmen nicht weit genug. "Und was ist, wenn ich keinen Anspruch mehr auf diese Unterstützungen habe, wie mache ich es dann?", fragt sich die Astrophysikerin. Sie würde eher begrüßen, gäbe es in ihrem Heimatland mehr Stabilität in der Forschung: "Wenn ich wüsste, dass ich dort einen Postdoc mit einem befristeten Dreijahresvertrag machen könnte, würde ich sofort zurückkehren."

Wichtiger Faktor: das Gehalt

Die Ökonomin plädiert wiederum dafür, dass das Land mehr Wert auf den Ausbau qualifizierter Jobmöglichkeiten legt. "Wir sollten uns weniger Sorgen machen, dass unsere Jugend ins Ausland emigriert, sondern vielmehr darum, dass junge, qualifizierte Menschen aus aller Welt gute Jobperspektiven bei uns finden." Ein wichtiger Faktor sei das Einkommensniveau. "Um mehr qualifizierte Leute anzuziehen, haben die Unternehmen keine andere Wahl, als die Gehälter zu erhöhen", analysiert die Wissenschaftlerin. Vielleicht würden sich dann auch mehr Portugies:innen eine Zukunft in der Heimat vorstellen.

Portugal steht angesichts dieser Entwicklungen also vor erheblichen Herausforderungen. Man solle die hohe Zahl junger Auswander:innen dennoch mit Abstand und weniger Pessimismus betrachten, meint Peralta. In einem Land, in dem vor 50 Jahren noch ein autoritäres Regime herrschte, Auslandsreisen stark eingeschränkt und ein Viertel der Bevölkerung Analphabeten waren, scheinen sich der jungen Generation heute völlig neue Perspektiven zu eröffnen.

Ihr Herkunftsland solle allerdings seine Ziele nicht aus dem Blick verlieren, unterstreicht Beatriz Bordadágua. Es müsse die Verantwortung übernehmen, jungen Menschen den Start ins Leben zu erleichtern. Vielleicht könnte auch sie dann ihre gemischten Gefühle überwinden und den Schritt zurück in die Heimat wagen. "Es ist ein großer Fortschritt, dass wir heute all diese Möglichkeiten im Ausland haben und kulturelle Vielfalt erleben", sagt sie. "Aber es ist auch wichtig, wieder zurückkehren zu können."

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1 Kommentar verfügbar

  • EDELBERT HACKENBERG
    vor 1 Woche
    Antworten
    Was fehlt bei dem Bericht ist der Exodus von medizinischem Personal ins Ausland. Der staatliche Gesundheitsdienst SNS "pfeift" mittlerweile "auf dem letzten Loch" und die negativen Auswirkungen, insbesondere auf ältere Menschen, wie oft jahrelanges Warten auf OP-Termine bzw. monatelanges Warten auf…
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