KONTEXT:Wochenzeitung
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Zu verschenken

Matratzen am Wegesrand

Zu verschenken: Matratzen am Wegesrand
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 Fotos: Marco Nunes 

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Datum:

Marco Nunes ist Austauschstudent aus Portugal. Die Praxis, gebrauchte Gegenstände auf die Straße zu stellen, gibt es dort nicht, erzählt der Fotografie-Schüler der Merz Akademie. Und so hat er sich auf die Suche gemacht nach kleinen Besonderheiten, die Stuttgarts Gehwege säumen. Unsere Autorin hat seine Bilder betextet und dabei beinahe einen Kochtopf gefunden.

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Kooperation mit der Merz Akademie

In den vergangenen Monaten hat Kontext mit der Merz Akademie, Hochschule für Gestaltung, Kunst und Medien in Stuttgart, zusammengearbeitet. Unter der Leitung von Anja Weber, Professorin im Bereich Visuelle Kommunikation, Videokünstlerin und Fotografin, haben Studierende im "Gestaltungskurs Fotografie und Kontext" fotografische Essays, Reportage und Porträts fotografiert und im Kontext-Print-Layout präsentiert. Marco Nunes, Austauschstudent aus Portugal, war so angetan von all den Dingen, die in Stuttgart auf der Straße liegen und auf ein zweites Leben warten, dass er sie nicht nur fotografiert, sondern einige davon auch mitgenommen hat. Sein Lieblingsstück: ein Sofa. Es ist fast wie neu, erzählt der Fotograf. Und so bequem!  (ana)

Matratzen am Wegesrand stimmen mich melancholisch. Einst Heimstätten des Unbewussten, nächtlicher Grübeleien, hitziger Träume – intime, sichere Orte, wo sich der Liebeslust hingegeben, Kinder gezeugt, wo gar still gestorben wurde. Jetzt ungeschützt, ausgestellt, den Augen der Öffentlichkeit preisgegeben: fleckig, liegekuhlenverbeult, Brutstätten der Hausstaubmilben beherbergend, tranig und modrig vor sich hin gammelnd, aufgedunsen vom letzten Wolkenbruch. Wie viele Matratzen durchliegt ein Mensch im Leben? Matratzen halten fünfzehn Jahre, sagt man. Wie viele Matratzen habe ich da noch vor mir? "Ja, die Zeit, die ist ein sonderbares Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie." Nirgendwo stößt dieser Satz der gealterten Marschallin aus Strauss' "Rosenkavalier" so sehr auf mein Verständnis wie beim Anblick von Matratzen am Wegesrand.

Wie ich so Stuttgart-Ost quere, die kurze Urachstraße hoch zur langen Haußmannstraße, stechen sie mir ins Auge: all diese Krimskramskartons, in denen Dinge lagern im Dämmerzustand zwischen Mein und Dein, Müll und Präsent. Ein Geben, ein Nehmen.

Ich gucke auf jede der Kisten, nicht sehr intensiv, eher schweifend, flüchtig, im Vorbeigehen. Manchmal fixiere ich etwas, wäge ab: Ist es wert, dafür stehenzubleiben, es unter die Lupe zu nehmen, es vielleicht mitzunehmen? Ich überlege stets viel zu lange. Wie neulich auf dem Weg zum Biomarkt. Da erblickte ich ein ansehnliches, in der Sonne blinkendes Sortiment an Kochtöpfen in allen Größen. Sie sahen viel besser aus als die, die ich seit meiner Studienzeit benutze. Ich dachte: Ich gehe nach dem Einkauf noch mal dran vorbei. Und dann werde ich stehenbleiben und sie mir mal genauer anschauen, bestimmt. Als ich zurückkam, transportierte gerade ein mittelalter Mann die begehrten Objekte ab. Pech gehabt.

Ein Wok lehnt einsam an einer Hauswand

Ja, diese "Zu verschenken"-Pappen! Welche Versprechungen, welche Verlockungen! Und welche Enttäuschung dann oft, wenn man das Abgelegte dann doch mal inspiziert. Kürzlich hab' ich im Vorbeirennen zur U-Bahn im Augenwinkel eine Tarteform im Durcheinander einer Pappbox entdeckt. Will ich mir schon lange anschaffen. Im Theater sitzend, malte ich mir dann aus, was für eine wohlschmeckende Spargel-Tarte ich meiner Liebsten am nächsten Tag servieren würde. Auf dem Heimweg nahm ich die Tarteform in Augenschein. Und aus der Traum. Sie entpuppte sich als ein billiges Ding aus Alu, das sich schon vom bloßen Anblick verbiegt. Bloß keinen Schrott mitnehmen.

Zumindest gefühlt hat jede Straße der Stadt ja heute ihre Winkel, wo Leute ihren Kram abladen. Ecken, wo Köter gerne hinpissen, zwischen Wildblumen, die sich erfolgreich durch Asphaltrisse kämpfen, und E-Scootern, die gedankenlos an die Hauswand gerotzt wurden, denke ich, mittlerweile die Haußmannstraße gen Ostendplatz entlanglaufend. Jetzt entdecke ich rechterseits einen angeschlagenen, verrosteten und verdreckten Wok, der einsam an einer Hauswand lehnt. Weil irgendjemand glaubt, den könne jemand anderes noch gebrauchen. Hätte man ihn nicht wenigstens ein bisschen putzen können? Jedenfalls deute ich diesen Wok als Beleg fürs schwäbische Klischee des "Geht doch noch!" Aber vielleicht sieht man ja auch so viel Abgefucktes an der Straße, weil das Brauchbare immer gleich weg ist.

Meine Nachbarin Moira, die sich als "Secondhand-Fan" bezeichnet, gehört offenbar zu den Schnellentschlossenen. Sie sagt, sie schaue immer genauer hin, denn sie sei neugierig, was andere verschenken. Manchmal nehme sie auch was mit. "Das muss aber entweder nützlich oder schön sein. Und wertvoll oder sauber, bestenfalls beides. Nasse Bücher finde ich traurig und kaputte Sachen einfach blöd." Sie selbst verschenkt auch viel. Regelmäßig steht deshalb auf dem Mauersims vor unserem Haus ein kleiner Karton. Moira gehört zu den vorbildlichen Verschenker:innen, die stets gemäß dem kategorischen Imperativ handeln. Deshalb gilt für sie: "1. Wählerisch sein: Deine Verschenke-Kiste ersetzt nicht die Sperrmüll-Abholung oder die Restmülltonne! 2. Betreuung nicht vergessen: Wetter und Tiere können das schönste Geschenk unappetitlich machen. 3. Gehwege freihalten. Und jeden Abend wegräumen, was noch nicht mitgenommen wurde!" Schnell weg, so sagt sie, gingen Schmuck, neue Kleidung, deutschsprachige Romane und Kinderbücher. Langsam gingen Zeitschriften, Töpfe, Pflanzen, Bastelmaterial, Parfum. Was sie so gut wie gar nicht losbekäme, seien Kosmetik, Lebensmittel, Sachbücher.

Früher gab es nur Sperrmüll auf der Straße. Und nix zu verschenken. Rechtlich gesehen sind die sperrigen Gegenstände ja gar nicht besitzlos, überlege ich. Wenn ein Haushalt einen Abholtermin bei einem Entsorgungsunternehmen vereinbart, wechseln die Besitzrechte. Jurist:innen sagen dazu "Eigentumsübereignung", denke ich, stolz über meinen virtuosen Umgang mit Fachbegriffen. Entwendet jemand Sperrmüll, ist das demnach Diebstahl. Krass, denke ich, und erinnere mich an die Raubzüge während meiner Studienzeit in Berlin. Alle hatten damals Stücke vom Sperrmüll in ihrer Bude. Ich zum Beispiel hatte ein 1950er-Jahre-Küchenbüffet in der Küche stehen, das ich mir mit Schrubben, ein bisschen weißer Farbe und ein paar neuen kobaltblauen Griffen wieder in einen Topzustand gebracht hatte. Ein allseits bewunderter Blickfang. Außerdem hatte ich meinen Schreibtisch auf der Straße ergattert, an dem ich dann auch meine Examensarbeit geschrieben habe – auf einem Atari 1040, abgespeichert auf mindestens acht Floppy-Disketten à 1 MB. Den Atari hatte ich aber nicht auf dem Sperrmüll gefunden, sondern ihn einer Kommilitonin für 500 D-Mark abgekauft. Ganz schön teuer, denke ich, aber auch heute muss man dafür auf dem Vintage-Markt noch bis zu 350 Euro löhnen. Weil der Atari 1040 halt ein Computerklassiker ist.

Schwedenhaus-Schrott, im Keller vorgerottet

Mein Atari ist dann aber leider samt Schreibtisch und Küchenbüffet über den Jordan gegangen, weil der über mir wohnende Mieter während meiner Urlaubsabwesenheit selbst nicht da war. Dieser Mieter war ein etwa dreißigjähriger queerer Möchtegern-Modedesigner, der in Kunstrasenjacken herumlief und, befeuert von Hyperaktivität und Wahnsinn, stets alle, die es nicht hören wollten, von seiner enormen Kreativität überzeugen wollte. Dieser Mieter also hatte im Rahmen eines von ihm selbst so empfundenen Genialitätsanfalls – aber leider ohne das nötige technische und handwerkliche Know-how – eine Blumenkastenbewässerungsanlage in seiner Wohnung installiert, die er nunmehr wegen seiner Abwesenheit nicht mehr im Blick hatte. Weswegen dann mein Kohleheizungs-Erdgeschoss-Hinterhaus-Zuhause einige Tage lang von oben bis in den letzten Winkel besprengt und unbewohnbar gemacht wurde. Nach Rückkehr aus dem Urlaub konnte ich den Großteil meines Hausrats dann entsorgen, habe ich Sperrmüll machen müssen, mit all den durchweichten, in der Sommerhitze mittlerweile angegammelten Möbeln und anderem, erinnere ich mich. Mein Schicksal kam so ans Licht der Öffentlichkeit, als großer Container, in dem all mein wohnliches Innenleben zu einem Haufen Schrott zusammengeschnurrt war. Gottlob hatte ich da meine Magisterarbeit schon abgegeben. Glück muss Mensch haben, denke ich.

Könnte man sich auch heute noch seine Student:innenbude mit Sperrmüll einrichten? Diese Tatsache bezweifelnd, erblicke ich auf der linken Straßenseite einen Haufen abzuholenden Schwedenhaus-Schrott, offenbar schon im Keller vorgerottet. Zerdeppert, weil man die einmal zusammengenagelten Möbel nicht mehr auseinanderschrauben kann. War der Sperrmüll früher besser? Es erscheint mir so, seit ich in Stuttgart lebe. Vielleicht, weil das Klischee von den Schwaben respektive Schwäbinnen, die nichts wegwerfen können, stimmt. Und wenn sie es dann doch tun, dann Gnade uns der pietistische Gott!

Ja, damals stand (abgesehen von meinen durchweichten Möbeln) erste Ware auf der Straße, male ich mir die Vergangenheit schön. Das ist ja die Frage, denke ich, weiter die Haußmannstraße entlanglaufend. Stellen die Menschen je nach Stadt und Bundesland unterschiedliche Sachen auf den Sperrmüll? Lassen sie in Berlin oder Hamburg, Bielefeld oder Halle, Hinterzarten und Wernigerode schon früher los als woanders? Das müsste man mal recherchieren, mal eine Reportage schreiben, denke ich vor mich hin, schon wieder ein "Zu verschenken"-Schild hinter mir lassend und einen Karton mit alten Senfgläsern mit Märchenmustern und Dino-Beklebung, Unmengen von DVDs à la Karate Kid I bis IV und ein paar vom Regen aufgequollenen Was-weiß-ich-für-Romane. Wer kommt auf die Idee, kurz vor Regenfällen Bücher auf die Straße zu stellen? Da sind die im Vorteil, die Geschirr in Plastikkästen ausmisten. Und wer, bitte schön, will uralte, zerbeulte Koffer ohne Rollen in Zeiten der Trolleys?

Ja, nicht nur Matratzen am Wegesrand stimmen mich melancholisch, denke ich, endlich mein Ziel, den Ostendplatz, erreichend. Es sind auch all die anderen Gegenstände, die aussortiert wurden, weil jemand sie nicht mehr will. Und diese Drohungen, die überm "Zu verschenken" schweben. Dieses: Nimm du es, sonst schmeiß' ich's weg. Diese vielen kleinen und großen Abschiede vom alten Leben.

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