240 Tage Knast, also acht Monate hinter Gittern wegen Fahren ohne Fahrschein. Gibt es nicht? Doch. Genau das war die maximale Zeit, die jemand wegen des " Erschleichens von Leistungen" 2024 in Baden-Württemberg inhaftiert war. Das "Erschleichen von Leistungen" ist der Paragraf 265a des Strafgesetzbuches. Eingeführt wurde er mit genau dieser Nummerierung und quasi wortgleich 1935 im Rahmen einer Strafgesetznovelle, die die Unterschrift "Adolf Hitler" trägt.
Weg mit diesem Naziparagrafen! Das ist die klare Forderung des Arbeitskreises kritische Soziale Arbeit Freiburg, des Freiburger Arbeitskreises kritischer Juristinnen und Juristen und auch der bundesweit tätigen Initiative Freiheitsfonds. Sie alle waren beteiligt an einer Veranstaltung am 14. Mai in Freiburg. Die Führungsspitze der Freiburger Verkehrsgesellschaft VAG hatte sich bereit erklärt, über die Forderung zu diskutieren, die VAG möge zukünftig auf Anzeigen gegen "Schwarzfahrer:innen" verzichten. Denn solche Anzeigen können tatsächlich dazu führen, dass Menschen ins Gefängnis kommen. Gefährdet ist ein bestimmter Teil der Gesellschaft. Der Freiheitsfonds geht davon aus, dass 87 Prozent der Betroffenen erwerbslos sind und 15 Prozent keinen festen Wohnsitz haben. 15 Prozent seien zudem suizidgefährdet. "Es geht um Menschen in Multiproblemlagen", erklärt Frank Stocker, der als Sozialarbeiter in der Wohnungslosenhilfe arbeitet.
Keine Einzelfälle
Leonard Ihßen von der Initiative Freiheitsfonds nennt einige Fälle: Herr K. ist wohnungslos und sehr krank. Er kann nicht selbstständig essen und hat einen diabetischen Fuß. Doch statt Unterstützung zu erhalten, sollte er ins Gefängnis. Über 100 Tage. Wegen Fahren ohne Ticket. Eine Sozialarbeiterin meldete sich beim Freiheitsfonds, der ihn freikaufte.
Ihßen berichtet von einem Antrag auf das Freikaufen einer Frau, die wegen häuslicher Gewalt eine Anzeige bei der Polizei erstatten wollte. Auf dem Revier wurde sie inhaftiert, weil es wegen Fahrens ohne Fahrschein einen offenen Haftbefehl gegen sie gab. "Wo liegen hier die Prioritäten?", fragt sich Ihßen. Diese Frage stellt sich auch bei Herrn S.. Er hat seit fünf Jahren endlich eine eigene Wohnung. Jetzt droht der Verlust der Wohnung, weil er wegen Fahren ohne Ticket inhaftiert wurde. Eine Gefängnismitarbeiterin meldete sich beim Freiheitsfonds und bat Herrn S. freizukaufen. Leonard Ihßen spitzt zu: "Der Staat sperrt Menschen ein – und ruft dann einen spendenfinanzierten Verein um Hilfe." Seit Dezember 2021 hat der Freiheitsfonds knapp 1.300 Menschen freigekauft und dafür über eine Millionen Euro gezahlt. 237 Haftjahre fielen weg, wodurch der Staat 18,4 Millionen Euro gespart habe, sagt Ihßen. Gefängnisaufenthalt sind eine teure Sache.
Freikaufen oder Ersatzfreiheitsstrafe
Obwohl es meist nur einige Euro sind, die ein Ticket gekostet hätte, ist die Zahl der Hafttage oftmals alles andere als gering. Im Jahr 2024 betrug die durchschnittliche Haftdauer bei Ersatzfreiheitsstrafen wegen "Erschleichens von Leistungen" in Baden-Württemberg 55 Tage, erklärt das Justizministerium. Ersatzfreiheitsstrafen sind Haftstrafen, die verhängt werden, wenn Menschen eine gegen sie verhängte Geldstrafe nicht begleichen können. "Das ist eine Form von Armutsbestrafung", erklärt Frank Stocker vom Arbeitskreis kritische Soziale Arbeit. Betroffen sind in relevantem Maß Personen, die ohne Ticket Zug oder Bus gefahren sind. Von 4.267 Gefangenen, die 2024 wegen einer Ersatzfreiheitsstrafe in baden-württembergischen Justizvollzugsanstalten einsaßen, waren immerhin 552 Personen, denen das "Erschleichen von Leistungen" vorgeworfen wurde. Dabei beginnt es unspektakulär – aus dem exemplarischen Strafbefehl des Freiheitsfonds: "Gegen 08-07 Uhr fuhren Sie mit der Straßenbahn Linie 1 der Rhein-Neckar-Verkehr GmbH von der Haltestelle Voltastraße in Richtung der Haltestelle Hauptbahnhof Mannheim, ohne im Besitz eines gültigen Fahrausweises zu sein. Sie hatten bereits bei Fahrantritt vor, den Fahrpreis in Höhe von 3,00 € nicht zu entrichten. (…) Die Staatsanwaltschaft hält wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten." Die Frist auf solche Strafbefehle zu reagieren liegt bei zwei Wochen. Eine Richterin oder einen Richter bekommen die allermeisten Betroffenen nicht zu Gesicht.
1 Kommentar verfügbar
aks Freiburg
vor 3 StundenUnd für Freiburg sammeln wir https://aksfreiburg.wordpress.com/2025/03/05/kriminalisierung-von-arm…