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Freifahrt mit Ansage

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 Fotos: Jens Volle 

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Datum:

Ein Neujahrsempfang der anderen Art: Am vergangenen Sonntag hat das Bündnis Stuttgart ökologisch sozial (SÖS) zum Schwarzfahren in die U29 eingeladen. Um ein politisches Statement zu setzen. Die Aktion endete nach einiger Aufregung als "Betriebsstörung".

Fürs neue Jahr vor allem Gesundheit, wünscht SÖS-Stadtrat Hannes Rockenbauch. Am Sonntag um fünf vor zwölf steht er zwischen rund 50 erwartungsfrohen Menschen am Arnulf-Klett-Platz gegenüber des Hauptbahnhofs. Aber das mit der Gesundheit sei in Stuttgart nicht so einfach: Erst mussten Gerichte Diesel-Fahrverbote für Deutschlands Feinstaubhauptstadt durchsetzen, weil sich die Politik verweigerte. Jetzt hat sich auch noch ein Pro-Diesel-Lager mitsamt Rechtspopulisten und der rechten Gewerkschaft Zentrum Automobil gebildet, das bereits an den vergangenen zwei Samstagen demonstriert hat und das auch die kommenden 17 vorhat. Resultat politischen Versagens, meint Rockenbauch und: "Es braucht dringend Alternativen!" Zum Diesel, zum Auto allgemein. Und was läge da näher als ein öffentlicher Nahverkehr, der kostenfrei für alle ist?

Daher hat Das Bündnis SÖS (Stuttgart ökologisch sozial) zum Neujahrsempfang der anderen Art eingeladen: Gemeinsam mit der Initiative Freifahren Stuttgart soll an diesem Tag mit der U29 vom Hauptbahnhof zum SÖS-Büro in der Arndtstraße gefahren werden. Ohne Fahrkarten und das mit Ansage: Denn von der "frechen Aktion" war bereits Tage zuvor im Netz zu lesen: Sie solle zum Gespräch über einen gebührenfreien Nahverkehr anregen.

Die Stadt Stuttgart sei mit ihrer Mobilität an ihren Grenzen angelangt, sagt auch Freifahrerin Andrea Schmid und geht in Richtung U-Bahn-Unterführung, "die Luft hier macht krank, Autofahren macht hier doch auch keinen Spaß mehr, und jetzt gibt es Fahrverbote, obwohl die Stadt seit 1999 weiß, dass sie was unternehmen muss." Politische Fantasielosigkeit, nennt es Schmidt. Würden viel mehr Leute mit dem ÖPNV fahren, sagt sie, würde zusätzlich zu besserer Luft auch noch viel Fläche frei, die sinnvoll, sozial und gemeinschaftlich zu nutzen wäre. "Was man da alles machen könnte!" Im Hintergrund singt eine Frau: "Fahrt mit der Bahn, fahrt mit der Bahn, oder wir werden alle sterben ..."

Dabei klappt es doch andernorts auch mit der freien Fahrt in Bus und Bahn – Tübingen erprobt das Modell zumindest einen Tag in der Woche, <link https: taz.de external-link-new-window>Luxemburg hat eben erst beschlossen, ab 2020 landesweit keine Fahrpreise mehr zu erheben. Und nicht zuletzt, sagt Schmidt: Mehr als 6000 Menschen sitzen derzeit in deutschen Gefängnissen – nicht wegen Mord und Totschlags, sondern wegen Schwarzfahrens. Daher fordert die Initiative, im Einklang mit dem doch eher konservativen Deutschen Richterbund, eine Entkriminalisierung. Denn wer mit dem Auto vor einer Feuerwehrzufahrt parkt, begeht nur eine Ordnungswidrigkeit. Wer ohne Fahrschein erwischt wird, muss nicht nur ein "erhöhtes Beförderungsentgeld" blechen, sondern kann obendrein noch angezeigt werden: Wegen "Erschleichung von Leistungen". Wenn keine Kohle da ist, um das Bußgeld zu begleichen, droht der Knast.

Deshalb verteilt die Initiative am Sonntag an alle Teilnehmenden Fahrkarten über eine "Freifahrt" und einen "Ich fahre frei"-Zettel zum an die Kragen heften. Denn wer seine Schwarzfahrt deutlich genug ankündigt, ist zumindest frei vom Vorwurf der Erschleichung, denn das setzt, wie Gerichte urteilten, eine "gewisse Heimlichkeit" voraus.

Tumult

Eigentlich hatte von den Teilnehmenden am Sonntag keiner wirklich damit gerechnet, dass es Knatsch mit der SSB, der Stuttgarter Straßenbahnen AG, geben würde. Und natürlich haben die meisten der Anwesenden sowieso eine Jahres- oder Monatsfahrkarte.

Aber alleine, dass da Menschen ein Banner in die U-Bahn tragen, war den vier Männern von der SSB denn schon suspekt. Also erteilen sie der versammelten Mannschaft erstmal einen Platzverweis, "ansonsten endet das hier im Hausfriedenbruch!", verkündet einer, während der andere dem Schaffnerfenster der einfahrenden U29 hinterherjoggt und aufgeregt in dessen Fenster "nicht die Türen aufmachen!" ruft. Doch schon zu spät, es wollen ja auch Leute aussteigen. Die SSB-Leute klemmen sich in die Türen, um den Weg zu versperren, aber die Gruppe sitzt trotzdem kurz darauf in den gelben Waggons. Die bis auf Weiteres stehen bleiben.

Polizei gesellt sich zu den SSB-Mitarbeitern auf dem Bahnsteig, die aufgeregt gestikulieren. Ein Sicherheitsmann schmeißt mit großem Tamtam den Kameramann von Regio-TV aus dem Wagen, denn "ohne Erlaubnis in der Bahn zu filmen sei verboten". Hannes Rockenbauch und Luigi Pantisano, ebenfalls Stadtrat für die SÖS, drehen ein Handy-Video für ihre Facebook-Seite – live aus dem Getümmel, Unbeteiligte spitzen neugierig die Ohren und bis auf die Offiziellen auf dem Bahnsteig sind alle guter Laune. Die U-Bahn – steht noch immer.

"Was passiert wohl als nächste Eskalationsstufe?", fragt Pantisano in die Runde, "Schicken sie jetzt das SEK?" Stattdessen steht plötzlich eine eilig herbeigerufene Fahrkarten-Kontrolleurin in der Bahn, die grantig und hilflos versucht, der Situation um die FreifahrerInnen Herr zu werden, während vier PolizistInnen und die SSB-Leute vom Bahnsteig aus durchs Fenster linsen. Dann plötzlich: "Wir fahren!" Zehn Minuten hat die Aktion gedauert, vier Freifahrer sind der Kontrolle zum Opfer gefallen, die Stimmung ist empört bis heiter, der Adrenalin-Schub tut sein Übriges. Das Freifahren, sagt Andrea Schmidt, falle selbst ihr immer noch schwer. "Man fühlt sich bei einer Kontrolle immer schlecht und es ist peinlich, wenn einen alle anschauen." Da helfe nur: üben, üben, üben.

An der Haltestelle Berliner Platz sind alle wieder gelöst, sie halten ihre "Freifahrt"-Pappen ans Fenster, ein Pärchen draußen am Bahnsteig lacht sich scheckig. An der Arndt-/Spitta-Straße steigen alle aus.

"Ich habe schon so lange eine Jahreskarte", sagt Rockenbauch abschließend vor dem SÖS-Büro, "dass ich diese Aggressivität gegen Schwarzfahrer gar nicht mehr gewohnt bin." Für ihn ist klar: Bei dem Gegenwind, der da eben wehte, würde es sich doch lohnen, solche Aktionen öfter zu machen.

Nach ein paar Minuten trudeln drei der vier verschollenen Kontrollierten ein, der Vierte ist nach Hause gegangen. Es habe ein bisschen länger gedauert, erzählen sie, weil die nächste Bahn einfach ausgefallen sei – "wegen Betriebsstörung." Dann gibt's Freifahrt-Sekt für alle. Auf einen hoffentlich bald kostenfreien ÖPNV und diesen gelungenen Sonntagmittag.


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