Die politischen Strukturen in der Türkei spiegeln sich in der türkeistämmigen Community in Deutschland wider. Die Grauen Wölfe in der Türkei sind einerseits eine Bewegung, die vor fast achtzig Jahren entstanden ist und auf der Straße politische Gewalt organisiert. Andererseits sind sie seit 2015 auch parteipolitisch organisiert, in der MHP. Die MHP ist de facto Koalitionspartner der AKP von Präsident Erdoğan, also Teil der türkischen Regierung. Dadurch konnten die Grauen Wölfe ihre Funktionäre auch in der DITIB festsetzen, die der staatlichen Religionsbehörde untersteht, und darüber hierzulande Einfluss nehmen. Das sieht man beispielsweise bei den politischen Veranstaltungen, die in DITIB-Räumen stattfinden.
Was macht die Grauen Wölfe attraktiv für in Deutschland lebende, zum Teil hier geborene Türkeistämmige?
Man muss sich dafür anschauen, wie rechtsextreme Akteure bestimmte Erfahrungen von Menschen für sich missbrauchen. Ganz entscheidend ist die Erfahrung von Marginalisierung. Die Erfahrung, nicht als Teil der Gesellschaft ernst genommen zu werden und sich als Bürger zweiter Klasse zu fühlen, können solche Akteure gut nutzen. Das ist wie bei dschihadistischen Kräften, die sagen: "Für die deutsche Mehrheitsgesellschaft bist du nichts wert, aber wenn du zu uns kommst, bist du sogar mehr wert als die."
War diese Anziehungskraft immer gleich oder schwankt das je nach der Stimmung in der deutschen Gesellschaft?
Da kann man tatsächlich eine gewisse Wellenbewegung feststellen: Die rechtsextreme Bewegung ist besonders in den 80er-Jahren sehr stark geworden, als auch der Rassismus gegen türkische Gastarbeiter stark ausgeprägt war und es Signale wie das Rückkehrergeld gab. In Zeiten, in denen Integrationsangebote stärker sind, nimmt die Attraktivität extrem rechter Angebote ab.
Wie bewerten Sie die heutige Zeit diesbezüglich?
Sicherlich führen wir nicht mehr die Debatten der 80er- oder 90er-Jahre. Aber wir haben heute eben die rechtsextremen Strukturen und Netzwerke, die sich über 40 Jahre etablieren konnten. Man hätte viel früher viel mehr für Integration tun müssen, um diese Stimmungen und Strukturen gar nicht erst groß werden zu lassen. Ein Beispiel: Falsch war meines Erachtens die Entscheidung in den 80er-Jahren, die religiöse Versorgung der türkischen Muslime durch die Türkei über DITIB organisieren zu lassen und sich als deutscher Staat da herauszuhalten. Heute ist DITIB in allen westdeutschen Städten fest verankert und die Uhr lässt sich kaum mehr zurückdrehen.
Sie beschreiben DITIB als einen Verbreitungskanal der türkischen nationalistischen Ideologie in Deutschland. Warum ist der deutsche Staat hier nicht kritischer? Im Gegenteil: Die DITIB ist ein Partner in der Deutschen Islamkonferenz.
Es ist sogar noch schlimmer. Der wichtigste Player im Zentralrat der Muslime ist ATIB, eine Organisation aus dem Umfeld der Grauen Wölfe. Da ist die Nähe zur extremen Rechten also noch stärker als bei DITIB.
Warum hat man das so lange laufen lassen?
Man hat das zu lang als eine Entwicklung innerhalb der türkischen Community abgetan und fälschlicherweise angenommen, das spiele für die Gesellschaft insgesamt keine Rolle. Dabei wurde unterschätzt, dass dadurch ein bestimmtes Milieu entsteht, das natürlich in die Gesellschaft ausstrahlt. Der türkische Rechtsextremismus ist die zweitgrößte rechtsextreme Bewegung in Deutschland überhaupt – nach einer gewissen Partei – und er hat sich überall in den westdeutschen Städten festgesetzt. Das geht auf das Konto aller politischen Akteure, weil sie das alle unterschätzt haben.
Aber es gibt ja durchaus ein Problembewusstsein: Vor vier Jahren, im November 2020, haben CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag gemeinsam den Antrag gestellt: "Nationalismus und Rassismus die Stirn bieten – Einfluss der Ülkücü-Bewegung zurückdrängen". Was ist seitdem geschehen?
Seit diesem Bundestagsbeschluss hat sich das Bundesinnenministerium nicht dazu durchringen können, sich dazu zu äußern. Wir wissen also nicht, wie der Stand der Dinge ist. Durchgedrungen ist allerdings, dass die Bundesregierung davor zurückschreckt, die Türk Federasyon – die Auslandsorganisation der MHP – zu verbieten. Das hat zwei Gründe: erstens wegen der Rolle der Türk Federasyon für die religiöse Versorgung der Muslime. Und zweitens, um nicht die guten Beziehungen zur Türkei zu gefährden, wo die MHP ja Regierungspartei ist.
Was halten Sie von einem Verbot der Grauen Wölfe?
Ich habe diese Debatte 2020 kritisiert, weil ich die Zwischenschritte zwischen ‚Wir engagieren uns gegen diese Bewegung‘ und der Forderung nach einem Verbot vermisst habe. Man hätte vorher zum Beispiel gewalttätige Gruppierungen wie rechtsextreme Rockergruppen verbieten müssen.
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Peter Nowak
am 10.12.2024