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Warum der Wahnsinn regiert

Warum der Wahnsinn regiert
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Uff. Im Nachbarland Polen gewinnt mit Karol Nawrocki ein Mann die Präsidentschaftswahl, der Donald Trump super findet und Gewaltenteilung unwichtig. Wahrscheinlich wird auch er weiterhin die Gesetze der Regierung von Ministerpräsident Donald Tusk blockieren, mit denen die Justiz wieder unabhängig werden soll. Bittere Aussichten für unsere Nachbar:innen.

Moment mal: Kein Interesse an Gewaltenteilung – das gibt es doch auch im eigenen Land! Bundesinnenminister Alexander Dobrindt, CSU, interessiert sich nicht für das Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts, wonach es gesetzeswidrig war, drei Asylsuchende an der deutschen Grenze zurückzuweisen, ohne das Dublin-Verfahren anzuwenden. Das ist Dobrindt und offenbar auch dem Rest der schwarz-roten Bundesregierung egal. Dem Mann, der als Verkehrsminister die ebenfalls gesetzeswidrige Pkw-Maut entworfen hatte, die uns 243 Millionen Euro gekostet hat, macht einfach weiter mit den Zurückweisungen und faselt was von Hauptsacheverfahren, das abzuwarten sei – das es aber in diesem Fall nicht geben wird, weil nur die Kläger, also die Abgeschobenen, das anstrengen könnten. Aber warum sollten sie das tun?

So geht’s los: das ignorante Zerschlagen von Gesellschaft, von geübten Regeln und von Recht. Trump praktiziert das in den USA und ermuntert damit offensichtlich Politiker:innen weltweit, es ihm gleich zu tun. Das wiederum lässt auch – mehr oder weniger – ganz normale Menschen glauben, sie bräuchten keinen Respekt mehr vor dem Recht, geschweige denn vor anderen Menschen haben. Auch im tiefsten Westdeutschland treten Rechtsradikale immer offener auf, Beispiel: die Demos "Gemeinsam für Deutschland", auf denen obskure und staatsfeindliche Menschen behaupten, sie verteidigten die Freiheit. Oder explizit öffentliche Angriffe auf linke Zentren wie das Prisma in Bad Cannstatt, wo nun zum zweiten Mal eine Regenbogenfahne zerstört wurde. Dagegen fanden sich vergangenes Wochenende um die 250 junge Menschen zusammen, um zu zeigen, dass sie sich nicht einschüchtern lassen, wie Kontext-Redakteur Minh Schredle beschreibt

Nicht alle Rechtsextremen zeigen sich immer offener. Die Grauen Wölfe, also türkische oder türkischstämmige Nationalisten, versammeln sich hierzulande in Moscheen und Vereinen, unter deren Dächern sie ihre völkische Ideologie verbreiten. Seit Neuestem gibt es nun die Fachstelle türkischer Rechtsextremismus (FaTRex), die sich auf die Beobachtung und Aufklärung dieser Gruppen spezialisiert ist. Und das ist bitter nötig, schreibt unsere Autorin Ulrike Schnellbach.

Die FaTRex befasst sich auch mit den "Osmanischen Reichsbürgern", die zunehmend mit deutschen "Reichsbürgern" Kontakte pflegen – hoch die pseudonationale Solidarität! Tja, die Welt wird gefühlt jeden Tag absurder. Aber ähnlichen Wahnsinn gab es schon mal und zwar vor 100 Jahren. Nach dem Ersten Weltkrieg zogen Inflationsprediger durch die Lande und verkündeten, dass sie allein das Volk retten könnten. Mit Blick auf diese, unsere Geschichte meint unser Kolumnist Cornelius W. M. Oettle: "Einzelne Spinner kann eine Demokratie gut weglächeln. Aber wenn ein ganzes Land spinnt, kommt logischerweise auch ein Spinner an die Macht."

Danke, Joe!

In Ausgabe 471 haben wir ihn mit wehenden Fahnen begrüßt: "Von seiner Sorte gibt es nicht mehr viele", schrieb die damalige Kontext-Chefin Susanne Stiefel damals. "Er formuliert präzise, keine Schwiemelei. Er sagt nicht: Haltung zeigen. Das ist zu wenig, es geht ums Tun. Er zitiert dazu gerne Brecht, der sagt, Zorn und Unzufriedenheit genügten nicht, das müsse praktische Folgen haben. Joe Bauer hat beides, die Tatkraft und den Zorn. Es gibt wahrscheinlich niemanden in der Stadt, der ihn so gut ausdrücken und umsetzen kann." 

Das war im April 2020. Seitdem hat Stuttgarts Stadtspaziergänger, ehemaliger Kolumnist der "Stuttgarter Nachrichten", Flaneur mit eigenem Abendprogramm, Edelfeder und unermüdlicher Kämpfer gegen rechts, jede zweite Kontext-Ausgabe mit einer Kolumne geschmückt. Es waren Geschichten, ofenfrisch und klug aus dem Straßenleben der Landeshauptstadt. Wie seine erste für uns, in der er beschrieb, wie er mit dem Bus 502 in Schwieberdingen strandete: "Mir wurde schwindlig, als ich mithilfe meines Taschentelefons herausfand, dass an Schwieberdingen vorbei einst eine Heer- und Handelsstraße führte, bis zum Schwarzen Meer, wo die Leichen zielloser Männer schwammen."  

Nach fünf Jahren sagen wir: Servus, Joe. Danke für mehr als 100 meisterhafte Kolumnen, für laute Lacher, leises Kichern, Gänsehaut, hunderte, ja tausende kleine Stuttgarter Beobachtungen, die nur dem auffallen, der mit wachen Augen und offenem Herzen durch die Landeshauptstadt flaniert. 

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