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Pride-Flagge im Sunny High

Die Nazis trauen sich immer mehr

Pride-Flagge im Sunny High: Die Nazis trauen sich immer mehr
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Rechtsextreme Straftaten nahmen zuletzt drastisch zu. Auch im multikulturell geprägten Bad Cannstatt sind die Folgen zu spüren. Nach einem Angriff auf den queeren Club Sunny High will die linksalternative Szene klarmachen, dass sie sich nicht einschüchtern lässt.

Sie hätten die "größte Pride-Flagge gekauft, die im Handel erhältlich ist", verkündet Moderatorin Charlotte von Bonin freudestrahlend auf der Bühne auf dem Cannstatter Bahnhofsvorplatz. Etwa 250 größtenteils junge Menschen haben sich hier mit bunten Fahnen und kreativen Plakaten versammelt, um nach rechtsextremen Angriffen auf das Kulturzentrum Prisma klarzumachen: "Wir sind hier, wir bleiben da, wir sind queere Antifa!" Ein größeres Transparent erteilt Nazis Cannstatt-Verbot.

Trotz vieler Zumutungen, die Stuttgart für seine Bevölkerung in petto hat, gehört es bislang zu den Vorzügen der politischen Kultur in der Landeshauptstadt, dass Rechtsextreme im öffentlichen Raum nur eine Randerscheinung sind. In der jungen Vergangenheit haben sich allerdings die Vorfälle gehäuft und dabei an Intensität gewonnen. Sinnbildlich ist die Demonstration "Gemeinsam für Deutschland", die vergangenen März in der Innenstadt auflief: Mit dabei waren die Neonazi-Gruppen "Der Störtrupp", "Unitas Germanica" und "Pforzheim Revolte". Sie machten keinerlei Anstalten, sich zu kostümieren oder ihre Gesinnung sonstwie zu verschleiern, sondern traten klar erkennbar mit einschlägigen Symbolen auf. So etwas hat es hier in den vergangenen Jahrzehnten eigentlich nicht gegeben.

Immer mehr rassistische Schmierereien

Bundesweit haben rechts motivierte Straftaten zuletzt drastisch zugenommen: Laut der im Mai vorgestellten Kriminalstatistik des BKA seien 2024 insgesamt 42.788 Delikte in dieser Kategorie registriert worden, eine Zunahme von knapp 48 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Dass sich Rechtsextreme immer mehr trauen, ist auch im multikulturell geprägten Bad Cannstatt, dem größten Stuttgarter Stadtteil, spürbar – selbst an Orten der linksalternativen Subkultur tauchen seit 2023 vermehrt rassistische und homophobe Schmierereien auf. Im August 2024 sprühten Unbekannte Hakenkreuze an die Fassade der Event-Location Kulturinsel, nachdem dort kurz zuvor eine Regenbogenfahne heruntergerissen und verbrannt wurde. Nach einem ähnlichen Schema erfolgten jüngst Angriffe auf das unkommerzielle Kulturzentrum Prisma, das keine zwei Minuten zu Fuß vom Bahnhof entfernt ist.

Es handelt sich um einen ziemlich ungewöhnlichen Ort in einer Stadt des Geldes: Während für gewöhnlich potente Investoren bestimmen, wie Viertel und Quartiere nach profitablen Bauprojekten aussehen, ist das Prisma zu einer Nische für Kreative ohne Gewinnabsichten geworden: Untergebracht in der alten Schwabenbräu-Passage, versammeln sich hier auf fünf Stockwerken unter anderem ein Second-Hand-Laden, Proberäume für Bands, ein Tonstudio, die Commons Kitchen mit kostenfreien Mahlzeiten aus geretteten Lebensmitteln und der Club Sunny High. Der ist getragen von einem gemeinnützigen Verein, es gibt keine Eintrittspreise, sondern Spendenempfehlungen, jeden Abend ist ein Awareness-Team in lila Warnwesten unterwegs, um für Feiern ohne Übergriffe zu sorgen. Der Club ist Anlaufstelle für die queere Szene. Daneben gibt es hier auch regelmäßig politische Veranstaltungen, zum Beispiel feierte die Linkspartei dort nach der letzten Bundestagswahl ihre Wahlparty.

Prisma-Fans sagen: Das ist ein Stück gelebte Utopie, was hier passiert. Für Rechte ist es ein Feindbild. Angefangen hat es im Frühjahr 2023, als erste Veranstaltungsplakate verbrannt wurden, wenig später folgten antisemitische Schmierereien im Innenhof, abgekratzte Sticker, Pride-Symbole übersprüht mit NS-Parolen. Und dann, im vergangenen April, wurde vom  Balkon des Sunny High eine Regenbogenflagge gestohlen und zerschnitten. "Das war keine Nacht- und Nebelaktion", berichtet eine Augenzeugin, nach deren Schilderung es sich bei den Tätern um bekannte Neonazis aus dem Umfeld der Partei "Die Heimat" gehandelt habe. Es sei geschehen, während ein paar hundert Meter weiter auf dem Wasengelände ein Volksfest gefeiert wurde, der Bahnhofsplatz belebt und die Polizei präsent war. Generell sei erschreckend, was sich derzeit an völkischer Gesinnung zusammenbraut: In einer nahegelegenen Kneipe hätten erst kürzlich stark alkoholisierte Fußballfans das Deutschlandlied gegrölt, inklusive der ersten beiden Strophen.

Polizei lässt sich Zeit

Nach Wahrnehmung einer Prisma-Sprecherin hielt sich auch der behördliche Ermittlungseifer zunächst in Grenzen. So seien die Täter ja bei ihrer Aktion beobachtet worden und ihre Namen bekannt, da sie nicht zum ersten Mal als Rechtsextremisten in Erscheinung treten würden. Zum Teil handle es sich um mehrfach vorbestrafte Neonazis (unter anderem wegen Körperverletzung). Doch nach dem Vorfall am 26. April, bei dem die Flagge zerstört wurde, geschah erstmal nichts. Erst nachdem das Prisma den Fall am 16. Mai öffentlich machte, rief dann mal ein Polizist an, der sich sogar nach den Namen der dringend Tatverdächtigen erkundigte.

Durch die Kundgebung am vergangenen Freitag sollte einerseits der öffentliche Druck weiter erhöht werden – und zugleich war es ein Signal, dass sich die Szene nicht einschüchtern lässt. Wie auf linken Demos nicht ganz unüblich, stellen sich die Rednerinnen auf der Bühne nicht namentlich vor, sondern im Namen des Bündnisses, für das sie sprechen. Eine Sprecherin von "Critical Pride Stuttgart" erklärt: "Für jede Regenbogenflagge, die Faschos zerstören, hängen wir zwei neue auf". Dort, wo viele Brutalität für normal halten, erklärt eine Repräsentantin des Prismas, sei ihre Zärtlichkeit schon praktizierter Widerstand.

Rote Herzen, rote Köpfe: Gerade rechtzeitig zur letzten Fußball-EM der Herren wurde der Cannstatter Bahnhofsvorplatz aufgehübscht und sieht seither viel heller, netter, einfach rundum ansprechender aus. Allerdings haben die Planer:innen bei der Umgestaltung nicht allzu viel Wert auf Verschattung gelegt: Der prallen Sonne gibt es hier kein Entkommen, nur ganz am Rand, nahe am Bahnhofsgebäude, sind Verweilende der Hitze nicht schutzlos ausgeliefert. Jedoch ist die einzige Schattenzone genau da, wo die barrierefreie Rampe in den Bahnhof führt, und weil die allermeisten Demo-Anwesenden Wert auf Rücksichtnahme legen, klappt das mit dem Freihalten gut trotz drückender Temperaturen.

Aber dann, zum Ende der Kundgebung, geschieht etwas Denkwürdiges. Gerade will eine Sprecherin von Stuttgart gegen Rechts mobilisieren für den diesjährigen Christopher Street Day in Pforzheim am 14. Juni. Denn da haben rechtsradikale Gruppen Gegenaktionen angekündigt und die Stuttgarter Antifa möchte eine Fahrgemeinschaft bilden. Dann ruft eine ältere Frau – ersichtlich darauf aus zu stören – mehrfach dazwischen, will zum Beispiel wissen, ob SPD und Grüne etwa auch zur Antifa gehören? Das muss irgendwer in den falschen Hals bekommen haben, jedenfalls fängt eine andere Frau in einem Anflug von Hysterie an zu schreien: "Nazis raus!" Und ehe die Anschuldigung überprüft werden kann, nimmt ein übereifriger Jüngling die verdächtigte Dame in den Schwitzkasten und ringt sie zu Boden. Nach einem Austausch mit der Polizei verzichtet die Betroffene darauf, Anzeige zu erstatten, sie trug auch keine Verletzungen davon.

Aus dem Orga-Team der Kundgebung ist zu hören, dass der handelnde Mann kein Ordner gewesen sei und das "maximal unglücklich" gelaufen sei. Der Vorfall soll nun intern aufgearbeitet werden. "Daran sieht man aber leider", sagt eine junge Frau vom Prisma, "dass die Nerven zurzeit etwas blank liegen."

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