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Reale Politdystopien

Wenn Deutsche zu spinnen beginnen

Reale Politdystopien: Wenn Deutsche zu spinnen beginnen
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Reichsbürger, Astro-Influencerinnen, Bitcoin-Brüder – so viel Spinnerei wie heute war nie! Von wegen: In den 1920ern zogen die sogenannten Inflationsheiligen durch Deutschland und verkündeten unrealistische Erlösungsszenarien. Noch unrealistischer ist nur die Realität, meint unser Kolumnist.

Über die Leinwand der Stuttgarter Innenstadtkinos flimmerte jüngst der achte und wohl letzte Teil der Reihe "Mission: Impossible". Viele glauben, einen Eimer Popcorn allein zu vertilgen, sei ebenfalls eine "Mission: Impossible", aber da habe ich die Zweifler und Bedenkenträger mal wieder eines Besseren belehrt. Im Film taucht der Scientologe Tom Cruise nur in Unterhosen 100 Meter tief durchs arktische Eiswasser und klettert auf einem kopfüber fliegenden Doppeldecker umher. Aber so richtig unrealistisch wird's erst, wenn Cruise zur Audienz beim President of the United States einrückt und es sich dabei um eine schwarze Frau handelt.

Vorwerfen will ich's den Filmmachern aber nicht: Eine realistische Präsidentenfigur vom Schlage Donald Trumps zerdeppert einfach jedes Drehbuch. In jener Szene geht's um die Frage, ob die USA qua ihres Atomarsenals so ziemlich alles jenseits der USA vernichten sollten, um sich selbst zu retten. Ein Trump hätte im Gegensatz zur abwägenden fiktiven US-Präsidentin vermutlich ohne zu zögern mit seinen kleinen Patschhändchen auf den roten Knopf gedonnert und keine Zeit für die Peripetie gelassen.

Schon bizarr: Früher ging ich ins Kino, um mir abgefahrene Politdystopien mit clownesken Regierungschefs anzusehen. Heute erfahren wir die hemmungslose Idiokratie jeden Tag im echten Leben – und bestaunen stattdessen die Seriosität einer ausgedachten Staatenlenkerin im Hollywood-Streifen.

Eigentlich undenkbar: Merz kann Selbstironie

Wie unrealistisch die Realität geworden ist, zeigte mir neulich auch Friedrich Merz. Gleich zweimal hintereinander überraschte er mich positiv: Zunächst mit den für Merz-Verhältnisse ungewöhnlich sorgsam abgewogenen Mahnworten an Netanjahu, kurz darauf bei der Pressekonferenz mit Selenskyj. Merz musste den ukrainischen Präsidenten unterbrechen, weil aufgrund technischer Probleme die Übersetzung noch nicht zu hören war. Daraufhin sagte der Kanzler trocken: "German technology." Deutschlandbezogene Selbstironie? Bei Friedrich Merz?! Sicher, am lautesten über seinen Witz lachte er selbst, Merz ist immer noch Merz. Doch auch Selenskyj schien verblüfft, wusste offenbar gar nicht mehr, wo er hier war, und fragte verwundert: "Deutschland?" Darauf Merz: "Ja, Deutschland."

Entsetzliche Zeiten müssen es sein, in denen bisweilen selbst Friedrich Merz wie ein vernünftiger Staatsmann daherkommt, aber wo keine Kerze brennt, ist das Teelicht 'ne Fackel. Krisen erkennt man nun mal an der Ubiquität des Wahnsinns. Dazu eine unheilvolle historische Parallele: Während wir es heute allerorten mit Reichsbürgern, Astrologie-Influencerinnen und Bitcoin-Brüdern zu tun haben, begegnete man im Deutschland der 1920er den sogenannten Inflationsheiligen. Die nutzten die Unsicherheit nach verlorenem Weltkrieg, untergehender Monarchie und eben Inflation, um sich als Volkserlöser zu inszenieren.

Zu den bekannteren zählte Louis Haeusser: Mit wallenden Jesus-Gewändern und wirrem Sektengequatsche wanderte er durch die Lande, verherrlichte sich selbst als Heiland und – wie immer bei derlei Männernarzissmus – scharte haufenweise Frauen um sich, die mit ihm den neuen Messias zeugen wollten. Unter anderem war Haeusser inspiriert von, na logo, der intellektuellen Spinnerspeerspitze Rudolf Steiner. 1922 gründet er die christlich-radikale Volkspartei, um linke und rechte Strömungen zu vereinen. Ein BSW avant la lettre.

Hitler: Mutante der Inflationsheiligen

Hermann Hesse schrieb 1932 in seiner Erzählung "Die Morgenlandfahrt" über diese Zeit: "Unmittelbar nach dem Ende des großen Krieges war unser Land voll von Heilanden, Propheten und Jüngerschaften, von Ahnungen des Weltendes oder Hoffnungen auf den Anbruch eines Dritten Reiches." Zwar waren die Inflationsheiligen kein Massenphänomen, aber sie könnten als Wegbereiter des dunkelsten aller Massenphänomene gedient haben.

Haeusser hielt beispielsweise 1922 in einem Brief fest: "Ich will ein Großes und ein Starkes und Gewaltiges – ein Sauberes – Stolzes – Kühnes – Frohes – Freies – Volk – ein Volk aller Völker, ein Volk – Herr – über Völker! – Und ich – Ich will diesem Volke Führer sein!" Kein Wunder, dass der Historiker Ulrich Linse im Deutschlandfunk Adolf Hitler mal als "eine Mutante des Typus Inflationsheiliger" beschrieben hat.

Denn: Einzelne Spinner kann eine Demokratie gut weglächeln. Aber wenn ein ganzes Land spinnt, kommt logischerweise auch ein Spinner an die Macht. Keine Rolle spielt für mich dabei, ob es sich um gesellschaftlich geächtete Spinnerei (Tom Cruises Scientology) oder geachtete Spinnerei (Papst Leos Weihrauchschnüffler) handelt. Auch heute erleben Religion und anderer Aberglaube ein Comeback, während aufklärerische Ideale zusehends an Bedeutung verlieren.

Jüngst stand ich am Bahnhof Biberach, also da, wo man hin muss, wenn man sich für Aufklärung und Volksverfassung interessiert. Zwei Frauen, approximativ Mitte 30, diskutierten über Geister. Und zwar in einer Lautstärke, die nicht drauf schließen ließ, dass bei diesen Überlegungen Scham im Spiel sein könnte. Tenor: An Geister glaube man selbstverständlich schon, aber nicht ganz so krass wie eine dritte Freundin, die ebenjene Geister ja sogar verantwortlich mache für ihre täglichen Stimmungsschwankungen. Geister zeichneten demnach allenfalls für wöchentliche oder monatliche Hochs und Tiefs verantwortlich.

Was man noch für normal hält und was man als Spinnerei abtut, ist eben auch eine Frage des Umfelds. Ich selbst bin aufgewachsen mit der Behauptung, Astrologie im Boulevardblatt sei selbstredend Nonsens, aber beim chinesischen Horoskop handle es sich um Wissenschaft. Eine Zeit lang trug ich sogar einen Karneol um den Hals, weil man mir ein Buch über Heil- und Kraftsteine in die Hand gedrückt hatte. Als Kind geht man ja davon aus, dass alles stimmt, was in einem Buch steht. Im Grunde auch eine Form von Kindesmisshandlung, aber ich hab's ganz gut verwunden. Der einzige Irrsinn, dem ich heute noch anhänge, ist das gelegentliche Wetten auf Siege von Schalke 04. Ansonsten habe ich alle Hoffnung auf Übersinnliches fahren lassen. Getreu dem alten Bud-Spencer-Motto: "Futtetenne!" Aus dem Neapolitanischen übersetzt: Scheiß drauf!

Mikroplastik als Strafe Gottes

Leider wachsen manche realen Probleme nur so rasant, dass man den Hintern schon sehr hoch hängen haben muss, um noch drauf scheißen zu können. Etwa das Plastikproblem, zu dem ich in letzter Zeit viel gelesen habe. Einem Bekannten (CDU-Wähler) erzählte ich vom Mikroplastik, welches nicht nur längst in Luft, Wasser und Böden eingedrungen ist, sondern sich auch in unseren Körpern eingenistet hat. Dort torpediert es wohl die Spermienproduktion, was noch in diesem Jahrhundert zum Aussterben der Menschheit führen könnte.

Mein Gesprächspartner erwiderte überraschend malthusisch: Möglicherweise wirke die Natur ja auf diese Weise dem Bevölkerungswachstum der Menschheit entgegen. Den Quark von der Überbevölkerung hört man gar nicht so selten. Dabei könnte man bei klügerer Verteilung auch zehn Milliarden Menschen versorgen. Anstatt solche Verteilungsfragen zu stellen, fantasiert man aber wie schon in der Pandemie lieber Selbstheilungskräfte von Mutter Erde herbei. Todeskult Kapitalismus. Der CDU-Wähler pflichtete mir zwar bei, dass man die Existenz von Mikroplastik ja nun schlecht der Natur in die Schuhe schieben könne, meinte aber sodann, dass in dem Fall wohl Gott verantwortlich zeichnen müsse.

Erstaunlich, dachte ich Ungläubiger, wie unbekümmert es sich durch die Welt wandeln lässt, sieht man nur überall einen großen Plan am Werk. Krieg, Hunger, Mikroplastik im Hoden – wird schon alles seine Richtigkeit haben. Oder anders gesagt: Futtetenne! Da wurden mir zwei Dinge klar. Erstens: Von Bud Spencer bis zu Gott ist's offenbar gar nicht so weit. Beide tragen Bart und beide sind tot. Und zweitens: Mensch- und Planetenrettung ist vermutlich eine "Mission: Impossible". Doch nur Mut: Den Popcorn-Eimer habe ich schließlich auch geschafft.

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