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Europa rüstet auf

Zwischen zwei Drecksäcken

Europa rüstet auf: Zwischen zwei Drecksäcken
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Europa stellt sich nicht die Frage: Aufrüstung ja oder nein? Sondern eher: Welches Bomberl hätten S' denn gern? Unser Kolumnist hat militärstrategisch aufgerüstet und die Einschätzungen von Expert:innen verfolgt.

Es war der Abend des denkwürdigen Trump-Vance-Selenskyj-Eklats. Lechzend nach Einordnung schaltete ich die ARD-Tagesthemen ein und sah schwerbetrunkene Menschen. Auch ein Weg, als Journalist damit umzugehen, dachte ich, ehe ich verstand, dass hier keine Nachrichtensendung, sondern die "Mainz bleibt Mainz"-Fastnachtssitzung übertragen wurde. Drum zappte ich zu "Phoenix" und gewahrte dort Joachim Weber, Experte für Sicherheitspolitik vom CASSIS-Institut der Universität Bonn. (CASSIS steht für Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies.)

Einigermaßen erstaunt hörte ich den Mann sagen, dass die Ukraine nun mal Teil eines "Great Game" der USA geworden sei, das sich dieser Tage seinem Ende entgegenneige. Man habe austesten wollen, "was die Russen mitmachen und was nicht". So einen Satz hatte ich schon lange niemanden mehr zu Ende sprechen hören, ohne dass ihm jemand ins Wort gefallen wäre. Sei's drum: Die Diskussionen über die Nato-Osterweiterung sind ohnehin Geschichte. Derzeit werden neue Fakten geschaffen.

Die Analyse, durch Trump habe sich die Welt verändert, ist dabei nur teilweise richtig. Vielmehr hat die kleptokratische Clementine den Schleier gelüftet und eine allgemeine Unehrlichkeit mit kaltem Zynismus ersetzt. Seit Trump spricht man beispielsweise recht offen über Rohstoffe in der Ukraine, wo vorher meist von Werten die Rede war. Und auch das geht vielen jetzt leichter über die Lippen: Die USA sind nicht unser Freund.

Was soll das auf Staatenebene auch sein: ein Freund? Der Begriff erinnert stets ans Jahr 2013: Während das Internet den "Harlem Shake" tanzte, informierte uns Edward Snowden freundlicherweise darüber, dass die USA Angela Merkels Privathandy überwachen. Die Kanzlerin erklärte: "Abhören unter Freunden, das geht gar nicht." Die Amerikaner sagten aber nicht: "Stimmt, wir lassen das künftig!" Sondern: "Dann sind wir wohl keine Freunde, denn wir hören euch natürlich weiterhin ab!" Die Pläne eines "No-Spy-Abkommens" verliefen im Sande. Aus einfachem Grund: Die USA können die Deutschen abhören, aber die Deutschen nicht die USA. Für ein "No-Spy-Abkommen" fehlt uns gewissermaßen das Abschreckungspotenzial.

Nun sollte man aus der späten Erkenntnis, dass die USA ein kapitalistischer Staat und keine humanistische Hilfsorganisation sind, nicht schlussfolgern, dass stattdessen dann wohl Putin unser Kumpel sein müsse. Faustregel: Traue keinem Mann, der mehr Länder bombardiert hat als andere bereist haben. Wer die USA als imperialistischen Drecksstaat sieht, kann getrost auch gleichermaßen über Russland urteilen und vice versa.

Europa grübelt daher, wie man sich zwischen zwei Drecksäcken aufstellen sollte. Die gegenwärtige Fragestellung lautet folglich nicht: Aufrüstung – ja oder nein? Sondern: Welches Bomberl hätten's gern? Beziehungsweise: Wie viel müssen wir für Rüstung ausgeben? Die künftige Bundesregierung will die Schuldenbremse lockern und die Frage mit "unendlich" beantworten. Ob das reichen wird? Als erste Noch-nicht-mal-im-Amtshandlung haben sich die Keine-Schulden-Partei und die Friedenskanzlerpartei also auf unbegrenzte Schulden für Militärausgaben verständigt.

Am Ende Nato gegen Nato?

"Unendlich" klingt freilich recht teuer. Aber Britenchef Keir Starmer sprach ja auch von einer Koalition der Willigen und nicht der Billigen. (Wobei Starmer sich vielleicht tatsächlich einen besseren Namen hätte ausdenken können, unterstützte die letzte "Koalition der Willigen" doch einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. USA versus Irak, Sie erinnern sich.) Will man also nicht völlig durchdrehen und maßlos überrüsten, geht es demnach um zwei Einschätzungen: Wie gut ist Europa ohne die USA gerüstet? Und wie stark sind die Russen? Ja, das sind unangenehme Fragen, die eher nach Marine-Granate Thunderstruck-Zimmerflak klingen als nach linker Wochenzeitung. Dennoch habe ich mich mal nach verschiedenen Einschätzungen umgeschaut.

Zunächst könnte man meinen, Europa habe wenig zu befürchten, wenn Putin es in drei Jahren nicht einmal schafft, das östliche Fünftel der Ukraine einzunehmen. Dagegen argumentiert der Brüssler Thinktank Bruegel: Weil Russland in dieser neuen Kriegswirtschaftszeit sowohl Gesellschaft wie auch Industrie mobilisiert habe, sei das gegenwärtige Heer trotz der Verluste größer, erfahrener und besser ausgestattet als die Stümpertruppe, die 2022 noch von ukrainischen Traktoren abgeschleppt wurde. Außerdem verfügten die russischen Generäle nach den letzten drei Jahren über eine praktische Erfahrung, die von großer Bedeutung sei und die derzeit keine andere Armee der Welt mitbringt – abgesehen von der ukrainischen, versteht sich. Aber gut, was hätten wir machen sollen? Zur Auffrischung unserer Kampffertigkeiten hin und wieder probeweise in den Niederlanden einfallen?

Aufrüstungsgegner verweisen hingegen auf eine Studie der Friedensforscher Herbert Wulf und Christopher Steinmetz, die im Auftrag von Greenpeace erstellt wurde: Die europäischen Staaten verfügten demnach über 2073 Kampfjets, etwa doppelt so viele wie Russland. Hinzu kommt eine Berechnung des International Institute for Strategic Studies (IISS): Inklusive der Türkei haben die europäischen Nato-Staaten gut zwei Millionen Soldaten unter Waffen. Fast doppelt so viele wie Russland. Auch der Konfliktforscher (und bekennende Pazifist) Andreas Zumach meint, bei konventionellen Waffensystemen sei Europa Russland "klar überlegen".

Andererseits sagt das IISS auch, Putin habe schon im Oktober befohlen, seine Armee auf 2,4 Millionen Mann aufzustocken. Selbst dann wären die Zahlen zwar noch recht ausgeglichen. Doch der Knackpunkt sei ein anderer: Den europäischen Staaten fehle es ohne die USA an Strategic Enablers – so argumentieren etwa Leute wie Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Strategic wat für Dinger? Unter den Begriff, den Sie in den kommenden Monaten noch ein paarmal hören werden, fällt alles, was man für Aufklärung, Transport und Kommunikation braucht, also Satellitensysteme, Luftbetankung und so weiter.

Besonders anschaulich (und lustig) zeigt sich die europäische US-Abhängigkeit im Falle Grönlands. Dänemark investierte anlässlich der russischen Aggression, aber eben auch wegen der jüngsten Trumpschen Einverleibungsfantasien gut zwei Milliarden in die Verteidigung Grönlands. Hier rüstet sich also ein Nato-Gründungsmitglied gegen ein anderes. Ironischerweise müsste Dänemark sich unter anderem mit F-35-Kampfjets verteidigen, also mit amerikanischen Fabrikaten. Ob das gegen den Willen der USA möglich ist, ist fraglich, da so gut wie kein fortschrittliches westliches Kampfflugzeug unabhängig ist von Kommunikationssystemen der Vereinigten Staaten.

Französische Atombomben sind zu groß

Demnach ist eines schon mal klar: keinen Bumm-Bumm-Kram mehr aus Amerika. Eigentlich ja eine Situation, die einigen Linken gefallen dürfte: Europa sagt sich los von den USA und am stärksten leidet die US-amerikanische Waffenindustrie. Dafür profitiert halt die europäische, aber einen Tod muss man wohl sterben.

Und was ist mit der Atombombe? Braucht Deutschland jetzt trotz Sperrvertrag eine eigene oder wäre ein russischer Atomschlag gegen Berlin nicht auch eine Chance zum Neuanfang für diese verlorene Stadt? Und sind die Grünen als Atomkraftgegner eigentlich Atombombenfreunde?

Zur groben Abschreckung reiche wohl erstmal ein französischer nuklearer Schutzschirm mit seinen 290 Sprengköpfen. Wobei hierzu ebenfalls einige unterhaltsame Überlegungen zu lesen sind: Die französischen Atombomben seien nämlich zu groß, meint etwa Brigadegeneral a.D. Heinrich Fischer. Wenn Frankreich damit zum Beispiel einen russischen Atomschlag gegen Polen vergelten wöllte, wäre die Vernichtung am Einschlagsort so stark, dass Frankreich damit rechnen müsste, hernach selbst attackiert zu werden. Deshalb brauche Europa zusätzliche kleinere Atombomben, mit denen man dem Aggressor nur einen kleinen Atomschlag verpassen könnte. Sie haben richtig gelesen: ein kleiner Atomschlag. Klingt ein bisschen wie "Warnschuss ins Gehirn".

Zum Begriff Schutzschirm fand ich zudem zwei schöne Sätze des Sicherheitsexperten Lucian Bumeder vom Institut für Friedensforschung der Universität Hamburg: "Der Begriff 'Schutzschirm' ist eigentlich irreführend. Es geht hier nicht um Schutz, sondern um die Drohung mit Massenmord." Für mich die zentrale Erkenntnis meiner Auswertung: Offenbar ist ein friedvolles Leben auf diesem Planeten nur möglich, wenn wir uns alle gegenseitig mit Massenmord drohen. Oder wie es der aus den Marvel-Filmen bekannte Friedensforscher Iron Man formuliert hat: Frieden bedeutet, dass man einen größeren Stock hat als der andere.

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3 Kommentare verfügbar

  • Werner
    vor 2 Wochen
    Antworten
    Hallo Herr Öttle, (Zwischen zwei Drecksäcken)
    mit Genuss habe ich den Artikel gelesen, Wahrheit kann auch unterhaltsam sein. ...Obwohl der Schluss hat mir den Genuss verdorben.
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