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Handys in der Schule

"Holt mal eure Handys raus"

Handys in der Schule: "Holt mal eure Handys raus"
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Die Entwicklung ist nicht aufzuhalten, deshalb muss sie gesteuert werden: Baden-Württembergs Schulen bekommen neue Regeln für den Umgang mit Handys außerhalb des Unterrichts. Das vielerorts verlangte Verbot ist vom Tisch. Vorerst.

Kultusminister:innen aller Länder, unabhängig von der Parteizugehörigkeit, kennen ein Phänomen nur zu gut: Etwa die Hälfte der jeweils direkt Betroffenen, der Fachleute und der Eltern sind mit einer Entscheidung unzufrieden, egal, wie sie ausfällt. Der baden-württembergischen Kultusministerin Theresa Schopper und dem erstmals grüngeführten Haus geht es da nicht anders. Zumal wenn wie beim Thema Handynutzung sehr breit und nicht nur faktenbasiert diskutiert wird.

Grün-Schwarz hat 2021 mit einer Besonderheit auf die Herausforderungen der Digitalisierung an und für Schulen reagiert und eine Staatssekretärin berufen. Sandra Boser (Grüne) befasst sich vorrangig mit dem immer breiteren Spektrum. Es geht darum, aus den Erfahrungen während der Corona-Pandemie zu lernen, als Handys, Tablets und PCs unersetzlich waren, um den Unterricht überhaupt aufrechtzuerhalten und den Zusammenhalt zu stärken. Es geht um Kollateralnutzen und Kollateralschäden, darum, die vielfältigen Modelle vor Ort zu würdigen und zu erhalten.

"Wir wollen die Heterogenität berücksichtigen und Rechtssicherheit geben", sagt Boser nach der allwöchentlichen Kabinettssitzung. Umfasst von den neuen gesetzlichen Regelungen ist nur die Zeit außerhalb des Unterrichts. In den Pausen, bei Ausflügen oder Klassenfahrten dürfen Lehrkräfte künftig einschreiten bis zur Abnahme der Geräte, wenn Schüler:innen, wie es hießt, die lernförderliche Umgebung beeinträchtigen. Beispielsweise, wenn die eine Gruppe reden oder spielen will, eine andere das aber nicht zulässt oder sich lustig macht über den Handyverzicht.

Auf der Suche nach Rechtssicherheit

Aus unzähligen Gesprächen und Schulbesuchen weiß die Grüne nicht nur um die gegensätzlichen Wünsche – ein Teil der Eltern will ein striktes Verbot, der andere will selbst im Unterricht den Kontakt zu den eigenen Kindern suchen dürfen –, sondern auch um bereits umgesetzte Pläne. An manchen Standorten dürfen private Geräte in der fünften Klasse überhaupt nicht mitgebracht, an anderen nicht im Unterricht aus dem Rucksack gezogen werden – außer die Lehrkräfte sagen: "Holt mal eure Handys raus."

Der Landesschülerbeirat (LSBR), die gesetzlich verankerte Vertretung aller Schüler:innen im Südwesten, betont, wie weit viele Schulen selbst ohne gesetzliche Vorgaben vorangekommen sind. Der Vorsitzende Joshua Meisel kann von einer Blitz-Umfrage unter LSBR-Mitgliedern über alle Schularten und unterschiedliche Jahrgangsstufen hinweg berichten: Manche seien dringend auf der Suche nach jener Rechtssicherheit, die das Kultusministerium jetzt bieten möchte.

Ralf Nentwich, Experte für digitale Bildung in der Grünen-Landtagsfraktion, weiß ebenfalls von vielen Kollegien, die Regeln auf den Weg bringen und gemeinsam umsetzen. Dabei stehe häufig mehr im Mittelpunkt, sagt er, als der Umgang mit Handys oder Tablets, es gehe um "digitale Mündigkeit".

Um die sorgen sich Digitalisierungsskeptiker ebenso. Peter Hensinger von Stuttgart Ökologisch Sozial (SÖS) will verhindern, "dass die Welt und erst recht die Schulen vom Mobilfunk und den neuen Medien beherrscht werden". Gerade hat er für die SÖS im Gemeinderat eine mehrteilige Analyse der Situation für die Landeshauptstadt vorgelegt. Der pensionierte Pädagoge beklagt einen "39 Millionen Euro Skandal", weil diese Mittel in Digitalisierung von Kitas und Schulen gesteckt würden. Er spricht vielen aus dem Herzen, wenn er unter anderem "Bildschirmfreiheit" fordert sowie ein Verbot privater digitaler Geräte bis zum Ende der vierten Klasse. Er beruft sich auf die "negativen Erfahrungen mit Frühdigitalisierung in den skandinavischen Ländern".

Schweden – doch nicht so nachahmenswert?

Experte Nentwich, aber auch das Kultusministerium halten dagegen – schon allein deshalb, weil die unterschiedlichen Hilfsmittel unterschiedlich betrachtet werden müssten. So seien Tablets oder Notebooks vor allem Arbeitsgeräte. "Und wie die im Unterricht verwendet werden, ist immer eine pädagogische Entscheidung", sagt der Ex-Lehrer und Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). "Wir wollen keine Rolle rückwärts", ergänzt Boser. Selbstverständlich sei es weiter richtig auf digitale Lern- und Lehrmethoden zu setzen. Gerade kursierende Meldungen zu einer Umkehr in Skandinavien lassen die Fachleute im Hause Schopper nicht gelten. Bestenfalls verkürzt wiedergegeben, wenn nicht gar falsch sei vor allem der Hinweis auf Schweden.

Das Land fühlte sich lange Zeit als Vorreiter, die dortige Digitalisierungsstrategie wurde hierzulande immer wieder als besonders fortschrittlich gelobt – bis das Karolinska-Institut, die renommierte Medizin-Uni nahe Stockholm, dieses Konzept vor zwei Jahren als zu wenig faktenbasiert einordnete. Vor allem geht es um den Einsatz digitaler Schulbücher. Digitale Lernmaterialien seien zwar erheblich billiger als gedruckte Schulbücher, Untersuchungen zeigten aber, "dass sie negative Folgen haben, die längerfristig zu höheren sozialen Kosten führen können". Digitale Arbeitsgeräte enthielten etwa "viele Ablenkungen, die die Konzentration und das Arbeitsgedächtnis behindern", was wiederum das Lernen beeinträchtige. Außerdem habe das Lesen und Schreiben auf dem Bildschirm "negative Auswirkungen auf das Leseverständnis". Den Schulen sollten lieber zweckgebundene Mittel zur Verfügung gestellt werden, um den Bedarf an gedruckten Schulbüchern zu decken.

Nach Angaben des Kultusministeriums auf Kontext-Anfrage gibt es digitale Schulbücher in Baden-Württemberg aber überhaupt nicht. Nentwich beklagt generell viel zu viel Halbwissen zum Thema und fühlt sich an Europa- oder Weltmeisterschaften im Fußball erinnert, weil in diesen Wochen ebenfalls "Zehntausende Fachleute ohne ausreichende Substanz unterwegs" seien. Einig immerhin sind sich Gegner:innen wie Befürworter:innen weiterer Digitalisierungsschritte, dass die Medienkompetenz schon in Kitas und ab der Grundschule viel stärker in den Blick genommen werden muss.

Pflichtfach Medienkompetenz kommt erst 2026

Gerade Baden-Württemberg könnte deutlich weiter sein. Schon Ende der 1980er-Jahre ärgerte sich Günther Oettinger (CDU) darüber, dass dem Umgang mit Computern und vor allem Computer-Spielen von Kindern und Jugendlichen zu wenig Bedeutung beigemessen wurde. Mehrfach plädierte er für die Ausweitung des Pflichtunterrichts an den allgemeinbildenden Schulen – nicht zuletzt nachdem bekannt wurde, dass rassistische, gewaltverherrlichende CDs auf Schulhöfen die Runde machen und weder Innen- noch Kultusministerium davon wussten.

Keinen Mangel gab es an Versprechen, mehr Geld zu investieren. "Ausstattung allein genügt nicht, Computer, Internet, Multimedia sind keine Selbstläufer, die von sich aus zur Bildung beitragen", sagte einer der Boser-Vorgänger, Kultusstaatssekretär Rudolf Köberle (CDU), in einer Landtagsdebatte vor einem Vierteljahrhundert. Mehr als 20 Jahre später steht nun fest: Erst ab dem kommenden Herbst wird es an allen weiterführenden Schulen das eigenständige Pflichtfach Medienkompetenz und Information geben.

Auch Hensinger drängt auf eine Erziehung zur unabhängigen Medienmündigkeit. Die Vergleiche, die er zieht, sind zumindest bedenkenswert: Um Jugendschutz und Suchtprävention zu verwirklichen, brauche es kein Smartphone. Schließlich werde bei der Drogen-, Alkohol- und Raucherprävention auch nicht der Suchtstoff konsumiert und die Risiken schlechter Ernährung nicht durch den Konsum von Junkfood vermittelt. Der Landesschülerbeirat spricht sich dafür aus, "angesichts der zunehmenden problematischen Smartphonenutzung unter Kindern und Jugendlichen den verantwortungsvollen Umgang mit dem Smartphone in der Schule zu vermitteln". Ein generelles Handyverbot oder übermäßige Einschränkungen verlagerten das Problem lediglich nach Hause, anstatt eine nachhaltige Lösung zu schaffen.

Praktiker:innen aus den Klassenzimmern verweisen auf noch ganz andere Aspekte. "Es gibt Kinder, die brauchen ihr Handy", erläutert Meisel, "etwa um ihre Blutzuckerwerte zu überwachen." Häufig stünden sie ohnehin unter besonderer Beobachtung durch andere, und "dass sie allein ihr Smartphone nutzen dürfen, trägt sicher nicht zur guten Stimmung im Unterricht bei". Staatssekretärin Boser nennt banalere Gründe, etwa ausfallende Busverbindungen, als Argument dafür, dass die Landesregierung jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt digitale Privatgeräte nicht aus der Schule verbannen will. Der Beschluss liegt jedoch auf Wiedervorlage. Sollten zu viele Standorte, die bisher keine eigenen Regelungen entwickelt haben, sich nicht auf den Weg machen, sieht das neue Schulgesetz eine Ermächtigung vor. Dann können Mindeststandards per Verordnung vergleichsweise einfach landesweit verhängt werden.

Einen Zahn übrigens zieht der Ministerpräsident jenen Eltern und Lehrkräften, die nach einer Norm für Haftungsschäden im Einzelfall beim Umgang, der Abnahme oder beim Wegsperren von Geräten verlangen. Genau die werde es sicher nicht geben, ereifert sich Kretschmann vor Journalist:innen so sehr, dass er sogar eine Entschuldigung hinterherschickt. Diese Art Überregulierung führe zu der Bürokratie, die ab-, nicht aufgebaut werden müsse. Und sein Bild vom Menschen lieferte er gleich dazu frei Haus: Der sei allein in der Lage zu regeln, was zu tun ist, wenn ein Handy runterfalle. Einen erklecklichen Teil Betroffener hat er sicher auch in dieser Frage gegen sich.

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