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NS-Vergangenheit in Stuttgart-Feuerbach

Von Wiener zu Wiener

NS-Vergangenheit in Stuttgart-Feuerbach: Von Wiener zu Wiener
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Der Bahnhofsvorplatz des Stuttgarter Stadtteils Feuerbach heißt seit einem Besuch Adolf Hitlers Wiener Platz. Im Lauf dieser Woche bekommt er nun gleich sechs neue Namensgeber:innen mit dem Nachnamen Wiener.

Renée Wiener war Zeitzeugin des "Anschlusses" Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland. "Wenn ich einen Film sehe vom Einmarsch, muss ich rausgehen", erzählt sie 2008 in einem Interview, das sie in ihrer neuen Heimat New York gibt. "Das kann ich immer noch nicht aushalten", sagt die damals 84-Jährige ihren Gesprächspartner:innen Albert Lichtblau und Maria Ecker-Angerer. "Und vor allem, dass ganz Wien auf der Straße war und gejubelt hat, und alles mit Hakenkreuzen bedeckt, und wir haben uns alle beinahe unterm Bett versteckt. Es war wirklich furchtbar."

Es war der 13. März 1938. Renée, ihr Geburtsname war Kurz, war damals noch keine 14 Jahre alt. 19 Tage später, am 1. April, kam Adolf Hitler nach Stuttgart. Aus diesem Anlass wurden zahlreiche Straßen und Plätze im Stadtteil Feuerbach – seit Mai 1933 eingemeindet – nach österreichischen Städten und Bundesländern umbenannt. Sie heißen fast alle heute noch so. Auch der Wiener Platz direkt am Bahnhof, der zuvor Postplatz hieß.

Er liegt zwischen dem Feuerbacher Bahnhof und dem entstehenden "Quartier am Wiener Platz", derzeit Baustelle, kürzlich auf dem zweiten IBA-Festival zu besichtigen. Die 1990 vom Architekten Günter Behnisch entworfene Stadtbahnhaltestelle teilt den Wiener Platz diagonal, er gleicht eher einer Aneinanderreihung übrig gebliebener Restflächen, im Moment ganz besonders wegen der zahlreichen Baustellen-Absperrungen.

Jeden Tag ein neuer Name

Diesen Montag, 2. Juni, ist nun der erwähnte Albert Lichtblau, Leiter des Fachbereichs Geschichte der Universität Salzburg, zum Wiener Platz gekommen, um über Renée Wiener zu sprechen. Diese Woche erhält der Ort sechs neue Namenspatron:innen mit Nachnamen Wiener. Eine "Orgie der Umbenennung" nennt das die Lokalwebsite "feuerbach.de". Doch ist Umbenennung überhaupt der richtige Begriff? Der Wiener Platz heißt weiterhin Wiener Platz, nur erweitert: "Renée-Wiener-Platz" steht seit Montag auf einem neuen Straßenschild.

Hinter der Aktion stecken das Künstlerpaar Sylvia Winkler und Stephan Köperl sowie das "Studio Urbane Strategien" der Städtebauprofessorin Martina Baum, ihres Büropartners Markus Vogl und ihrer Mitarbeiterin Giuliana Fronte. Köperl und Winkler hatten sich im vergangenen Jahr bei einem Ideenwettbewerb des Kulturamts beworben. Als eines von drei Teams sind sie noch im Rennen. Bis einschließlich Samstag kommt jeden Tag ein neuer Name an einem Mast hinzu.

Der Wettbewerb stand unter dem Titel "Bunker.Resonanz". Unter der Stadtbahnhaltestelle befindet sich ein denkmalgeschützter Tiefbunker. "In seiner Anschaulichkeit und Gesamtheit ist er in Stuttgart singulär", so das Denkmalamt. "Der thematische und räumliche Schwerpunkt" des Wettbewerbs soll das Zugangsgebäude sein: ein unauffälliger, altrosa gestrichener Quader, im Moment beinahe unzugänglich. Derzeit auch am Wiener Platz zu sehen: Gestrichelte Linien in der altrosa Farbe des Bunker-Zugangshäuschens. Sie stammen aus einer Intervention des Teams "Nadelöhr" – damit ist der Eingang zum Schutzraum gemeint. Vor dem Bahnhof steht eine kleine Schutzhütte aus schwarz verkohltem Holz: Sie gehört zum Projekt "Shelter: survival methods to heal divides", das die Frage des Überlebens in die Zukunft projiziert.

Als Lichtblau am Montag am Ort der Veranstaltung eintrifft, hat es gerade aufgehört zu regnen. Daher findet sein Vortrag in einer Unterführung statt. Vorher schrauben Vogl und Köperl aber noch das Straßenschild "Renée-Wiener-Platz" an einen Laternenmast. Darunter steht: "Renée Wiener. 1924 - 2018. Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus, Schriftstellerin." Lichtblau hat sie zehn Tage lang interviewt, mit einer jüngeren Mitarbeiterin: zweimal zwei Stunden pro Tag. Um die 20 Stunden Videoaufnahmen sind entstanden und auf der Seite "weiter erzählen" anzusehen.

Flucht, Untertauchen und Widerstand

Auch ein Buch hat Lichtblau geschrieben: "Von Anfang an Rebellin". Renée Kurz war ein unbezähmbares Kind. In Wien aufgewachsen, ist sie immer wieder von zu Hause ausgebüxt. Zehn Prozent der Stadtbevölkerung waren jüdisch, mit Vorfahren in Ungarn oder in Galizien, Nach dem Einmarsch der nationalsozialistischen Truppen emigrierte die Familie Kurz sofort über Italien nach Belgien, später dann nach Frankreich. Sie versuchte, über die Pyrenäen nach Spanien zu gelangen.

Über eine gemeinsame Bekannte nahm Lichtblau Kontakt zu Renée Wiener auf. Um zwanzig Stunden Gesprächsaufzeichnungen zu machen, muss jemand schon etwas zu erzählen haben, erklärt er. Renée Wiener hatte viel zu erzählen. Nachdem die Flucht über die Pyrenäen gescheitert war, zog sich die Familie nach Nizza zurück und versuchte unterzutauchen. Im Süden Frankreichs herrschte das Vichy-Regime, das mit den Nazis kollaborierte und Razzien durchführte, um jüdische Menschen aufzuspüren.

Im November 1942 besetzte die italienische Armee die Côte d’Azur. Renée schloss sich dem zionistischen Widerstand an. In einer "Mädelgruppe" lockte sie jüdische Spitzel, die für die Gestapo arbeiteten, in die Hände der Résistance. Sie führte auch Kindergruppen getarnt als Schulausflug zur Schweizer Grenze. Verbündete auf Schweizer Seite brachten die Kinder dann in Sicherheit. Lichtblau schildert das Vorgehen des jüdischen Widerstands, die damit verbundenen Gefahren und wie Renée Wiener sich zu verschiedenen Zeitpunkten immer wieder neu orientierte. "Das Kriegsende kam zu spät", so ihr Resümee. "Wir waren schon so abgenutzt, ganz erschöpft, wir hatten keinen Grund zu jubeln." Zehn Jahre nach dem Interview mit Lichtblau verstarb sie im hohen Alter von 94.

Vater und Tochter als Namensgeber:innen

"Oswald-Wiener-Platz" steht seit diesem Dienstag auf dem zweiten Schild: "1938 - 2021, Schriftsteller, Künstler, Kybernetiker und Gastronom". Heute, Mittwoch, kommt als einzige lebende Namenspatronin die als Fernsehköchin bekannte Sarah Wiener hinzu: "Ernährungsaktivistin, Köchin, Unternehmerin, Politikerin" – und Tochter von eben jenem Oswald Wiener, der sich 1969 einer Haftstrafe für seine Teilnahme an einer "Uni-Ferkelei" der Künstlergruppe "Wiener Aktionisten" durch Flucht entzogen und in Berlin ein Restaurant eröffnet hatte, das er "Exil" nannte.

Am morgigen Donnerstag geht es weiter mit Mathematiker Norbert Wiener. Ohne den Begründer der Kybernetik gäbe es keinen Cyberspace: Das genügt, um die Tragweite seiner Erfindung zu ermessen. Nach ihm ist auch ein Begriff aus der Stochastik benannt, eines Teilgebiets der Mathematik, das sich mit der statistischen Wahrscheinlichkeit beschäftigt: die "Wiener-Wurst". Ob Nicole Radde, Stochastik-Professorin der Universität Stuttgart, in einfachen Worten erklären kann, was die "Wiener-Wurst" ist, wird sich am Donnerstagabend zeigen. Norbert Wiener, geboren 1894 in Columbia, Missouri, war wie viele Personen mit Nachnamen Wiener jüdischer Herkunft. Im Zweiten Weltkrieg wirkte er an der militärischen Forschung mit, nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki distanzierte er sich davon.

Der ein paar Jahre ältere Publizist Alfred Wiener, in Potsdam geboren, warnte schon 1919: "Eine gewaltige antisemitische Sturmflut ist über uns hereingebrochen, […] die unbegrenzte Geldmittel und damit arbeitende, geschickt geleitete Organisationen erregt und gefördert haben und weiter auszudehnen eifrigst bemüht sind."1933 floh er nach Amsterdam, dann weiter nach London, wo es noch heute die nach ihm benannte "Wiener Library for the Study of the Holocaust and Genocide" gibt. Deren Direktor Toby Simpson spricht am Freitagabend in Feuerbach. Wilhelm Wiener ist dagegen gar kein Mann und hieß auch nicht Wiener. Es handelt sich um ein Pseudonym von Minna Kautsky, geboren 1837 in Graz, sozialistische Autorin, Schauspielerin und Mutter von Karl Kautsky, einem Freund von Friedrich Engels. Über sie wird der Stuttgarter Philosoph Michael Weingarten sprechen.

Wichtiger als das Kunstwerk: das Erinnern

Vom "Anschluss" Österreichs und der Umbenennung der Feuerbacher Straßen und Plätze über Antisemitismus und Krieg bis zur Unterbringung italienischer Gastarbeiter im Bunker; von der Frage der militärischen Forschung bis zum Ausbau als Atombunker in den 1970er-Jahren: Zwischen der Geschichte des Wiener Platzes und den sechs namengebenden Personen gibt es zahlreiche Resonanzen.

Der Bunker sei ein "physisches Manifest" der Entwicklung, die zu Krieg und Zerstörung geführt habe, so beschreibt Markus Vogl den Zusammenhang. Die Gesprächsreihe, so Vogl, will den Platz wieder zum öffentlichen Raum machen, denn: "Der öffentliche Raum ist der Ort, wo wir im Gespräch sind." Sylvia Winkler hat sich vor allem daran gestört, dass der Name "Wiener Platz" auch im Zuge der IBA einfach weiter verwendet wird, ohne seine Geschichte zu reflektieren.

Eigentlich sucht der Wettbewerb für den Wiener Platz nach einem dauerhaften Kunstwerk, von dem im Moment niemand weiß, wie es aussehen soll. Noch bevor am 4. Juli die Wettbewerbsjury zusammentritt, gibt es "ein vielseitiges Veranstaltungsprogramm mit temporären künstlerischen Interventionen". Vielleicht ist es ohnehin wichtiger, an die Geschichte des Platzes zu erinnern. Und vielleicht könnten die sechs bereits angefertigten Straßenschilder auch einfach an Ort und Stelle bleiben: Als minimalinvasive Installation, zum Kunstwerk deklariert, um umständliche Genehmigungsprozesse zu vermeiden.


Hier geht es zur Website des Projekts "Wiener wo? Wer? Wie?" mit Infos zu Terminen und Personen. Zum Wettbewerb "Bunker.Resonanz".

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