Stuttgart kann aufatmen, oder genauer: unbeschwert tief einatmen. Die Luftqualität hat sich nämlich in den vergangenen Jahren weiter verbessert, berichtete die Stadtverwaltung vergangenen Monat im Klima- und Umweltausschuss. Weniger Stickstoffdioxid und Feinstaub als in den Vorjahren haben die Stationen in der Stadt gemessen, die Werte lagen unter den aktuellen EU-Grenzwerten – was noch vor ein paar Jahren undenkbar schien. Es geht also in die richtige Richtung.

Zum Glück! In der Innenstadt gibt es schließlich nicht nur Läden, in denen Geld dagelassen werden soll. Es gibt auch viel zu bestaunen: Im Winter funkeln auf Markt- und Schlossplatz die Weihnachtsmärkte, sogar Schweizer Tourist:innen lassen sich dort das – aus ihrer Sicht günstige – Raclette schmecken. Im Sommer gibt's Musik, Tanzeinlagen und – wenn die Stadt willig ist – gemeinsames Gucken von Leibesübungen auf riesigen Leinwänden, wie etwa zur Fußball-Europameisterschaft der Herren oder zuletzt anlässlich des DFB-Pokalfinales der Herren, das der heimische VfB für sich entscheiden konnte. Bei solchen Massenveranstaltungen leidet zwar der Rasen am Schlossplatz, aber immerhin nicht die menschliche Lunge.
Das große Angebot der Innenstadt wird auch rege genutzt. Vergangene Woche verkündete das Rathaus die frohe Botschaft: Stuttgart gewinnt den "Vital City Award 2024" und darf sich offiziell damit schmücken, "die lebendigste Innenstadt Deutschlands" in der Kategorie "Städte über 600.000 Einwohner" zu haben. Die Auszeichnung verleiht das Start-Up "hystreet.com", Tochter einer Kölner Vermögensverwaltungsgesellschaft.
Schrödingers Strahlkraft: gut oder schlecht?
Und die Methode zur Vitalitätsmessung sieht so aus: Dem Unternehmen nach weist die Stuttgarter Innenstadt im Verhältnis zur Einwohnerzahl die höchste Frequenz an Passant:innen auf, noch vor Frankfurt/Main, Dortmund und Düsseldorf. Stolz posiert Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) für die Pressemitteilung bei der Übergabe des Preises vorm Rathaus und verkündet: "Unsere Innenstadt hat eine herausragende Anziehungs- und Strahlkraft für Menschen aus Stadt, Region, Land und weit darüber hinaus." Das liest sich sehr positiv, wenngleich Nopper das gleiche Phänomen – also eine Innenstadt, die Menschen anzieht – im Gemeinderat auch schon problematisiert hat. Etwa im Zusammenhang mit Geflüchteten oder seinem Elf-Punkte-Plan für mehr Sicherheit in der Stadt, wenn er der vitalen Innenstadt eine "Magnetwirkung für Straffällige" attestiert. Offenbar ist für den Oberbürgermeister die "Anziehungs- und Strahlkraft" der Stadt Stärke und Schwäche zugleich, je nachdem, wer kommt.
Gewiss, Gruppen junger Männer in der Innenstadt sind, wie auch Schmutz und Müll, ein entscheidender Faktor beim (fehlenden) Sicherheitsgefühl in der Innenstadt, wie das Stuttgarter Sicherheitsaudit ergab (Kontext berichtete). Insbesondere migrantische Männer dürften ein Gefühl der Unsicherheit auslösen, dazu haben Rechtspopulist:innen und Medien ihr übriges beigetragen. Was die Sicherheitsstudie aber auch zeigt: Besonders unsicher fühlen sich diejenigen, die sehr selten in der Stadtmitte zugegen sind. Ihnen möge man zurufen: Überwindet das ungute Bauchgefühlt, traut euch raus, besucht die Stadt!
Neben dem Start-Up Hystreet hat auch das Kölner Institut für Handelsforschung Innenstädte untersucht, Befragungen durchgeführt und verleiht Stuttgart in der Studie "Vitale Innenstädte 2024" Bestnoten für Attraktivität und Einzelhandelsangebote. Ungewöhnlich wirkt da nur, dass ein Laden in der über 1.000 Meter langen Einkaufsmeile Königstraße das offenbar anders sieht: "MAKE THE KÖNIGSTRASSE GREAT AGAIN", leuchtet es von neonfarbenen Plakaten im Kaufhaus Mitte. Der Grund: Die ganzen Großketten würden die Innenstadt unattraktiv machen, die hätten nichts mit Vielfalt, Innovation oder Fortschritt zu tun, heißt es auf der Webseite. Das Kaufhaus selbst dagegen will nicht mit Massenware und vollgestopften Regalen, sondern mit regionalen Produkten überzeugen.
ÖPNV: Das V steht für Vitalität
"Die Untersuchung zeigt auch, dass die Erreichbarkeit mit allen Verkehrsmitteln für die Vitalität der Stuttgarter Innenstadt von ganz besonderer, überdurchschnittlicher Bedeutung ist", merkt Oberbürgermeister Nopper an. Wer den Stuttgarter Nahverkehr regelmäßig nutzt, wird da wahrscheinlich staunend eine Augenbraue hochziehen: Die S-Bahnen sind so unzuverlässig, dass über Erlebnisse in der Linie S1 erst kürzlich ein 40-seitiger Horror-Comic erschien (Kontext berichtete). Die Stadtbahnen der Verkehrsgesellschaft SSB sind da deutlich zuverlässiger – aber gleichen zu Stoßzeiten einer menschlichen Sardinenbüchse. Noch schlimmer ist es, wenn die S-Bahn mal wieder ganz ausfällt, zum Beispiel zur alljährlichen Stammstreckensperrung oder wegen Baustellen und – der Klassiker – Oberleitungsstörungen, sodass die Menschenmassen notgedrungen auf die Stadtbahn ausweichen.
Das muss man dem Stuttgarter ÖPNV lassen: Er steigert tatsächlich die Vitalität seiner Kundschaft – mit spontanen Gleisänderungen und Fahrtausfällen sorgt er regelmäßig für ein gehetztes Umplanen und Umherrennen, sodass viele ihr tägliches Sportpensum schon vor Arbeitsbeginn erfüllt haben. Auch die klimafreundlich mit der Bahn nach Stuttgart anreisenden Geschäftsleute und Tourist:innen bekommen das zu spüren. Statt von einem Bahnhofsgebäude werden sie von einem riesigen Loch begrüßt und von den Gleisen aus müssen sie erst einen knapp zehnminütigen Spießrutenlauf auf sich nehmen, bevor sie die vitale Innenstadt und Anschluss an Bus und Bahn erreichen – das erhöht natürlich die Frequenz an Passant:innen in der Stadt.
Dass sich viele Stuttgarter:innen über das seit Jahren im Herzen der Innenstadt klaffende Loch – eine Folge des Megabauprojekts S21 – ärgern, ist kein Geheimnis. Ungewöhnlich ist, dass sich Köpfe der Landesregierung öffentlich so darüber aufregen wie Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann vergangene Woche. "Mit welcher Arroganz wir da abgebürstet worden sind, Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr", schimpfte er über die Deutsche Bahn, die Kritik am Projekt lange zur Lüge erklärte. "Und heute tritt all das ein, was wir damals gesagt haben, von A bis Z", ärgerte sich Kretschmann und klopfte dabei sogar auf den Tisch.
Aktionsbündnis: MP nicht konsequent genug
Das Aktionsbündnis gegen S21 freut sich angesichts dieser kritischen Worte und schreibt in einem offenen Brief an Kretschmann: "Man gewinnt den Eindruck, Sie wollten sich gegen Ende Ihrer Amtszeit nochmal ehrlich machen" (der 77-Jährige wird bei der Landtagswahl 2026 nicht mehr antreten). Nur ist der MP aus Sicht des Aktionsbündnis' nicht konsequent genug, es bittet darum, sich "lieber spät als nie" für den Erhalt möglichst vieler oberirdischer Gleise und gegen die Kappung der Gäubahn einzusetzen. Zudem solle Kretschmann nicht auf eine Inbetriebnahme des neuen Bahnhofs im Jahr 2026 bestehen, weil noch zu viele Probleme ungelöst sind und der Bahnkundschaft so ein "unkalkulierbarer Schaden" drohe.
Trotz aller vorhandenen Unzulänglichkeiten hat Baden-Württembergs grüner Verkehrsminister Winfried Hermann im Mai angekündigt: "Bei Baustellen und Streckensperrungen haben wir klare Informationen, dass es im nächsten Jahr auf keinen Fall besser wird." Und: "Das Leiden an Stuttgart 21 für die Fahrgäste wird noch eine Stufe höher sein."
Also: Zugausfälle, vollgestopfte Bahnen, Hetzerei – Vitalität eben. Wer jetzt schon einen Vorgeschmack auf die kommende Ästhetik von S21 haben will, kann sich ja mal die 100 Millionen Euro teure Stadtbahnhaltestelle bei der Staatsgalerie genauer anschauen: Kalter, kantenloser Beton, in dessen offenen Poren sich fast fünf Jahre nach der Eröffnung bereits reichlich Schmutz und Abrieb festgesetzt und dunkle Flecken gebildet haben. Auch der ein oder andere Riss ist schon zu erkennen. Da kommt richtig Vorfreude auf beim Gedanken, dass bald ein ganzer Bahnhof so aussehen wird.
Und alle, auf die Stuttgarts Vitalität trotz alledem nicht überspringen will, können sich den Besuch in der Innenstadt mit einem Trip der ganz anderen Art etwas lebendiger machen: Zahlreiche Drogenautomaten bieten halblegale Substanzen an, die sich an bekannten Rauschmitteln orientieren, aber die molekulare Struktur im Labor so verändern, dass Verbote nicht mehr greifen – und unbekannte Nebenwirkungen und Langzeitfolgen drohen. Allerdings gibt es ja inzwischen Möglichkeiten, legal zu einem richtigen Joint zu greifen – und dann vielleicht auf Ideen zu kommen wie: "Oh, wie schön ist Stuttgart!" Doch Vorsicht: Wer hier tief einatmet, schädigt durchaus seine Lunge.
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Philippe Ressing
vor 13 Stunden