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Rad- und Fußverkehr

Kommunen glänzen durch Eigenlob

Rad- und Fußverkehr: Kommunen glänzen durch Eigenlob
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Städte und Gemeinden in Baden-Württemberg zeichnen sich selbst für ihre Fuß- und Radverkehrspolitik aus. Doch die Realität vor Ort, vor allem in Stuttgart, sieht anders aus, wie ein Blog und Zeichnungen von Christine Lehmann zeigen.

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Wie die Zukunft des Verkehrs 2030 aussehen wird? "Aktive Mobilität ist so einfach, sicher und bequem, dass Fuß und Rad die erste Wahl sind", beschreibt die Arbeitsgemeinschaft Fahrrad- und Fußgängerfreundlicher Kommunen in Baden-Württemberg (agfk) ihre Vision. "Gehen und Radfahren macht Spaß und ist im Alltag ganz selbstverständlich. Die Menschen sind gesünder und komfortabler unterwegs." Dies gewährleiste in besonderem Maße die soziale Teilhabe aller sowie den barrierefreien Zugang zu Mobilität.

Im Oktober hat die agfk 32 der 120 beteiligten Kommunen und Landkreise eine Urkunde überreicht: Stuttgart und Esslingen, Mannheim und Heidelberg sowie weiteren 22 Städten und sechs Landkreisen, "die jetzt schon", wie es in der Pressemitteilung heißt, "die auf insgesamt fünf Jahre angelegte Qualitätsstufe für den Fuß- und Radverkehr erreicht haben."

Das überrascht angesichts der tatsächlichen Zustände vor Ort, etwa in Stuttgart. Radwege enden spätestens vor der nächsten Kreuzung. Von einem durchgängigen Netz kann nicht die Rede sein. Hauptstraßen zu queren, stellt Fußgänger:innen wie Radfahrer:innen auf eine harte Geduldsprobe. Gehwege sind zugestellt mit E-Scootern, Mülltonnen, parkenden Autos, Verkehrsschildern – kurz allem, was sonst keinen Platz findet. An Baustellen muss sich jede:r auf eigenes Risiko einen Weg suchen.

Zeichenserie: versperrte Gehwege

Christine Lehmann hat vor Kurzem eine Serie von schönen Zeichnungen über den Zustand der Gehwege begonnen. Alles fing damit an, dass sie sich 2006 ein E-Bike gekauft hat. Als sie sich sieben Jahre später von ihrem Job als SWR-Nachrichtenredakteurin ein Jahr Auszeit nahm, kam sie endlich dazu, sich dem Thema Rad- und Fußverkehr zu widmen. Warum halten Radfahrer nicht an der Ampel? Darüber diskutierte sie mit ihrem Mann. Der riet ihr: "Mach doch einen Blog!" Gesagt, getan: Seit mehr als zehn Jahren hält sie mit "Radfahren in Stuttgart" Situationen fest, denen Radler:innen in dieser Stadt täglich begegnen. Auf den ersten Eintrag folgten weitere, anfangs täglich, heute nur noch alle zwei Tage. Über 2.000 Einträge dürften es mittlerweile sein: kleine Beobachtungen aus Stuttgart und Grundsätzliches zum Radverkehr. Da die Probleme vielen begegnen, hat sie auch viele Follower: derzeit um die 60.000 Seitenaufrufe im Monat. "Unsere Online-Zeitung" nannten Radverkehrsverbände und – initiativen wie der ADFC oder die Critical Mass den Blog.

Ihr Engagement blieb nicht unbemerkt. Die Grünen aus Stuttgart-Süd fragten sie, ob sie Bezirksbeirätin werden wolle. 2015 zog sie in den Gemeinderat ein, dem sie bis Sommer 2024 angehörte. Damals war die Stadt gerade dabei, ihre erste Hauptradroute einzurichten. Auf der Tübinger Straße stand aber ein Stoppschild: für Radler. Der Autoverkehr sollte Priorität haben. Lehmann rief zu drei "Stoppschildpartys" auf, und das Schild war weg. "Man muss unbedingt für Radthemen Öffentlichkeit schaffen", resümiert sie heute: "Bilder schaffen, am besten leicht ironisch." Nun zeichnet sie Bilder, die wie ihre Blogeinträge zeigen, dass es mit dem Rad- und Fußverkehr in Stuttgart nicht zum Besten bestellt ist. Was jede:r weiß, der oder die sich mit dem Rad oder zu Fuß durch die Stadt bewegt.

Geschönte Zahlen

Angeblich gibt es in Stuttgart 360 Kilometer Radwege. In einem Blog-Eintrag klärt Lehmann auf: 271 der 360 Kilometer müssen sich die Radler:innen mit Fußgängern teilen. Mit der Folge, dass sich Fußgänger ärgern, wenn Radler an ihnen vorbeizischen, und sie sich erschrecken, und Radler sich ärgern, weil sie nicht vorwärtskommen. Die insgesamt 63 Kilometer Rad- und Schutzstreifen enden häufig genug vor der Kreuzung – wo Radfahrer:innen am ungeschütztesten sind. Richtige, eigenständige Radwege gibt es nur 20 Kilometer.

Die Stadt Stuttgart konzentriert sich in ihrer Planung ganz auf die Hauptradrouten. "Was fehlt", sagt Lehmann, "sind die Querverbindungen: Wege, auf denen ich ohne Mischverkehr vom Osten in den Westen komme." Bei den Fußwegen ist das Hauptproblem, dass sie nicht freigehalten werden. "Da wird alles hingeschoben", so Lehmann, "nur damit der Autoverkehr keine Hindernisse hat." Soeben hat der Verband FUSS e.V. eine Broschüre zum Gehwegparken herausgegeben. Geahndet wird es kaum.

Wie aber kommt es, dass eine Kommune, in der es so aussieht, "für gute Qualität im Fuß- und Radverkehr" ausgezeichnet wird? Das Selbstverständnis der agfk beruht auf der "Vision 2030", die wiederum aus sechs "Meilensteinen" besteht. Auf Kontext-Anfrage an die agfk antwortet Bettina Bönisch vom Büro Velo-Konzept: "Die Landeshauptstadt Stuttgart hat in fast allen Meilensteinen der Qualitätsstufe über 80 Prozent der erforderlichen Punktezahl." Vor allem bei den Meilensteinen zu "Fußverkehr" und "Mentalitätswechsel und eigenes Commitment" habe Stuttgart sehr gut abgeschnitten. Beim Meilenstein "Vernetzung, voneinander lernen, Wissen teilen" würden sie "am ehesten Potenzial" sehen. "Aber auch da hat Stuttgart schon ein hohes Niveau." Die 32 ausgezeichneten Kommunen und Landkreise erhalten "zusätzlich zur Würdigung für ihre bereits erreichten Erfolge eine Leitlinie zu noch bestehenden Herausforderungen bei der Konzeption, der Planung und dem Ausbau von Infrastruktur, aber auch zu strategischen und Marketingmaßnahmen für Fuß- und Radverkehr."

Niemandem auf die Füße treten

"Noch bestehende Herausforderungen" – das ist so positiv formuliert, dass sich niemand auf die Füße getreten fühlt. Nur noch ein paar kleine Herausforderungen und ein bisschen strategisches Marketing, dann wird alles gut. Die Kommunen machen sich Mut, indem sie sich gegenseitig loben und auszeichnen. Die Probleme werden auf diese Weise überhaupt nicht erkennbar. Man muss schon sehr genau lesen, um zu erahnen, dass zwischen Absichten und Realität eine große Lücke klafft.

Etwas klarer wird das Bild, wenn man die Ergebnisse mit dem ADFC-Fahrradklima-Test vergleicht. Seit 1998 führt der Verband alle zwei Jahre die Umfrage durch. An der aktuellen für 2024 kann man sich noch bis zum 30. November beteiligen. Der ADFC unterscheidet sechs Ortsgrößenklassen, von unter 20.000 bis über 500.000 Einwohner. Schulnoten werden vergeben, wobei zuletzt nur sehr wenige, kleinere Orte besser als 3 benotet wurden, die große Masse lag zwischen 3,5 und 4,5. Und nur in wenigen Fällen hat sich nach Ansicht der Teilnehmer:innen in den vergangenen zehn Jahren etwas verbessert.

Nirgends aber weicht das Urteil der Radler:innen von der Selbstbewertung des Kommunalverbands agfk so weit ab wie in Stuttgart. Die Landeshauptstadt liegt beim ADFC-Test unter den 14 Städten mit mehr als 500.000 Einwohner:innen auf Platz 11. Note 4,2. "Stuttgart ist gut im Planen", meint Christine Lehmann dazu. Aber: "Es gibt einen Riesen-Gap zwischen Planung und Umsetzung." Dennoch nimmt sie die Verwaltung in Schutz. Durchgängige Radwege anzulegen, geht sehr häufig nur zulasten der Stellplätze. "Wenn aber Parkplätze wegfallen", so Lehmann, "wird es sehr, sehr schwierig."

Der Fortschritt ist eine Schnecke

Die Folge sind schlechte Kompromisse: "Das ist eigentlich kein Superblock", meint Lehmann zum Verkehrsversuch in der Augustenstraße. "Da stehen viel zu viele Fahrzeuge herum." Radwege enden, sobald es eng wird. Dazu kommt, dass der zuständige Bürgermeister Peter Pätzold nicht alleine entscheidet, seine Kollegen aber "nicht immer Feuer und Flamme sind", wie Lehmann sich ausdrückt. Im Zweifelsfall entscheidet der Gemeinderat. Doch auch da gibt es keine sichere Mehrheit für Rad- und Fußverkehr. "Man muss miteinander reden", ist Lehmann überzeugt.

Der Fortschritt ist eine Schnecke. Immerhin hat der Radverkehr stark zugenommen. Es gibt eine Hauptradroute. Unter der Bahnbrücke in Bad Cannstatt werden sich Radler:innen bald nicht mehr den schmalen Gehweg mit den Fußgänger:innen teilen müssen, sondern eine Fahrspur mit den Stadtbussen. Wenn Stuttgart 21 einmal fertig ist und die Bundesstraße 14 tatsächlich zurückgebaut wird, wie eigentlich seit fünf Jahren beschlossen, könnte die Hauptradroute auch hier auf einer eigenen Spur außerhalb des Schlossgartens geführt werden, getrennt vom Fußverkehr.

Wie es gehen könnte, hat das Reallabor GO Karlsruhe 2016 bis 2019 gezeigt. Im Radverkehr ist die Stadt im Südweststaat ohnehin führend. Um aber auch die Belange der Fußgänger zu berücksichtigen, wurde eine interaktive Karte ins Netz gestellt, auf der jede:r Verbesserungsvorschläge eintragen konnte. Eine Fußgängerampel, an der man lange warten muss? Eine unübersichtliche Stelle, die zu Konflikten zwischen Radlern und Fußgänger:innen führt? Manche der Vorschläge wurden tatsächlich umgesetzt. Doch statt das Konzept auf alle Kommunen zu übertragen und zum verbindlichen Modell der Verkehrsplanung zu machen, blieb es am Ende bei schönen Worten. Das Projekt erhielt noch verschiedene Preise. 2019 war es beendet.


Der ADFC-Fahrradklima-Test 2024 läuft noch bis 30. November. Wer mitmachen und die Fahrradfreundlichkeit der eigenen Kommune bewerten will: bitte hier entlang.

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4 Kommentare verfügbar

  • Wes
    vor 2 Wochen
    Antworten
    Daß sich jemand für Radfahrer UND Fußgänger einsetzt, nehme ich ihm nicht ab. Ich hätte als Fußgänger auch gerne anderthalb Meter Abstand. Radfahren auf dem Gehweg gehört komplett verboten und das Verbot robust durchgesetzt. Das dummdreiste Geschwätz von den armen gefährdeten Radfahrern und…
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