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Radweg-Stückwerk

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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Mit der Einrichtung temporärer Radwege auf zwei winzigen Straßenabschnitten möchte die Stadt Stuttgart zeigen: Wir tun was für die Radfahrer! Dabei ist es eher ein Offenbarungseid.

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Pünktlich am Weltfahrradtag, dem 3. Juni, verschickt die Stadt Stuttgart eine Pressemitteilung: "Stadt richtet temporäre Radfahrstreifen – sogenannte Pop-up-Bike-Lanes – ein". Die Meldung kommt knapp einen Monat nach dem entsprechenden Gemeinderatsbeschluss. Rechtzeitig zum Weltfahrradtag zu starten, hat nicht mehr geklappt: Erst fünf Tage danach, am 8. Juni, kann es losgehen. "In der Corona-Krise sind immer mehr Menschen aufs Rad umgestiegen", erklärt Bürgermeister Martin Schairer (CDU). "Gleichzeitig hat der Autoverkehr abgenommen." Die Stadt habe darauf, wie er zu loben weiß, "schnell und unproblematisch reagiert und als erste Stadt in Baden-Württemberg temporäre Radfahrstreifen umgesetzt."

Schnell und unproblematisch heißt in Stuttgart: sechs Wochen. In Berlin hat Felix Weisbrich, der Leiter des Straßen- und Grünflächenamts Friedrichshain-Kreuzberg, temporäre Radwege innerhalb von zwei Tagen eingerichtet. In Stuttgart braucht es dagegen zuerst einen "ämterübergreifenden Abstimmungsprozess". Dabei hat es am Samstag, dem 23. Mai auf der Theodor-Heuss-Straße bereits einen Pop-up-Radweg gegeben, wenn auch nur für vier Stunden: von 11.30 bis 15.30 Uhr, auf Initiative von Greenpeace, des ADFC, der Initiative Radentscheid und der Grünen.

Der Stuttgarter Gemeinderat hatte sich freilich zwei Tage vorher festgelegt. Neben den beiden bereits beschlossenen Abschnitten soll es keine weiteren temporären Radstreifen geben. Ein Antrag der Grünen und der zwei kleineren links-ökologischen Fraktionen fand keine Mehrheit, da sich die SPD nicht durchringen konnte. Dabei wurden just an diesem Tag zwei Radfahrer krankenhausreif gefahren. Eine siebzehnjährige Fußgängerin kam am selben Tag sogar ums Leben, als ein Autofahrer auf einem Bereich, der eindeutig als Sperrstreifen gekennzeichnet ist, einen Bus überholen wollte. Mag sein, dass die Gemeinderäte dies bei der Abstimmung noch nicht gewusst haben. Doch dass Radfahrer in Stuttgart gefährdete Verkehrsteilnehmer sind, ist nicht erst seit gestern bekannt. Erst drei Tage vor der Abstimmung, am 18. Mai, hatte ein Radfahrer auf der Burgstallstraße – Teil der Hauptradroute Nummer eins – schwere Verletzungen erlitten, als ein Autofahrer rückwärts aus der Garage fuhr.

Veronika Kienzle, die Bezirksvorsteherin Mitte und grüne OB-Kandidatin, war bei der Aktion am 23. Mai dabei. Trotz schlechten Wetters. Am Weltfahrradtag schreibt sie auf ihrer neuen Facebook-Seite: "Das Fahrrad wurde aus einer Katastrophe heraus erfunden. Nach dem Ausbruch des Vulkans Tambora 1815. Die geniale, mit Muskelkraft betriebene Maschine ersetzte fortan die Pferde, die nach dem Sommer ohne Ernte keinen Hafer mehr hatten." Sie zieht eine Parallele zu heute: "In der gegenwärtigen Pandemie ist das Fahrrad wieder der Retter in der Not." Kienzle kommt zu dem Schluss: "Das Rad braucht keine Abwrackprämien. Sondern sichere Wege. Endlich auch in Stuttgart. Und gerade jetzt! Etwa Pop-up-Bike-Lanes wie in New York, Berlin und anderen innovativen Metropolen."

Kolumbiens Hauptstadt ist 99 Kilometer weiter

Bogotá hat den Anfang gemacht. Die Hauptstadt Kolumbiens hat auf 100 Kilometern Hauptverkehrsstraßen kurzfristig Radspuren eingerichtet. New York, Paris, London, Madrid, Berlin und viele andere Städte sind dem Beispiel gefolgt, haben kilometerweise neue Radwege angelegt oder ganze Innenstädte für den Autoverkehr gesperrt. In Stuttgart sind es nur zwei Abschnitte mit 700 und 400 Metern. Noch dazu müssen sich die Radler jeweils in einer Richtung die Spur mit dem Linienbus teilen. Eine nicht ganz unproblematische Konstellation.

Wie üblich bei Stuttgarter Radwegen, sind auch die Pop-up-Radwege Stückwerk: Wo die Straßen breit genug und wenig befahren sind, wie die Holzgartenstraße, macht die Stadt Zugeständnisse. Allerdings hört die Bike Lane nach nur 400 Metern auf beiden Seiten wieder auf. Es bleibt dem Radfahrer oder der Radfahrerin überlassen, sich für die Mitbenutzung von Autostraße oder Gehweg zu entscheiden. Auf der Schlossstraße stellt die Stadtbahnlinie ein fast unüberwindliches Hindernis dar. Der Radler muss entweder im Autoverkehr mitschwimmen oder sich über die Fußgängerampel durch Z-förmige Schranken zwängen.

"Es ist ein Experiment, auf einer Hauptverkehrsstraße wie der Theo eine Spur für die Radfahrer freizumachen", sagt Martin Schairer. Wie die Pressemitteilung der Stadt ausführt, ist damit gemeint: "Sollten sich bei steigenden Verkehrsmengen negative Wirkungen insbesondere für die Linienbusse der SSB ergeben, werden die Interimsradfahrstreifen überarbeitet oder müssen rückgängig gemacht werden. Insbesondere im Bereich der Theodor-Heuss-Straße ist abzuwarten, ob die reduzierte Kapazität auskömmlich ist."

Der Fehler ist: In Stuttgart wird Verkehrspolitik immer vom Auto ausgehend gedacht. "Reduzierte Kapazität" meint den Autoverkehr. Solange sich der in Grenzen hält, kann vorübergehend eine Bike Lane eingerichtet werden. Sollte er wieder zunehmen, muss sie wieder weg. So wird nichts aus der Verkehrswende.

Wie wäre es, einmal die Perspektive umzukehren und zu fragen, wie viel Platz das Automobil den Radfahrern und Fußgängern wegnimmt? Die Fraktionsgemeinschaft um SÖS und Linke möchte endlich eine Antwort auf ihre Anfrage vom 10. Januar 2019, wie viel Verkehrsfläche den einzelnen Verkehrsarten prozentual zur Verfügung steht und wie viele Personalstellen und wie viel Geld jeweils dafür eingeplant sind. In Berlin wurde eine solche Erhebung bereits 2014 veröffentlicht. Die Stuttgarter Stadtverwaltung hüllt sich bis heute in Schweigen.


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