Die Radikalität, mit der bis Klasse acht auf jede digitale Unterstützung verzichtet wird, ist umstritten. Aber die Erkenntnis, dass weniger mehr wäre, hat sich längst als Lehrmeinung durchgesetzt. Gerade im Unterricht von Kindern bis zwölf, weil der weit überwiegende Teil sein in diesem Alter als sinnvoll erachtetes 2.0- oder 4.0-Pensum alltäglich schon daheim deutlich überzieht. Auch ein Unterricht in Medienkompetenz ändert daran nichts: Viel zu groß sind der Reiz und das Suchtpotenzial vor allem vom Smartphones, wie langgediente Lehrkräfte nur zu genau wissen.
"Das Gehirn wird so, wie man es benutzt", sagt Gerald Hüther. Der bekannte Hirnforscher ist unverdächtiger als nicht minder anerkannte KollegInnen, weil er weniger polarisiert bei Themen wie Handynutzung. Seine Botschaft ist trotzdem glasklar: "Wir müssen uns deshalb fragen, ob wir die Verantwortung für die Strukturierung des Hirns unserer Kinder weiter allein den Werbestrategien der Hersteller überlassen wollen." Hüther kennt unwiderlegbare Zusammenhänge: Direkt hinter der Stirn liegt eine der wichtigsten Kommandozentralen, der Frontalkortex. Ein Netzwerk, das Menschen befähigt zu Empathie, Planung, Impulssteuerung oder Umgang mit Frust. Der Professor, tätig in Göttingen und Mannheim, verweist darauf, dass "junge Menschen, die einen hohen Medienkonsum haben, und dazu gehört auch die Nutzung von Smartphones, Probleme bekommen, den Frontalkortex aufzubauen". Daraus erkläre sich, "warum diese Kinder Schwierigkeiten haben mit sozialer Kompetenz, Impulskontrolle und Konzentrationsfähigkeit". Und warum Gestik oder Mimik verkümmerten.
Kämpfer gegen "digitale Demenz"
Baden-Württemberg hätte jeden Grund, sich an die Spitze einer Bewegung zu stellen, die auf schulische Behutsamkeit drängt. Das könnte mitbefördert werden von der Erinnerung an die vielen unerfüllten Versprechungen: Vor der Landtagswahl 2001 setzte die Junge Union auf dem Mannheimer CDU-Parteitag die Forderung durch, Schülern und Schülerinnen im Land einen vergleichsweise preiswerten Laptop zur Verfügung zu stellen. Oettinger sicherte eine Umsetzung bis 2006 zu und dass bis dahin "alle ein Arbeitsgerät modernster Technologie in ihrer Schulmappe haben", einen "robusten Schüler-Laptop für nur 800 bis 1.500 Mark". Ministerpräsident Erwin Teufel kassierte das Projekt, "wegen der Kosten in Milliardenhöhe". Zugleich gab er den Hellseher und beteuerte, der Umgang mit Computern werde künftig in den Schulen so wichtig das Erlernen von Lesen, Rechnen und Schreiben.
Schon bei einem der großen Bildungskongresse der CDU/FDP-Landesregierung riet Manfred Spitzer, einer der größten Kämpfer wider die Entwicklung in Richtung "digitale Demenz" und damals Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm, besser in zusätzliche Lehrkräfte zu investieren. Es sei "Quatsch", Geld und Zeit in Computer zu stecken. Viel zu schnell seien sie veraltet, viel zu groß die Gefahr, schon mit zwölf zu verdummen. Kinder seien dann "mit 19 gerade mal noch imstande, den nächsten Bildschirm aus China zu kaufen, weil sie kein Weltwissen mehr haben". Das Argument der Vorbereitung auf die Berufswelt ließ und lässt der Vater von fünf Kindern ebenso wenig gelten: "Das Auto braucht man auch für viele Berufe, und trotzdem lernt man Autofahren nicht in der Schule."
Abhängigkeit von und durch Smartphones oder Tablets hat nicht nur mit dem immerwährenden Wunsch zu tun, zu wissen, was sich tut in der eigenen WhatsApp-Gruppe. Abhängigkeiten sind zudem durch eine galoppierende Verbreitung befördert worden. Nach der Finanzkrise von 2008 war zunächst in den USA und dann anderswo das Geschäft förmlich explodiert. "Wer auf der Suche nach einem lukrativen Job ist, will nicht als abgehängt gelten", stellte das Washingtoner Magazin "The Atlantic" im Rückblick fest. Genau damals habe der Anteil der Amerikaner, die ein Smartphone besaßen, 50 Prozent überstiegen. Und im Gegenzug ging die Zahl jener, die sich fast jeden Tag mit Freunden treffen, um mehr als 40 Prozent zurück. Zugleich übrigens wurde der Like-Button etabliert, der den Hang zum Digitalen zusätzlich befeuerte.
Der medienpädagogische Forschungsverbund Südwest ermittelt in seinen JIM-Studien - "Jugend, Information, (Multi-)Media" - regelmäßig die Lage im Land. Danach besaß 2010 jedes zehnte Kind in Baden-Württemberg zwischen sechs und bis sieben ein eigenes Handy, bei den Acht- und Neunjährigen jedeR Dritte, zwei Drittel bei den Zehn- und Elfjährigen. Und unter "Zwölf- und 13-Jährigen (91 Prozent) ist ein eigenes Handy quasi obligatorisch". Zum Vergleich: Zehn Jahre zuvor hatten acht Prozent aller Zwölf- bis 19-Jährigen ein eigenes Mobiltelefon. Heute sind 97 Prozent mit einem eigenen Smartphone ausgestattet. "Seit 2017 kann man von einer Vollversorgung sprechen", schreiben die AutorInnen. 95 Prozent der Zwölf- und 13-Jährigen haben übrigens mit ihren Geräten Zugriff aufs Internet.
Lehrerverbände wünschen sich restriktiveres Vorgehen
So weit, so überlegenswert. Rund um den Erdball rufen WissenschaftlerInnen auf, Kindern, erst recht Kleinkindern, die Handynutzung zu verbieten. Auf noch einer Station der Amerika-Reise, in Toronto und Ottawa, könnte der Tross aus Baden-Württemberg weitere spannende Einsichten gewinnen. In Kanada versuchen zahlreiche Organisationen, etwa "Active healthy kids", das Bewusstsein für mehr Zurückhaltung zu schärfen. Lehrerverbände wünschen sich klarere und restriktivere Vorgaben.
Manche der vielen forschungsbasierten Gegenargumenten sind uralt, etwa das Wissen um die Gefahren gesteigerter Unduldsamkeit oder gar Aggressivität durch übermäßigen Medienkonsum. Andere klingen wie aus einem Horrorfilm: Am Boston College wurde ermittelt, dass drei Viertel der Neun- und Zehnjährigen an Schlafarmut leiden. Ein Grund dafür ist das blaue Licht, das die zu nahe am Bett aufbewahrten Geräte emittieren und das den Ausstoß des für einen gesunden Schlaf-Wach-Rhythmus notwendigen Melatonin hemmt. Hinzu kommt die oft eingeknickte Körperhaltung, das Smartphone wird nicht einmal beim Essen aus der Hand gelegt, der aktive Wortschatz entwickelt sich mühsam oder das räumliche Empfinden ist nicht mehr möglich.
Die zuträgliche Dosierung ist schon lange untersucht, was aber weder in Elternhäusern noch bei Debatten von Bildungspolitikern hierzulande auf fruchtbaren Boden fällt. Kinder bis zu zwei Jahren sollten gar keinen Zugang zu jeglicher Technologie haben, bis zu fünf Jahren sollte er auf eine Stunde täglich begrenzt werden und bei Kindern zwischen sechs und 18 (!) Jahren auf zwei. Letzteres ist an der Amerikanischen Akademie für Kinderheilkunde schon vor fast zwei Jahrzehnten belegt worden: Die Alterskohorte sei zwar weit gefasst, für alle Perioden aber kennzeichnend die große Bedeutung von selbst erfahrenen Außenreizen, gerade im Umgang mit anderen Menschen und im Erleben unterschiedlichster Situationen.
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Schoko Keks
am 14.09.2018