Mehr als 20 Minuten hatte ich schon in der verspäteten Frühjahrskälte vor diesem fetten Feuerbacher Hochbunker aus dem Zweiten Weltkrieg neben dem Bahnhof gesessen, als der Bus kam. Es war der Tag, als ich beschloss, mich zur Ruhe zu setzen, jedenfalls was meine jahrzehntelange Herumgeherei in der Stadt anging, dieses Straßen- und Ausgräberleben, das mir als Zeitungskolumnist die Stadt lebendiger machte, als sie war.
Mir war nicht langweilig an meinem Tag der Einkehr. Auf einer Bank vor der Bushaltestelle las ich in einem Buch, dass es die Melodie von "O du lieber Augustin" war, die Gustav Mahler zu einem großen Komponisten gemacht hat. Als Kind, so hinterließ es uns Sigmund Freud, hat Gustav das Lied bei einem Leierkastenmann gehört, nachdem es zwischen seinen Eltern wieder zu einer üblen Szene gekommen war. Später sog er den Sound der Straße auf, mischte U- und E-Musik, und in den Konzerthäusern drehten sie durch. Heute passiert so etwas nur noch, wenn in Stuttgart das Opernhaus für 1.000.000.000 Euro renoviert werden muss.
Der Song vom lieben Augustin hat alles vorweggenommen, wovon unsereiner heute träumt, wenn er vor einem Luftschutzbunker auf den Bus wartet:
Jeder Tag war ein Fest,
Und was jetzt? Pest, die Pest!
Nur ein großes Leichenfest
Das ist der Rest ...
O du lieber Augustin, Alles ist hin.
Lange vor Corona, als sich die Ausgeburten des Kapitalismus vollends über die Reste der Menschlichkeit erhoben, wurde dieses Lied geschrieben, und seit damals scheint kaum mehr Zeit vergangen, als mein Bus Verspätung hatte. Als ich eingestiegen war, sah der Bus ein wenig anders aus als in den Wochen zuvor, an denen ich vom Hochbunker nach Neuwirtshaus gefahren war. Na und. Alles ändert sich. Die Bunker, die Busse, die Pest.
Ich weiß, dass die meisten Leute, die ich kenne, noch nie von Neuwirtshaus gehört haben. Aber die haben auch nie von Mahlers Liebe zum lieben Augustin gehört. Im Bus vertiefte ich mich wieder in mein Buch, und bei einem Blick aus dem Fenster sah ich zu meiner Beruhigung: Wir waren auf Kurs. Auf dem Weg nach Neuwirtshaus ragten vor dem Porsche-Museum in Zuffenhausen wie gewohnt die drei Stelen mit je einem Sportwagen vom Typ 911 in die Wolken. Diese Skulptur schlägt den Feuerbacher Luftschutzbunker um Längen: Weltweit gelten die drei toten Rennautos auf Himmelfahrt als Beweis für Stuttgarts beispiellosen Einsatz für den Klimaschutz.
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Joe Bauer
am 10.04.2020