Der Aufstieg rechter Politiker:innen von Nigel Farage über Geert Wilders und Marine Le Pen bis zu Donald Trump wird gern mit dem abwertenden Begriff des Populismus analysiert: als Aufstand des einfachen Volkes gegen vermeintliche Eliten. Das von rechten Demagog:innen verführte Volk ist in dieser Redeweise ein Wiedergänger der amorphen Masse der Massenpsychologie des 19. Jahrhunderts und zugleich ein neues Proletariat, das nun nicht mehr von links, sondern von rechts zur Revolution ansetzt. Die Populismusdiagnose hat so gesehen immer auch einen klassenrhetorischen Grundton des 19. und des 20. Jahrhunderts.
Einer bodenständigen materialistischen Prüfung hält sie aber nicht stand. Trump-Wähler:innen waren bei der Präsidentschaftswahl von 2016 im Schnitt doppelt so reich wie die Wähler:innen von Hillary Clinton. In wirtschaftlich benachteiligten Regionen waren sie die Reichsten unter Armen und selbst also nicht arm; zum versuchten Staatsstreich am 6. Januar 2021 reisten viele im Privatjet nach Washington. Zu den wenigen, die dieser Tatsache in ihren Analysen Rechnung tragen, zählen der US-Politologe Tom Nichols und der britische Wirtschaftsgeograf Ben Anderson. Ihre Diagnosen treffen sich in einem zentralen Punkt: Sie sind sich einig, dass es keinen besseren Indikator dafür gibt, ob eine Gesellschaft für eine Massenbewegung reif sei, als ungestillte Langeweile.
Aufbegehren der Wohlhabenden
"Rechtspopulismus" beschreibt demnach weniger einen Aufstand der verarmenden, enttäuschten Masse gegen eine repressive und ausbeuterische Elite als das Aufbegehren der Wohlhabenden gegen die Langeweile ihrer gesicherten Existenz. Genau das, was Trump für öffentliche Ämter disqualifizieren würde, wenn er ein konventioneller Politiker wäre, seine Transgressionen und Skandale, macht ihn interessant – und wählbar.
Trumps Führungsanspruch gründet in seinem Unterhaltungswert. Seine Gefolgsleute verhalten sich nicht wie Parteigänger:innen, sondern wie Fans. Es entspricht exakt dieser fankulturellen Logik, dass Trump-Anhänger:innen derzeit davon überzeugt sind, dass Trumps größter Gegner im Wahlkampf nicht Joe Biden ist, sondern der Popstar Taylor Swift. Trump selbst behauptet, populärer zu sein als Swift, und verbreitet auf seiner Plattform "Truth Social" ein Meme, das seine Ähnlichkeit mit Elvis beweisen soll. Der neue Populismus ist in erster Linie Pop. Das hat mittlerweile auch Wladimir Putin begriffen. Über den Instagram-Kanal von Sputnik India lässt er eine Anthologie seiner besten Witze verbreiten – als führender Stand-up-Comedian der multipolaren Weltordnung sozusagen.
Soweit das kollektive Aufbegehren der Wohlhabenden gegen die Langeweile etwas mit Statussorgen zu tun hat, geht es um Leute, die schon viel haben und finden, dass ihnen noch mehr zusteht. In keiner anderen Partei legen die Mitglieder so viel Wert auf Doktoren- und Professorinnentitel wie in der AfD; wobei sich bei näherem Hinsehen oft herausstellt, dass diese Titel nicht an forschungsstarke Universitätsprofessuren geknüpft sind. Trump-Wähler:innen sind Wohlhabende, die gegen ihre Langeweile aufbegehren, die AfD ist eine Partei der frustrierten Streber:innen.
Diese Dynamik von Langeweile und Ressentiment gilt es im Blick zu behalten, wenn man verstehen will, in welchem Zusammenhang der Aufstieg einer neuen Rechten im Globalen Norden mit der digitalen Transformation der Lebensverhältnisse steht. Wie jede neue Medientechnologie löste das Internet eine moralische Panik aus: Seine Verbreitung verdanke sich der unregulierten Verbreitung von Pornografie, hieß es unter anderem. Zugleich nährte es die Hoffnung auf mehr Freiheit und Demokratie, ermöglicht durch das Internet als globalen Marktplatz der Ideen mit niedrigen Zugangsschwellen. Das Modell für die neuen Möglichkeiten demokratischer politischer Organisation jenseits von Parteihierarchien und traditionellen Massenmedien lieferten die US-Präsidentschaftskampagnen von Howard Dean 2004 (noch erfolglos) und Barack Obama 2008 (mit bekanntem Ausgang). Spätestens mit dem Wahlkampf von Trump aber schlug die Utopie vom Internet als globalem Forum, in dem der demokratische Demos sich formieren und wirksam werden kann, um in eine autoritäre Dystopie. Diversität und liberale Demokratie wurden zu Feinden erklärt.
Ein Selfie mit hochrotem Kopf
Dabei sind Internetplattformen eigentlich keine neuen Medien. Sie funktionieren wie das Fernsehen: Kostenfreie Inhalte binden ein Publikum, dessen Aufmerksamkeit an Werbekunden verkauft wird. Die Bereitschaft von "Nutzer:innen" ("users"), Aufmerksamkeit und Lebenszeit auf die Wahrnehmung spezifischer "Inhalte" ("contents") zu verwenden, beschreibt der Branchenjargon mit dem Verb "to engage". Politische Bewegungen leben vom Engagement für Ideale und spezifische Ziele, Onlineplattformen leben von "engagement" im Sinne des Verweilens.
Dieses "engagement", so zeigte sich rasch, ist dann am größten, wenn die "users" sich ärgern. Wut, der Affekt, der Langeweile durch die Mobilisierung von Ressentiments lindert, macht Plattformen rentabel. Facebook hatte früher seine Algorithmen bekanntlich so optimiert, dass die Nutzer:innen aller erdenklichen politischen Präferenzen, aber in genauer Abstimmung auf diese, mit möglichst viel Wut erzeugendem Material konfrontiert wurden; verbunden mit dem Angebot, ihrer Wut sofort Luft zu verschaffen. Jeder Post ein verbales Selfie mit hochrotem Kopf. Wenn wir, wie der indische Ökonom und Literaturwissenschaftler Pankaj Mishra schreibt, in einem "Zeitalter des Zorns" leben, beginnt dieses spätestens irgendwann zwischen 2004 (Aufschaltung von Facebook) und 2006 (Lancierung von Twitter). Heute haben X, Tiktok und Co. Facebook bei der Wutbewirtschaftung abgelöst.
Sehr bald wurde dieses Geschäftsmodell auch zum Organisationsprinzip politischer Bewegungen. Die Vorreiterrolle übernahm, wie einst bei der Institutionalisierung des Faschismus, Italien. 2009, als sich die progressiven Kräfte in den USA noch über den internetgestützten Wahlsieg Obamas freuten, entwickelte der Mailänder IT-Unternehmer Gianroberto Casaleggio das Modell einer politischen Sammelbewegung. Diese lief innerhalb weniger Jahre den etablierten Parteien den Rang ab. Casaleggio engagierte den ligurischen Komiker Beppe Grillo als Kopf und Gesicht einer Bewegung namens Cinque Stelle. Diese bestand im Wesentlichen aus einer Website und einer Equipe von Datenanalyst:innen.
Im Zentrum der Website stand der Blog von Beppe Grillo, redaktionell betreut von Casaleggio, in dem der Komiker (oder die für ihn arbeitenden Autor:innen) kurze Aperçus publizierte, die dem Publikum als Aufreger des Tages dienten. Die Reaktionen und Kommentare werteten Casaleggio und seine Mitarbeiter:innen aus und machten sie zu politischen Themen und Anliegen. Der wichtigste Parameter: Wie viele Clicks erzielen die einzelnen Blogposts. Casaleggio zerlegte mithin den Demos in seine Einzelteile und machte die Wut der "users" zum Parteiprogramm. Wenn das "engagement" das Engagement ablöst, werden alle zu Wutbürger:innen. Die Politik bildet nicht mehr ein Engagement für Werte und Ziele ab, sondern ein Aggregat von "engagements" mit "contents".
Lustgewinn statt Wohlfahrt
Der italoschweizerische Politikwissenschaftler und Autor Giuliano da Empoli hat die Umlagerung des Geschäftsmodells der wutgetriebenen Plattformen in die Politik 2019 in "Ingenieure des Chaos" analysiert. Dieses Buch liest sich nicht zuletzt wie eine vorgezogene Replik auf den deutschen Philosophen Jürgen Habermas. Dieser hatte 2022 in einem schmalen Band mit dem Titel "Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik" eine Aktualisierung seiner grundlegenden Studie zur Transformation der bürgerlichen Öffentlichkeit von 1962 vorgelegt. Habermas kommt im Wesentlichen zum Schluss, dass eine demokratische Deliberation, in der sich im Austausch von Gründen das bessere Argument durchsetzt, unter den gegenwärtigen digitalen Medienbedingungen nur noch schwer möglich sei, wenn überhaupt.
"Ingenieure des Chaos" wiederum beginnt mit einer Passage aus Goethes "Italienischer Reise", in der dieser den Karneval in Rom beschreibt. Da Empoli formuliert das so nicht aus und zitiert ihn auch nicht, aber man kann von ihm ausgehend eine Frage formulieren: Hätte der russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin als großer Theoretiker des Karnevalesken, also der temporären lustvollen Suspension aller gesellschaftlichen Hierarchien, über den Zustand der deliberativen Politik im Internet nicht mehr zu sagen als Habermas? Letzterer versucht, sein Modell des herrschaftsfreien Diskurses gegen das "engagement" im Sinne einer fortgesetzten unterhaltungslustigen Wutentladung zu verteidigen.
2 Kommentare verfügbar
Petra Sander
am 06.04.2024Schade und bitte ändern Herr Professor Hediger.
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