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Preiswert Wohnen in der Großstadt

Modell Zürich

Preiswert Wohnen in der Großstadt: Modell Zürich
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Wie eine Stadt, die für Menschen mit wenig Geld unbezahlbar zu werden drohte, ihr Wohnungsproblem löst, zeigt Zürich seit zwanzig Jahren. IBA-Intendant Andreas Hofer würde diese Dynamik gern auf Stuttgart übertragen. Doch hier besteht noch erheblicher Nachholbedarf.

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"Weltweit vermutlich einmalig" sei das, was sich vor zwanzig Jahren in Zürich abgespielt hat, sagt Andreas Hofer. Und der Intendant der IBA'27 – ausgeschrieben: Internationale Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart – hat dabei eine wichtige Rolle gespielt. Viel zu lange hatte Zürich einseitig auf Investoren und Büroimmobilien gesetzt und den Bedarf maßlos überschätzt. Dagegen fehlten bezahlbare Wohnungen. Die Immobilienpreise explodierten. 1992 kam es zum Crash. Reihenweise machten die Unternehmen Pleite.

Wenn niemand mehr in Immobilien investiert, haben Architekten nichts zu tun. Viele verließen die Stadt. Hofer entschied sich anders. "Jetzt musst du mit Vorschlägen kommen", war seine Überlegung. Seit seinem Studium in den 1980er-Jahren befand sich Zürich in Bewegung. Auslöser war 1980 der sogenannte Opernhauskrawall. 60 Millionen Franken wollte die Stadt in die Sanierung ihrer Oper investieren, für ein autonomes Jugendzentrum war dagegen kein Geld da. Nach einem Bob-Marley-Konzert eskalierte die Situation.

Utopie vom besseren Wohnen

Für junge Menschen schien Zürich keinen Platz zu bieten. Es fehlten Räume für kulturelle Aktivitäten ebenso wie bezahlbare Wohnungen. Auf die Hausbesetzerbewegung reagierte die Stadt mit äußerster Härte. Doch die Besetzer gaben nicht nach. Jeden Donnerstag demonstrierten sie. Als sich mit den Kommunalwahlen 1990 die Mehrheitsverhältnisse verschoben, änderte sich auch die Politik.

Eine wichtige Rolle spielte ein kleines Büchlein, 1983 erschienen unter dem Titel: "bolo'bolo". Der Autor, er nannte sich P. M., entwarf eine Utopie von einem anderen Leben, einer anderen Stadt: Wie in besetzten Fabriken leben und arbeiten Menschen in großen Gemeinschaften zusammen und gehen selbst bestimmten Tätigkeiten nach. Diese Hausgemeinschaften, die er bolo nannte, sind die Zellen einer neuen Gesellschaft. Sie nehmen ein Areal oder einen Häuserblock ein, nicht mehr, denn ihre Organisationsform beruht auf basisdemokratischen Entscheidungsprozessen.

Mit P. M. und einem befreundeten Künstler tat sich Hofer zusammen, um, wie er sagt, "beispielhaft an einem Industrieareal durchzuspielen, was man da auch machen könnte." Sie gründeten einen Verein, Kraftwerk1. In einer Veranstaltung und einer Publikation, in limitierter Auflage von 700 Stück, stellten sie ihre Ideen vor. Wer ein Exemplar erwarb, erhielt zugleich einen Optionsschein für eine noch zu gründende Genossenschaft. 350 Optionsscheine gingen ein. 95 Gründer schlossen sich zusammen, als es 1997 ernst wurde.

Die Gelegenheit ergab sich, als sich ausgerechnet Oerlikon-Bührle, ein Mischkonzern für Maschinenbau, Waffen und Immobilien, zur Zusammenarbeit bereit erklärte. Fünf Jahre zuvor war Oerlikon-Bührle Besitzer des Wolgroth-Areals gewesen, des größten Areals in der Geschichte der Schweizer Hausbesetzerbewegung. Nun bot der Konzern der Genossenschaft ein Grundstück im Gewerbegebiet an der Hardturmstraße an – unter der Voraussetzung, dass Pläne und Finanzierung innerhalb eines halben Jahres vorlägen. Dann verkaufte Oerlikon-Bührle seine Waffensparte an Rheinmetall, und aus der Immobiliensparte wurde der Bauherr Allreal. 1999 war Baubeginn, 2001 waren die Gebäude fertiggestellt.

50 Millionen Schweizer Franken hat das Projekt Hardturm gekostet. Das war eigentlich nicht zu schaffen, denn die Genossen hatten kein eigenes Geld und keine Sicherheiten. Doch eine große bestehende Genossenschaft half. Mehrere Stiftungen beteiligten sich. So gelang das Mirakel: 100 Wohnungen, zwanzig Prozent Gewerbeflächen, im Zentrum, lärmgeschützt hinter einem fünfgeschossigen Bürobau, ein mächtiger neunstöckiger Riegel mit Dachterrasse und einer dunklen Ziegelfassade.

WGs mit 273 Quadratmetern

Von Anfang an voll vermietet, war das Projekt Hardturm aber nicht nur – bei schwieriger Ausgangslage – ein voller Erfolg. Vielmehr hat die Genossenschaft mit ihren Ideen eine Lawine neuer Entwicklungen angestoßen, die Zürich von Grund auf verändert und weit über die Stadt hinaus viel Beachtung gefunden haben. Die Hardturm-Bauten waren die ersten Niedrigenergiehäuser der Schweiz. Eine gelungene Mischung von Wohnen und Arbeiten, vom Restaurant bis zum Architekturbüro macht das Areal zu einem attraktiven Quartier. Das wäre noch nicht so ungewöhnlich. Aber Wohnungen für Wohngemeinschaften mit bis zu dreizehneinhalb Zimmern und 273 Quadratmetern: Das war damals einzigartig.

Inzwischen gibt es solche Typologien auch anderswo, in Berlin am Spreefeld etwa. In sogenannten Clusterwohnungen haben Paare, Familien und Einzelpersonen ihren individuellen Schlafbereich, während alle zusammen kochen und große Gemeinschaftsräume besitzen. Die Genossenschaft Kraftwerk1 hat zwei weitere Projekte mit 150 Wohnungen verwirklicht, zwei weitere neu gegründete Genossenschaften haben drei Siedlungen mit mehr als 500 Wohnungen gebaut. Allesamt in schwieriger Lage: Das Projekt Kalkbreite etwa befindet sich über einem weiterhin in Betrieb befindlichen Straßenbahndepot, Zwicky Süd, so benannt nach einer ehemaligen Spinnerei, eingeklemmt zwischen Autobahn und Bahnlinie.

Und das ist noch längst nicht alles. Zürich ist eine Stadt der Genossenschaften, gegründet zumeist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie besitzen ungefähr 40.000 Wohnungen – der Anteil ist doppelt so hoch wie in Stuttgart – und die Mieten liegen um zwanzig bis dreißig Prozent unter dem Schnitt. Nur war der Wohnungsbau seit den 1970er-Jahren fast zum Erliegen gekommen. Seit dem Hardturm-Bau sind über 100 Genossenschaftssiedlungen neu gebaut oder erweitert worden – mit mehr als 10.000 Wohnungen. Dazu kommen noch gut 1.500 vonseiten der Stadt und fast ebenso viele von städtischen Stiftungen für Wohnen im Alter, für preisgünstiges Wohnen, Studierende und kinderreiche Familien.

Unglaublich: Mieten sinken

Hofer würde im Zuge der IBA gern etwas von dieser Dynamik auf Stuttgart übertragen. Und kein Intendant könnte dafür geeigneter sein als er. Aber dafür braucht es die Stadt. Und die hat noch nicht begriffen, worauf es ankommt. Zürich betreibt seit fünfzig Jahren eine aktive Bodenvorratspolitik. Städtische Grundstücke werden nicht verkauft, sondern nur in Erbpacht vergeben – und zwar nur an gemeinnützige Genossenschaften. Das bedeutet, diese dürfen nur die Kostenmiete verlangen. Dass die Stadt Stuttgart ihrer eigenen Wohnungsgesellschaft SWSG eine Kapitalverzinsung von 4 Prozent zugesteht, findet Hofer absurd. Während Mieter am Hallschlag in Stuttgart, auch wenn sie kein Auto haben, für einen Tiefgaragenplatz zahlen, unterschreiben sie in Zürich, dass sie kein Auto besitzen und auch keines erwerben wollen.

Dass die Mieten an den Mietspiegel, also an Mieterhöhungen auf dem freien Markt angepasst werden, kommt in Zürich nicht vor, ebenso wenig, dass Sozialwohnungen nach 15 Jahren aus der Mietpreisbindung fallen. Wenn die Kredite nach und nach abgezahlt sind, sinken sogar die Mieten – und das bei allen Wohnungen von gemeinnützigen Trägern. Die Genossenschaften, so Hofer, stehen dabei eher für den unteren Mittelstand. Ihre Mitglieder müssen eigenes Geld mitbringen. Aber auch für Menschen ohne Vermögen ist in Zürich gesorgt.

Denn die Stadt verfährt auch bei ihrer eigenen Wohnungsgesellschaft und ihren Stiftungen anders als Stuttgart. Während hier nach dem Stuttgarter Innenentwicklungsmodell (SIM) auf städtischen Grundstücken 50 Prozent geförderte Wohnungen, aber nicht unbedingt nur Sozialwohnungen entstehen sollen, baut Zürich ausschließlich preisgünstige Wohnungen selbst und vergibt Grundstücke zu vergünstigten Konditionen an Genossenschaften, die dies ebenfalls tun. Dazu kommen wegweisende Beschlüsse wie 1998, innerhalb von zehn Jahren 10.000 Wohnungen bauen zu wollen, oder 2011 nach einem Volksentscheid, den Anteil gemeinnütziger Wohnungen am Gesamtbestand von einem Viertel auf ein Drittel zu erhöhen.

Ausstellung zeigt an 50 Beispielen, wie's geht

Dass genossenschaftliches und preisgünstiges Bauen in schwierigen Situationen keineswegs zu billigen 08/15-Lösungen führen muss, zeigt derzeit eine Ausstellung auf dem EnBW-Gelände am Stöckach. Vorgestellt werden rund fünfzig seit 2000 in Zürich entstandene Wohnsiedlungen – der Ausstellungsraum ist einer Acht-Zimmer-Wohnung nachempfunden. Die Ausstellung kommt aus Paris, wo sie zuerst in der Cité de l'architecture zu sehen war. Dominique Boudet, einer der Kuratoren, war früher Redakteur der führenden französischen Wirtschaftszeitung. Seine Leidenschaft gilt der Architektur. Und Zürich, "Versuchslabor der postindustriellen Gesellschaft", wie Boudet sagt, hat es ihm besonders angetan.

Polygonale Formen, die anthroposophische Architekten in Begeisterung versetzen würden; grüne Innenhöfe, vor Lärm geschützt; Wohnungen, die über zwei Etagen reichen: Keine Siedlung gleicht der anderen. Und das lässt sich auf zwei Faktoren zurückführen: Zum einen reagiert die Architektur oftmals auf schwierige Ausgangsbedingungen. Denn auch in Zürich sind die verfügbaren Flächen begrenzt, und gerade dort, wo sich dies bisher niemand vorstellen konnte, sind verblüffende Lösungen entstanden. Zum anderen gibt es, wie Boudet hervorhebt, ein kluges Wettbewerbssystem. Zehn bis zwölf Büros werden eingeladen, eine fachkundige Jury hilft den Genossenschaften bei der Entscheidung.

Eine der größten Siedlungen mit 374 Wohnungen steht seit 2015 auf dem Hunziker Areal. Gebaut hat sie die Genossenschaft "mehr als wohnen", an der Hofer erneut beteiligt war. Der Name ist Programm. Dass sich nur in einer gewissen Größe kostengünstig bauen lässt, ist Hofers Credo. Dem kommt unter den Stuttgarter Projekten, die ergänzend im EnBW-Areal vorgestellt werden, der Neue Norden am nächsten – Kontext hat berichtet. Das IBA-Projekt befindet sich noch auf der Suche nach einem erschwinglichen Grundstück.


Die Ausstellung "Gemeinsam wohnen! – Häuser und Quartiere für eine Gesellschaft im Wandel" im EnBW-Areal am Stuttgarter Stöckach, Hackstraße 31, läuft bis 17. September und ist mittwochs bis samstags von 14 bis 19 Uhr sowie sonntags von 11 bis 17 Uhr geöffnet.


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4 Kommentare verfügbar

  • Katja Bürmann
    am 17.08.2021
    Antworten
    Danke für den Artikel.
    2 Punkte sind mir wichtig.
    Tatsächlich gibt es eine Wohnungsgemeinnützigkeit in Deutschland aktuell nicht mehr. Sie wurde 1990 abgeschafft. Mir ihr war auch das Prinzip der Kostenmiete verbunden. Also, dass die Miete "nur" die tatsächlichen Kosten decken darf. Das können…
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